Читать книгу Die Fliege im Finanzamt - Volker Lüdecke - Страница 6
4.
ОглавлениеUm die Mittagszeit strömten viele in Berlin-Mitte tätige Büroangestellte in die kleinen Schnellrestaurants und Imbissstuben der Torstraße, wo auf den Gehsteigen aufgestellte Tische und Stühle ein sonniges Plätzchen zum Essen und Plaudern anboten.
Nur wenige suchten sich für ihre Mahlzeit einen ruhigen Ort, um auf einer Parkbank ihre morgens mitgebrachten, belegten Brote zu verspeisen.
Reuter verachtete diese Leute, die sich nicht entblödeten, einen Friedhof aufzusuchen, um dort auf einer Parkbank vor den Grabsteinen Wurst- und Käsestullen zu verdrücken.
Den vielen Spatzen und Tauben gefielen die Krümelmonster, wie Reuter sie scherzhaft getauft hatte, dagegen sehr. Sie scharrten sich um die wenigen Friedhofsbänke und stritten laut zwitschernd um die herabfallenden Krümel.
Reuter ahnte nicht, dass etwa zur gleichen Zeit im Finanzamt Friedrichshain Kreuzberg seine Steuerakte von einer angehenden Lyrikerin bearbeitet wurde, deren Gemütszustand sich gefährlich im roten Bereich befand.
Er hatte den ganzen Morgen über nachdenklich an seinem neuen Fall gearbeitet, also am Folgeband, und die überraschende Wendung, die seinen Kommissar und mit ihm seine Leserschaft in großes Erstaunen versetzen sollte, meinte er nun gefunden zu haben.
Mit Eigenlob sparte Reuter nicht, ein genialer Einfall für einen Kriminalroman, so seine Überzeugung.
In einem Neuköllner Hinterhof schreit nachts eine Frau um Hilfe und ihr Nachbar aus dem dritten Stock, der ihren Vergewaltiger mit einem gezielten Blumentopfwurf niederstreckt, muss anschließend vor dem tobenden Mob des Familienclans des Getroffenen flüchten. Am nächsten Morgen entdeckt er sein Foto in der Bildzeitung, mit der Überschrift: wegen Mordes gesucht.
Reuter überlegte logischerweise, ob sich eine Lovestory zwischen dem Blumentopfwerfer und der geretteten Nachbarin anböte? Der Nachbar war wahrscheinlich schon lange scharf auf sie, wodurch seine Rettungstat in neuem Licht erschiene: mehr als Eifersuchtsdrama. Denn vielleicht waren die Hilferufe der Frau ja nur Teil ihres sonderbaren Liebesspiels?
Reuter schwankte innerlich hin und her, ob er seinen Lesern die Trivialität dieser Verkettung von Zufällen zumuten wollte, oder ob er lieber mit einer erneuten Wendung des Falls die gängigen, vor Spannung ächzenden Segel der Crimestory verlassen wollte, um von einer Metaperspektive aus das Genre insgesamt zu ironisieren?
Seine langen Beine ragten wie eine Stolperfalle von der Friedhofsbank auf den Gehweg, als sich ein Mann in Arbeitskleidung, ähnlich wie Straßenarbeiter sie tragen, neben ihm Platz nahm. Er entnahm einer Plastikbox eine mit Wurst und Käse belegte Stulle und begann ungeniert hungrig, daran abzubeißen.
Die Hand des Mannes, die Reuter aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sie in kurzen Abständen seinem Mund das Brot zuführte, hatte verkrustete schwarze Ränder, Hornhaut und Schorf, und unter den Fingernägeln klebte schwarzer Dreck.
„Ganz in der Nähe, in der Humboldt Uni, gibt es eine öffentliche Kantine.“
Der Mann im Arbeitsdress nickte.
„Weeß ick.“
Dann kaute er, Salamischeiben schlingend, weiter.
„Wenn die Toten Appetit kriegen, möchte ich hier nicht anwesend sein.“
„Die nehmen, was sie kriegen können. Würmer, und was sonst noch unter der Erde haust.“
Reuter gefiel das Gespräch, denn sein Banknachbar war sicher keiner der gut gekleideten Versicherungs- oder Immobilienmakler, die sich gelegentlich aus einem der nahen Büros hinter die Friedhofsmauern verirrten. Die wären bestimmt, außer über ihre Prämien und Gewinnmargen zu reden, für keinen außergewöhnlichen Gesprächstoff zu gebrauchen gewesen.
„Hab gerade einen Schädel ausgebaggert.“
Das Schmatzen neben Reuter blieb einen Moment lang unterbrochen, nur das laute Gezeter der Spatzen war noch zu hören.
„Ich hab Sie hier schon öfter gesehen. Angehöriger?“
„Nein, ich genieße die Ungestörtheit an diesem Ort. Hilft mir beim Nachdenken. Und Sie sind also der städtische Totengräber?“
Der Mann nickte fast unmerklich und seine Kaugeräusche waren wieder zu hören. Welch ein ausgefallener Beruf, dachte Reuter, während er sich dessen Anker mit Herz Tattoo auf dem Unterarm näher betrachtete. Er mutmaßte, dass es von einem Zellengenossen gestochen wurde, so wenig kunstvoll, wie es aussah.
„Ein Beruf mit Zukunft. Und Sie?“
„Krimiautor.“
Der Totengräber lachte.
„Kann man davon leben?“
„Mal so, mal nicht. Aber im Moment läuft es gut. „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“ geht wie geschnitten Brot.
Der Totengräber grinste.
„Die Kollegen auf den beiden Neuköllner St. Thomas Kirchhöfen haben immer Konjunktur. Die beneiden mich um meinen ruhigen Job hier in Mitte.“
„Prominente leben länger?“
„Für gewöhnlich.“
Der Totengräber stopfte das Brotpapier in die leere Plastikbox und stand auf.
„Dann noch frohes Schaffen, Herr Kriminalromanautor!“
„Sie mich auch, Herr Totengräber!“
Sie gaben sich beinahe freundschaftlich die Hand und der Totengräber schlenderte gemächlich den geraden Weg entlang, bis er links abbog und zwischen Büschen und Bäumen aus dem Blickfeld Reuters verschwand.
Später beobachtete Reuter seinen neuen Bekannten aus der Ferne, wie der zentimetergenau mit einem kleinen Schaufelbagger eine neue Grabstätte inmitten der Hauptstadt aus dem Berliner Urstromtal aushob.
„Liegt wohl mal wieder ein Prominenter im Sterben.“
Inspiriert von seinen Eindrücken machte sich Reuter auf den Weg zur Arbeit.