Читать книгу Die Fliege im Finanzamt - Volker Lüdecke - Страница 7
5.
ОглавлениеDie Arbeitsstunden der Finanzamtsbeamtin Durm dehnten sich an diesem Nachmittag angesichts ihres emotionalen Ausnahmezustands zu ganzen Epochen unerträglichen Daseins.
Alle dreißig Sekunden schaute sie auf ihre goldene Armbanduhr. Doch die hatte keine Sekundenanzeige, sondern überließ diese allzu vergängliche Zeitbetrachtung lieber der Vorstellungskraft ihrer Besitzerin.
Durm wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Kollege Möllner, der als einziger ihrer drei Kollegen im gemeinsamen Büro mit den vier Schreibtischen noch anwesend war, sich endlich mit seinem gewöhnlich monotonen „Schönen Feierabend“ aus dem Arbeitsraum in die Freiheit verabschiedete. Doch Möllner wälzte Akte um Akte, offenbar wollte er einen neuen, internen Tagesrekord für die Abteilung aufstellen.
„Bei Hübchen alles im Stall?“
Sie nickte ihm mit gesenktem Blick zu und signalisierte ihrem Kollegen mit stumm sich bewegenden Lippen, dass sie gerade eine Addition von Zahlen im Kopf durchführte. Sie glaubte an die heilsame Wirkung des Gehirntrainings, weshalb sie für kleine Summen nicht den bereitstehenden Tischtaschenrechner, sondern ihr Gehirn nutzte. Verständlicherweise war sie in solchen Momenten intensivster Konzentration nicht ansprechbar.
Nach einer Weile notierte sie eine Zahl.
„Hübchen geht´s gut. Steht ja im Wuhletal auf einer saftigen Weide.“
Möllner, in West Berlin aufgewachsen, diagnostizierte mit scharfem analytischen Blick die innere Verfassung seiner Kollegin: total frustriert!
Er wunderte sich etwas, denn vor der Mittagspause schien sie noch bester Laune. „Ich hatte heute das Kartoffelgratin. Grauenhaft!“
„Spaghetti mit Tomatensauce. Schmeckte wie Wasser.“
Das am meisten diskutierte Gesprächsthema im Finanzamt brachte nichts Neues. Eigentlich ist Frau Durm mit ihren langen blonden Haaren und dem ovalen Gesicht doch eine attraktive Frau, dachte Möllner. Nur leider vollkommen ohne Kommunikationspotential und soziale Kompetenz. Da kann es dann halt emotional nur mit dem Gaul harmonieren.
„Immer noch die Akte von diesem Konstantin Reuter?“
Möllner hatte noch nie große Lust verspürt, sich mit den Quittungen und Honorarverträgen von Künstlern zu befassen. Sobald welche bei ihm landeten, leitete er deren Akten gleich an Kollegin Durm weiter. Sie pflanzte ihm dafür im Gegenzug die arbeitenden Rentner und selbstständigen Gemüsehändler auf den Schreibtisch, denn schließlich musste jeder Mitarbeiter im Amt seinen Anteil an den schweren Fällen erledigen.
Das Geschäftsleben von Schriftstellern, Filmemachern, Regisseuren und Schauspielern schien Durm aus irgendeinem Grund zu interessieren.
„Jahrelang hat der Reuter nur Verluste geschrieben.“
Sie schaute Möllner mit einer unbegreiflichen Wut im Gesicht an.
„Jahr für Jahr hat der steuerlich abgesetzt. Und wir haben immer schön brav erstattet.“
Möllners Mundwinkel zuckten zwar, als wollte er etwas entgegnen. Doch bei ihrem wutverzerrten Gesicht schien es nicht ratsam, Partei für diesen Konstantin Reuter zu ergreifen. Obwohl er Möllners Meinung nach ein gutes Beispiel für eine gelungene Selbstständigkeit war. Im Grunde genommen sogar vorbildlich für alle Steuerpflichtigen, für die berufliche Eigeninitiative ein Fremdwort war.
Nach Möllners Auffassung schuf ein erfolgreicher Autor, ähnlich wie ein Bäcker sein Backwerk aus Wasser, Salz und Mehl knetete, allein aus seiner immateriellen Fantasie und seiner Recherche einen Wert, mit dem er neben seiner eigenen Existenz auch noch die Arbeitsplätze von Buchhändlern, Druckereiarbeitern und Onlineverkäufern sicherte.
„Immerhin ein erfolgreicher Autor.“
„Da erkenne ich keine Nachhaltigkeit.“
Sie schloss den Aktendeckel über den eingereichten Papieren und gab den Bescheid in die EDV Anlage ein.
Reuter würde somit in den nächsten Tagen per Post seinen Bescheid vom Finanzamt erhalten, dass er sämtliche steuerlichen Abschreibungen der vergangenen drei Jahre, jede Briefmarke, jeden Stift und die Miete für sein Arbeitszimmer, innerhalb von vier Wochen ans Finanzamt Friedrichshain Kreuzberg zurück zu erstatten hatte. Eine erkleckliche Rechnung kam auf den Schreiberling zu.
„Schönen Feierabend!“
„Schönen Feierabend!“
Als Möllner endlich draußen war, öffnete Helga Durm das Fenster. Weil der Verkehrslärm vom Mehringdamm, einer vielbefahrenen Straße vor dem Gebäude des Finanzamts, nun ohrenbetäubend herein drang, konnte sie sich nun ein kurzes, aber heftiges Schluchzen gestatten.
„Soll er sich um einen regelmäßigen Broterwerb kümmern, dieser blöde Reuter! Damit er mal sieht, wie schwierig es ist, neben täglich acht Stunden Arbeit einen Bestseller zu schreiben. Schluss mit seinem Ausruhen auf Kosten der Allgemeinheit!“
Kaum stand das Fenster ein paar Sekunden lang offen, flog mit hörbarem Brummen eine dicke Fliege herein. Sie landete zuerst auf Möllners Schreibtisch, was Helga Durm nicht wunderte. Doch dann hob sie von dort wieder ab und steuerte ihre Flugbahn direkt auf die Lyrikerin zu.
Sie musste sogar mit dem Gesicht ausweichen, so selbstgefällig lenkte das dreiste Insekt seine Flugbahn.
Durm stand auf und wedelte mit den Armen, um das störende Biest wieder durch das Bürofenster ins Freie zu scheuchen, aber das minderbemittelte Viech verpasste den Ausgang. Kreiste wie betrunken torkelnd, sich keiner Gefahr bewusst, inmitten ihres Büros.
Sie griff sich die Akte Reuter noch einmal vom Stapel und schlug damit nach dem dicken Brummer, aber als sich einzelne Blätter aus dem Blattsammler lösten und auf den Fußboden segelten, räumte sie stattdessen lieber die gebrauchten Kaffeetassen vom Tablett und nutzte die braune Plastikunterlage als gewaltige Klatsche gegen den aufdringlichen Flieger.
Ihr emotionaler Zustand löste sich bald vollkommen in einer fanatischen Hetzjagd auf. Ihre ganze Wut auf die Jury des Lyrikwettbewerbs fokussierte die Finanzbeamtin Helga Durm auf diesen hässlichen Flieger.
„Du wirst vernichtet, Du Einwohner eines stinkenden Misthaufens!“
Sie würde diesen wahrscheinlich männlichen Brummer erlegen, und eines Tages würde sie auch über die Jury triumphieren! Das war sonnenklar, dieser Kampf wollte ausgefochten werden, und zwar sofort!
Beim Verfolgen des Fluginsekts spürte sie ihre Überlegenheit. Ein Kampf um Leben und Tod für das grünlich schimmernde Tier, das die überlegene Intelligenz der Beamtin mit allerlei überraschenden Flugbahnen narrte.
Durms vollschlanke, auf fünfundsechzig Zentimeter und einen Meter verteilte Körpermasse bildete das Katapult, mit dessen Hilfe sie weit ausholend Schlag auf Schlag gegen die deplatzierte Existenz ihres Gegners ausführte.
„Ein eingetragener Verein, diese Literaturgesellschaft. Da darf sich bestimmt jeder mal eben aus dem Lamäng heraus als Lyrikexperte aufspielen.“
Das Tablett traf rückwärtig beim Schwung holen für den beabsichtigten Schlag krachend gegen eine Schreibtischlampe, wobei das Leuchtmittel im Lampenschirm paffend implodierte. Hammerwerfen war im Schulsport Durms Lieblingsdisziplin in der Leichtathletik gewesen.
„Lyrikexperten! Dass ich nicht lache! Die sind nicht ansatzweise legitimiert. Solch eine entscheidende Instanz müsste staatlich geregelt werden.“
Der folgende Schlag mit dem Tablett fegte Möllners Satz farbige Kugelschreiber vom Desktop, doch die fluchtbereite Fliege parierte die sportliche Herausforderung mit sensationellen Reflexen.
„So, jetzt lernst du deutsche Gründlichkeit kennen, du Schmeißmonster!“
Sie schloss das Fenster zum Mehringdamm.
„Dein Zuhause auf dem Scheißhaufen wirst du nie wiedersehen!“
Wie zum Hohn landete der Brummer auf der Fensterscheibe, so als ahnte er mit seinem winzigen Gehirn, dass ein Schlag mit dem Tablett dort nicht in Frage kam.
„Wollen wir mal schauen, was unsere Bildenden Künstler zu bieten haben?“ Manche an der Finanzbehörde verzweifelnden Maler und Grafiker hatten zur Dokumentation ihrer kreativen Arbeiten Pappröhren mit Plakaten eingesandt, die seitdem in einem Spalt zwischen zwei hohen Aktenschränken einstaubten. Was ging es das Finanzamt an, ob die ihre Ateliermieten zahlen konnten?
Durm griff sich solch eine Röhre und zog sie mehrmals wie im Schwertkampf durch die Luft. Dann schlich sie sich mit Schritten wie in Zeitlupe an die Fliege heran.
Die Aussicht über Häuser und Kirchtürme im Fensterrahmen verschwamm, nur den grünlich schimmernden Punkt inmitten ihres Jagdreviers nahm sie in Betracht.
Dann spannte sie Muskeln in ihrem Körper an, von denen sie zuvor nicht einmal geahnt hatte, dass sie überhaupt existierten.
Der Schlag auf die Fliege, die noch kurz abhob, folgte mit ungeheurer Wucht und verletzte beim Streifen einen der Flügel. Sie stürzte zappelnd auf die Fensterbank, wo sie in Schräglage vergeblich wieder zu starten versuchte.
Die Beamtin der Finanzbehörde beobachtete diese verzweifelten Versuche des Insekts, sich doch noch zu retten, mit lyrischer Kontemplation. War dieser Todeskampf nicht Stoff für ein Poem? Was hätte Gottfried Benn an ihrer Stelle getan?
Auf dem Fußboden verstreut entdeckte sie Möllners farbige Softstifte. Das war wie ein Zeichen, dass sie es nicht verschieben sollte, nicht abwarten durfte, bis die Inspiration womöglich erloschen war.
„Die Fliege“.
Die Überschrift war schon mal geschafft. Das war ein Einstieg in den kreativen Prozess, wie sie ihn in den beiden Volkshochschulkursen „Kreatives Schreiben“ im vergangenen Jahr gelernt hatte.
Schreiben war zwar immer ein kreativer Prozess, aber vielen war das so nicht bewusst. Sogar eine Gebrauchsanweisung konnte eine humoristische Note besitzen, und Menschen zum Lachen oder zum Weinen anregen.
Durm zog also ein leeres Blatt aus dem Druckerfach und kritzelte dichtend darauf, mit Möllners lächerlichem Grünstift. Exakt beobachtete sie den Todeskampf der Fliege, und brachte ihn in Zeilen auf Papier.
Von den Exkrementen der Stadt, die dein Zuhause sind
Wolltest Du höher fliegend hinauf, doch verirrtest dich
Du kreative Fliege, nun hilflos zappelnd im Kreis
Helga Durm, Dichterin aus Berlin, starrte auf die soeben zu Papier gebrachte erste Strophe ihres neuen Gedichts „Die Fliege“. Das ist zwar nicht gerade gereimt, aber der freie Vers gefiel ihr auch ganz gut.
Wärst Du bei deinen Exkrementen geblieben
Du Kreatur des Moders und der Verwesung
Dein Leben wäre von sattem Reichtum umgeben
Nach der zweiten Lektüre ihrer Zeilen hatte sich Helga Durm spontan in sich selbst verliebt. Ihr Ärger über die Stümperjury des Brandenburger Literaturvereins e.V. wich langsam einem die Brust befreienden Gefühl des Triumphes.
Welch eine Achterbahnfahrt der Gefühle in ihrem ansonsten so eintönigen Leben!
Ja, da war ja auch alles drin, das ganze Abenteuer ihres Daseins, eine quasi Bennsche Schnittstelle zwischen Dichtung und beruflicher Existenz.
So etwas würde dieser Trivialdichter Konstantin Reuter nie vollbringen, denn er hatte ja immer nur geschrieben, aber nie einen richtigen Beruf ausgeübt. Seine Nebenjobs, zum Beispiel als Kassierer in einem Spätmarkt, zählten nicht als tieferes Eintauchen in eine Materie. Niemals könnte ein ordentlicher Beruf prägend für seine Dichtung sein. Deshalb, und aus diesem nachvollziehbaren Grund, hatte sie ihm pflichtgemäß seine Berechtigungen entzogen.
Vielleicht war er ja die Fliege, eine Reuterfliege, die sich in höhere Sphären verirrte, und sie, Helga Durm, mit diesem klingenden Künstlernamen, hatte ihn in die Wirklichkeit seiner wahren Existenz zurückkatapultiert.
Sollte sie ihr Werk nun vollenden und der immer noch hilflos kreiselnden Fliege den Garaus machen?
Mit glitzernden Augen siehst du dein Schicksal
Drohend über dir schweben
Mit einem wuchtigen Schlag endet dein Leben
Durm setzte ihre Fantasie gleich in die Tat um und erlöste den Brummer von seiner Qual. Weißliches quoll aus dem Inneren des Fliegenkörpers nach außen, eine Masse wie Marzipan. Mit kleinen schwarzen Punkten darin. Marzipan mit Mohn.
Waren das etwa Fliegeneier? Hatte dieses Biest vorgehabt, seine Brut in einem Büro des Finanzamts zu platzieren?
Angeekelt betrachtete die Lyrikerin diese neuerliche Wendung des ereignisreichen Tages.
Deine Nachkommen werden nicht von dir erzählen
Wie du sie auf köstlichem Kot großgezogen
Nichts bleibt von deinem Flug zu den Sternen
Unwillkürlich musste sie wieder an Konstantin Reuter denken. Die Rezension zu seinem Kriminalroman „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“ hatte er großkotzig seinen Steuerunterlagen beigelegt.
„Wolltest wohl Eindruck schinden, du Macker!“
Und nun lag er da, sein Innerstes qualvoll nach außen gekehrt. Gut, dass es mit ihm zu Ende war. Wovon sollte solch ein Brummer schon berichten, was von höherer Bedeutung wäre?
Nichts, außer Niedertracht, Blut und Verderben. Nichts zur Erbauung der Seele, nichts für die geistige Zukunft kommender Generationen.
Ein Unratsdichter war der Reuter gewesen.
Sie drückte die Reste der Fliege in ein Taschentuch, zerknüllte es und ließ es mit spitzen Fingern in einen Abfallkorb fallen.
Dann griff sie ihre elegante weiße Umhängetasche, die mit kleinen Glassteinen verziert war, und verließ das Büro.