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3.

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Helga Durm hatte ihr Mittagessen in der Kantine des Finanzamts eiliger als gewöhnlich verspeist und eilte nun aus dem Speisesaal zum Eingang des Fahrstuhls, denn sie wollte einige Minuten vor den Kollegen zurück im Büro ihrer Abteilung sein.

Eines Tages würde sie entweder eine berühmte Lyrikerin sein, mit einem eigenen Haus jenseits des Speckgürtels der Stadt mit seinen uniformen Neubausiedlungen, oder zumindest in einem eigenen Büro allein ohne Kollegen den Status in der Direktion des Finanzamtes genießen. Mit Mitte dreißig war es noch lange nicht zu spät und auch nicht zu früh für solche Karrierepläne.

Am heutigen Tag hatte sie die Mittagspause mit besonderer Spannung erwartet, denn nach ihrer Teilnahme an einem Lyrikwettbewerb lag seit dem Morgen ein ungeöffnetes Schreiben des Literaturbüros Brandenburg auf ihrem Schreibtisch.

Sie hatte das Kuvert immer wieder angefasst und in der Hand gewogen, aber mit der in ihr immer weiter anwachsenden Spannung dennoch ungeöffnet gelassen.

Sie dachte an ihre gelungenen Verse, die sie zum Literaturwettbewerb eingesendet hatte. I

In den ersten Frühlingstagen, nach einem langen und tristen Berliner Winter, waren ihr die Zeilen wie kleine Eingebungen in den Sinn gekommen.

Wo der Wind die fauligen Blätter des vergangenen Herbstes zu modernden Häufchen angesammelt hatte, an den Pfählen des Weidezauns ihres Pferdes mit dem Namen „Hübchen“, waren ihr die Zeilen ihres Gedichts sozusagen in den Sinn geweht.

„Einsame Distel.

Wehrhaft stehst Du am Wegesrand,

Kein Wanderer hat dich je gebrochen

Du drohtest allen mit blutender Hand

Denn Dornen sind deine Waffen.“

Inbrünstig murmelte sie die erste Strophe ihres Gedichts halblaut vor sich hin, während sie das Kuvert öffnete.

Heraus fiel das Blatt, auf dem sie auf liniertem Papier in Schönschrift ihre Zeilen eingesandt hatte, mehr nicht.

Kein Kommentar, kein Gruß, keine Erläuterungen der Juroren zu ihrer Teilnahme. Nicht einmal Kritik. Einfach nichts.

Die getrocknete Tinte ihrer Handschrift verschwamm zu einer unleserlichen Kladde, als sich ihre mit Tränen füllenden Augen überliefen.

Weniger war nicht nötig, um sie zu verletzen, als dieses EDV automatisch adressbeschriftete Kuvert ohne Briefmarke. Eine durch die Frankiermaschine gejagte Verspottung ihres lyrischen Empfindens und Schaffens!

Kurze Zeit zuvor war sie sogar versucht gewesen, das Kuvert im Beisein ihrer Kollegen zu öffnen. So sehr hatte sie in Gedanken an ihre Dichtkunst gehofft und schon innerlich triumphiert. War sich sicher gewesen, bald als neue literarische Entdeckung zu gelten.

Als sich die Tür zum Büro öffnete und Kollege Möllners Sonnenbank gebräuntes Gesicht im Rahmen seiner schwarz gefärbten Haare in der Tür auftauchte, täuschte sie einen Schnupfen vor und schnäuzte vernehmlich laut in ein Taschentuch, dass sie sich im letzten Moment vor der Entdeckung ihrer Tränen vor Nase und Augen gehalten hatte.

„Stauballergie?“

Sie deutete auf den Umschlag mit dem Absender Konstantin Reuter und nickte mit geschwollenen Augen.

„Die kratzen sich am Sack, waschen sich nach dem WC nicht die Hände, kiffen und huren ihr Leben lang herum, aber wir müssen ihre Syphilis Umschläge trotzdem öffnen. Weißt Du, was der geschrieben hat? „Das Blut unter den Dielen von Neukölln“! Da kannst Du dir besser gleich Gummihandschuhe anziehen.“

Möllner entrüstete sich wohlwollend stellvertretend für seine Kollegin, während Durm bloß zustimmend nickte und sich sodann, wie etwas suchend, in einer Schublade ihres Schreibtisches verkroch. Doch plötzlich fuhr sie wieder daraus hervor und schleuderte einen Aktenbeschwerer gegen die Wand.

„Zum Kotzen!“

Es blieb ein sichtbarer Abdruck an der Wand.

Die Fliege im Finanzamt

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