Читать книгу Die Fliege im Finanzamt - Volker Lüdecke - Страница 9
7.
ОглавлениеReuter hatte die Blicke in seinem Rücken intuitiv gefühlt und sah mit Entsetzen bei einer blitzschnellen Drehung seines Kopfes, wer ihn in seinem Versteck entdeckt hatte.
Augenblicklich tauchte er ab.
Als er auf der gegenüberliegenden Seite des Strauchwerks wieder hervor kroch, schimpfte er mit sich selbst.
„Ausgerechnet von Malte gesehen zu werden! So was von peinlich, Mist!“
Dann besah er sich den ganzen Schaden.
Durch sein blitzschnelles Ducken unter das Gezweig des Gesträuchs war er mit einer Parkatasche an einem trockenen Ast hängen geblieben, was zur Folge hatte, dass er nun nicht nur von der Erde des Strauchbeets verschmierte Hosen trug, sondern vorn auch noch ein grüner Stofffetzen an seinem Leibgewand herunter hing. So als wäre er gerade noch in letzter Sekunde einem Ladendetektiv oder Fahrkartenkontrolleur entwischt.
Kein Vertrauen erweckender Eindruck, den er in diesem Aufzug seinen Mitmenschen anbot, zumal er seine Kamera schnell in einer Jutetasche verborgen hatte, die sich nun ausbeulte, als würde er Pfandflaschen sammeln.
„Und das alles für ein paar Euros.“
Die ältere Frau, die er für eine bekannte Berliner Schauspielerin bei der Grabpflege gehalten hatte, starrte ihn entsetzt an, als er so plötzlich aus dem Gebüsch vor ihr aufgetaucht war. Das störte ihn nicht, aber was ihn tatsächlich wurmte, war ihr Gesicht. Denn aus der Nähe betrachtet handelte es sich nicht um die aus Film und Fernsehen bekannte TV Seriendarstellerin, sondern um eine x-beliebige Angehörige irgendeines nicht prominenten Toten. Vielleicht müsste er mal zum Augenarzt.
„Einen schönen Lebensabend noch!“
Die Friedhofsbesucherin starrte ihm mit offenem Mund hinterher, denn sie wusste zwar nicht wodurch, aber war sich sicher, dieser allzu freundliche Mann hatte sie auf irgendeine unsittliche Weise belästigt.
Reuter entschwand in einen Winkel der Friedhofsmauer und stand vor den Gräbern von Bertolt Brecht, 1898 bis 1956, und gleich daneben, seine Ehefrau Helene Weigel-Brecht, 1900 bis 1971.
Er war sich nicht sicher, ob sie ihm als beruflich Selbständigen zu Lebzeiten Zuflucht gewährt hätten, zumal Reuters Vorliebe, die Mächtigen des Kulturbetriebs zu verspotten, sich auch damals bestimmt bis zu ihnen herumgesprochen hätte.
Immerhin konnten sie sich nicht mehr dagegen wehren, wenn er ihren Anhängern auflauerte, um sie für die Boulevardpresse abzulichten.
Auf einem Prominentenfriedhof finden sich ja hin und wieder auch lebende Prominente ein, das garantierten mit Sicherheit die Toten.
Die Brechts waren besonders bei Besuchern aus Frankreich sehr beliebt, vielleicht weil sie von den anderen Dramatikern, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, den Brasch, Bronnen, Fless, Müller, Rehfisch und Tabori, zuvor noch nie etwas gehört hatten.
Mit aussagekräftigen Schnappschüssen von bekannten Schauspielern oder anderen Personen des öffentlichen Lebens ließen sich bei der Boulevardpresse und bei Mode und Klatschmagazinen gelegentlich ein paar Euros verdienen.
Der berühmte Busenblitzer, der sich wie irre durch sämtliche Grapsch- und Tatschmedien von Print bis Internet verbreitete, war mittlerweile Reuters Zweitjob geworden. Obwohl an jedem dritten Zeitungskiosk die totale Nacktheit jeden Passanten ansprang, zahlten diese Medien für jeden prominent verrutschten Büstenhalter.
Das waren schon groteske Erscheinungen der Gegenwart, solche mit Sicherheit fingierten Meldungen über Pseudoskandale mit dem Zweck, verwaiste Stars und Sternchen mal wieder ins Gespräch zu bringen. Und sei es durch den Griff in die unterste Schublade.
Reuter nahm lauernd in der Nähe auf einer Bank Platz, obwohl sie noch etwas feucht vom nächtlichen Regen war. Aus der Ferne drang beruhigend das Geräusch des kleinen Erdbaggers, so dass er sicher sein konnte, von Hering nicht wieder entdeckt zu werden.
„Vielleicht kommt ja mal wieder eine Isabell Huppert vorbei.“
Bei den Nickelbrillen, wie er die Anhänger Brechts getauft hatte, kamen eher selten Frauen mit lukrativem Ausschnitt vorbei, um sich tief über die alte Grabstätte zu beugen. Eher solche, die züchtig von einer Diktatur träumten, die sie ihren Zeitgenossen immer noch als große Befreiung verkaufen wollten.
Reuter pflegte dazu seine eigene Meinung zu haben, seit er von einer früheren Freundin, deren Mutter als Selbstständige in der DDR einen Eisladen betrieben hatte, von der daraus resultierenden Maßnahme des Regimes erfahren hatte. Der Tochter der selbstständigen Eisverkäuferin wurde ein S in ihre Schulakte gestempelt. Das S stand für die berufliche Selbstständigkeit der Mutter, wodurch ihrer Tochter der Schulabschluss mit Abitur verweigert wurde. Studieren verboten, weil die Mutter einen Eisladen hatte.
Eigeninitiative und Selbstbestimmung waren den sozialistischen Machthabern genauso ein Dorn im Auge gewesen, wie heutzutage den Finanzbeamten der für den selbstständigen Schriftsteller Reuter zuständigen Behörde. Das bewies der zu Hause bei ihm liegende, seine Existenz bedrohende Steuerbescheid, den er wie aus heiterem Himmel im Spätsommer des vergangenen Jahres erhalten hatte.
Seitdem musste er wie verrückt hinter dem Geld her rennen, um die absurden Forderungen dieser feindlichen Institution ratenweise abzubezahlen.
Vielleicht saßen ja die Nachkommen derselben ideologischen Gegner von Individualismus und Selbstentfaltung nun an den Schaltstellen seiner Steuerbehörde?
Mehrere tausend Euro, zahlbar innerhalb eines Monats!
Solch eine Forderung war für einen freischaffenden Künstler ein Brett, das sich nicht mal so eben im Vorbeigehen durchbohren ließ.
Dazu noch die Vorsteuer fürs laufende Jahr, erhöhte Krankenkassenbeiträge, Mieterhöhung um fünfzehn Prozent. Mit diesen Aderlässen waren seine Tantiemen aus dem erfolgreichen Band „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“ in kürzester Zeit pulverisiert.
Letzten Herbst war Reuter nichts Besseres mehr eingefallen, als sich bei Bingo, dem Dealer aus dem ersten Stock, einen fünfstelligen Betrag zu leihen. Der hantierte ständig mit großen Beträgen, schrieb aber alles genau auf. Was seinen Gang durchs Treppenhaus täglich unsicherer machte, denn er hatte Bingo versprochen, den Betrag bis Ende März mit Zinsen zurückzuzahlen.
Im Mai war deshalb der Druck auf Reuter, in kürzester Zeit erneut einen Bestseller zu schreiben, schier unerträglich geworden.
Jedes Wort, jeden hingeschriebenen Satz, hatte er zehnmal auf Qualität geprüft, was seinen neuen Krimi zwar zu einer höchst kunstvollen, verschnörkelten Kriminalliteratur hatte werden lassen, aber der einfache Leser, der die Masse repräsentierte, wollte bloß Action und Spannung.
„Künstlerische Qualität? Kaum von Interesse!“
Der durchschnittliche Bücherkonsument wollte nicht Reuters kunstvolle Wortreihen bewundern, sondern benötigte zwischen seinem Zuhause und seinem Arbeitsplatz morgens und abends in U- und S-Bahn eine spannende Lektüre, die seinen Geist in eine andere Welt katapultierte, während sein Körper auf Schienen von A nach B transportiert wurde.
Reuter stoppte seinen nihilistischen Gedankenfluss, der aus den Ansichten eines befreundeten Kollegen resultierte, der sein Manuskript in dieser Weise kritisiert hatte, als ein sich auf Englisch unterhaltendes Pärchen in Lodenmänteln an seiner feuchten Bank vorüber flanierte.
Aufmerksam ihre Gesichter beobachtend, forschte er in seinem Gedächtnis nach einer Übereinstimmung mit Prominenten, deren Gesichter er wie in einem Casting Katalog abgespeichert hatte.
„Kein Treffer.“
Die beiden sahen in ihren teuren Gewändern eher wie bildungsbürgerliche Theaterbesucher aus, wie man sie gewöhnlich in den Abendvorstellungen des Berliner Ensembles oder des Deutschen Theaters antreffen konnte, also Zahnärzte, Rechtsanwälte und Architekten.
Die beiden blieben vor den Grabstätten von Brecht und Weigel stehen und er hörte ihre dabei lauter werdenden Stimmen so etwas wie „Look, they are famous!“ von sich geben, was ihn in diesem Moment etwas neidisch auf die Toten machte, denn seit Monaten hatte Reuter nichts mehr von seinem Verlag gehört.
Seit dem überraschenden Erfolg seines Krimis „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“ war sein zuvor wenig bekannter Kleinverleger von Heute auf Morgen bekannt geworden und hatte die Gunst der Stunde genutzt, um seinen Verlag großherzig zu expandieren.
Anstelle von bislang vier Neuerscheinungen pro Jahr waren es in diesem Jahr schon sechzehn neue Titel.
Die Autoren liefen ihm nach, er war mit einem Schlag eine begehrte Persönlichkeit der Berliner Schriftstellerszene und es wurde sogar das Gerücht verbreitet, dass eine Lyrikerin auf dem Treppenabsatz vor seiner Privatwohnung übernachtet hätte, um seine Aufmerksamkeit zu erringen. Dabei hatte er noch niemals zuvor einen Lyrikband in sein Verlagsprogramm aufgenommen, was dem angehenden literarischen Frolleinwunder wohl entgangen war.
Aber wer wusste schon zu sagen, was an solchen Gerüchten dran war? Es kursierten ja ständig irgendwelche Gemeinheiten in Schriftstellerkreisen, weil diejenigen, die sich als Moritatenbarden des „Genres Tratsch“ hervortaten, ja für den Bruchteil von Sekunden selbst im Scheinwerferlicht standen. Und das hatten einige dringend nötig.
Die beiden Briten waren aus ihrer Verzückung, vor den Gräbern bekannter Persönlichkeiten zu stehen, inzwischen wieder herausgeglitten und spazierten nun gemächlichen Schrittes den Friedhofsweg weiter entlang. Andere Besucher waren nicht in Sicht, weshalb Reuter sich aufmachte, den Dorotheenstädtischen Friedhof unverrichteter Dinge wieder zu verlassen.
Am Nachmittag hatte er vor, seinem Verleger in dessen Stammcafé aufzulauern, denn er wollte endlich erfahren, wie der zu seinem Erfolgsautor stand.
Siggies billige Ausreden, die Verzögerung des Erscheinungstermins von „Noch mehr Blut unter den Dielen von Neukölln“ damit zu rechtfertigen, dass seine neuen Autoren und Autorinnen anfangs intensiv betreut werden müssten, wollte Reuter nicht länger gelten lassen. Schließlich hatte er diesen neuen „Siegfried Unseld“ ja erst in diese komfortable Lage gebracht.
Ohne „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“ wäre der schließlich lediglich einer von zahlreichen Berliner Kleinverlegern, deren Büchergeschäfte ständig am dünnen Faden über dem Abgrund der Insolvenz baumelten.
Reuters Manuskript lag sicherlich noch als erstes im großen Stapel der noch nicht gelesenen Romanmanuskripte, von der Schreibtischplatte dieses Siegfried Nöckel aus betrachtet.
Siegried Nöckel, der neue Stern am Verlegerhimmel. Der nun täglich in seinem Stammcafé, dem „Wintergarten“ im Literaturhaus in der Fasanenstraße vor einer Schar von Germanistinnen Hof hielt.