Читать книгу Lehren der Einweihung - Volker von Schintling-Horny - Страница 10
ОглавлениеGlanz und Elend der deutschen Sprache Ludwig Richter
Der Kunstmaler Adrian Ludwig Richter, zeichnete über 3.000 wunderschöne Holzschnitte. . So wird Ludwig Richter zum liebenswürdigen Gottesmenschen, denn dieser Meister malte nicht nur mit Leib und Freude, sondern auch mit göttlicher Andacht und kümmerte sich sehr um die Deutsche Sprache.
Die deutsche Sprache überragt an Kraft des Ausdrucks fast alle lebenden Sprachen. Aber die Mehrzahl der deutschen Prosabücher bleibt an Schönheit und Lebendigkeit der Darstellung seit drei Jahrhunderten hinter der Prosa anderer Kulturvölker zurück.
Diese beiden Thesen widersprechen einander nicht. Der erste Satz handelt von den Möglichkeiten der deutschen Sprache, der zweite von ihrer Wirklichkeit.
Was sind die Vorzüge unserer Sprache? Beginnen wir mit dem Einfachsten: der deutsche Wortschatz ist größer als der englische und weit größer als der französische. Genaue Zahlenangaben sind freilich nicht möglich, denn wer könnte verbindlich entscheiden, wieviel zusammengesetzte Wörter, Fremd- und Lehnwörter oder Fachausdrücke zu dem Wortschatz eines Volkes gerechnet werden sollen. Um diesem Satz durch einige beliebig gegriffene Beispiele Farbe zu geben: dem Französischen fehlen alle Ausdrücke der Bewegung: gehen, fahren, reiten, fliegen, segeln, steigen, sinken werden sämtlich mit dem einen Wort aller wiedergegeben; es fehlen im Französischen auch stehen, sitzen und liegen. Überhaupt versucht der Franzose, mit den drei Zeitwörtern faire, mettre und prendre einige Dutzend deutscher Begriffe zu ersetzen. Ähnlich verwendet der Engländer to get an Stelle von hundert verschiedenen deutschen Ausdrücken. Der Reichtum des Deutschen beruht zum großen Teil darauf, durch Vor- und Nachsilben und durch Zusammensetzungen neue Wörter zu schaffen. Der Deutsche bildet z. B. zu dem Wort fallen Dutzende von Ableitungen: hinfallen, abfallen, ausfallen, zusammenfallen, verfallen, herunterfallen, niederfallen, einfallen; der Franzose hat für alle nur das eine Wort tomber. Welchen Reichtum an Zeitwörtern, der wichtigsten aller Wortarten, verschaffen wir uns auf diesem Wege! Welche Sprache kann so bequem wie die deutsche alles sagen und versagen, ansagen und aussagen, vorsagen und nachsagen, aufsagen und untersagen? Wer kann so leicht wie wir sich sattessen und kranklachen, gesundbeten und totschwitzen? Mühelos verschmilzt die deutsche Sprache Hauptwort, Zeitwort und Beiwort und bildet mit allen Abschattierungen hoffnungsvoll, hoffnungslos, hoffnungsreich, hoffnungsarm. Für das Wort Liebe nennt das Grimmsehe Wörterbuch mehrere hundert Zusammensetzungen. Der Reichtum an Vor- und Nachsilben erlaubt es der deutschen Sprache noch heute, neue Wörter aus eigenen Wortstämmen zu prägen; das Englische und Französische sind schon lange unfruchtbar und können neue Begriffe nur bezeichnen, indem sie griechische und lateinische Brocken ausleihen. Der Baum der deutschen Sprache steht noch im grünenden, saftigen Wachstum, während bei den anderen die äußersten Äste schon zu verdorren beginnen.
Aber der Reichtum an Wörtern ist nicht der wichtigste Reichtum unserer Sprache. Die entscheidenden Sprachfragen liegen jenseits der Statistik. Mag das Französische oder das Englische keine 50000 Wörter haben: Shakespeare ist mit 20000 ausgekommen, Homer mit 9000 und das Neue Testament mit 5000. Wenn der Franzose auch nicht Ruhmestag zu bilden vermag, so schlägt sein Herz bei le jour de gloire nicht minder hoch. Die wesentlichen Unterschiede liegen tiefer.
Die deutsche Sprache beruht durchgängig auf deutschen Wurzeln, die französische dagegen auf lateinischen, und auch die Engländer haben eine Fülle französischer Wurzeln in ihre Sprache aufgenommen, als 1066 die französisch sprechenden Normannen das Land eroberten und die Angelsachsen unterwarfen. Diese Mischung germanischer und romanischer Wurzeln hat das Englische auch besonders anfällig gemacht für den Einfall immer neuer Fremdwörter. Nun haben Wörter aus fremder Wurzel keinen bildlichen Gehalt für den, der sie heute spricht. Sie sind ihm ein leerer Schall, dessen Laut ihn an nichts Bekanntes erinnert. Der Deutsche hört bei Grundsatz den Anklang an Grund und Boden, der Engländer und Franzose spürt in principe oder principle nichts von dem lateinischen Wortprimus, mit dem sie verwandt sind. Aber man darf auch dieses Argument nicht überanstrengen. Gewiß, in Begriff und Erfahrung könnte der Deutsche noch die anschaulichen Wurzeln begreifen und erfahren heraushören, aber tut er dies wirklich? Hat der Engländer wirklich bei dem normannischen sorrow eine so ganz andere Empfindung als bei dem angelsächsischen grief, bei remember eine andere als beiremind? Wir wollen uns damit begnügen, uns der Erdhaftigkeit der deutschen Sprache zu freuen.
Ein bedeutsamer Vorzug des Deutschen ist die Freiheit der Wortstellung. Die Ausdrucksfähigkeit einer Sprache hängt nicht nur von dem Wortschatz ab, sondern nicht minder von der Art der Wortfolge. Wir können in dem Satz "Vater hat mir gestern den Apfel geschenkt" die Wörter auf fünf verschiedene Arten stellen und so mit denselben Wörtern fünf verschiedene Gedanken ausdrücken. Ohne Umschreibung können die meisten lebenden Sprachen das nicht wiedergeben. Das Englische und das Französische können sich diese Freiheit der Wortstellung nicht gestatten, weil sie den Werfall und den Wenfall nicht unterscheiden; le pere aime le fils kann man nicht einfach umstellen, denn wenn man den Sohn voranstellt, so ist er es, der liebt. Dieser Freiheit der Wortstellung verdanken wir eine erstaunliche Schattierung des Ausdrucks.
Die deutsche Sprache benötigt die starren Regeln der französischen Wortstellung auch deshalb nicht, weil sie das Verständnis durch andere Mittel erleichtert: durch die Eigenart ihrer Betonung. Der Ton liegt im Deutschen stets auf der entscheidenden Silbe des Wortes, der Stammsilbe; die Logik geht allen Klangerwägungen voraus. Kein Grieche und kein Lateiner haben mehrsilbige Wörter auf der Stammsilbe betont. Der Franzose vollends betont stets die oft unwichtige Endsilbe, die in Zahlreichen Wörtern gleich lautet, und verleiht dadurch seiner Prosa etwas "Specht artig Trommelndes"
und seiner Poesie eine Fülle von Reimen, aber von banalen Reimen, gleich als wenn wir auf -breiten, -keilen und -ungen reimen würden. Dies also sind die handgreiflichen Vorzüge der deutschen Sprache:
Wortreichtum, Wurzelhaftigkeit, freie Wortstellung, Logik der Betonung.
Von den Möglichkeiten der deutschen Sprache haben wir gesprochen, von dem Instrument, das sie den Deutschen zur Verfügung stellt. Aber welche Melodien hat man auf diesem Instrument gespielt? Wir besitzen eine lange Kette von Werken in Poesie und Prosa, von denen der volle Glanz der deutschen Sprache ausstrahlt und die uns Reiche öffnen, zu denen andere Sprachen keinen Zutritt haben. Und wir haben eine Fülle ausdrucksfähiger Mundarten, kräftige und anmutige, witzige und schalkhafte Kraftquellen lebendigen Lebens, deren Wasser wir viel ungehemmter in das leicht schal werdende Becken der Schriftsprache strömen lassen sollten. Aber was dazwischen liegt - die Prosa der Wissenschaft, die Sprache der mittleren Unterhaltungsliteratur, der Briefstil der Kaufleute, das Umgangsdeutsch der meisten Städter -, das alles ist seit 300 Jahren ein Gegenstand unaufhörlicher Sorge der besten Deutschen gewesen.
Schon um 1700 schreibt Leibniz: "Wer nicht durch unzeitigen Eifer verblendet, Muß gestehen, was bei uns für wohl geschrieben geachtet wird, sei insgemein kaum dem zu vergleichen, so in Frankreich auf der untersten Staffel stehet. Hingegen wer also Französisch schreiben wollte, wie bei uns oft deutsch geschrieben wird, der würde auch von Frauenzimmern getadelt und bei den Versammlungen verlacht werden." Und um 1880 urteilt Nietzsche: "Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so schlechte Prosa als das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen, es gibt keine deutsche Prosa, so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir es verdienen."
Die Ironie der deutschen Geistesgeschichte hat es gewollt, daß derselbe Leibniz, der so kraftvoll für die deutsche Sprache eintrat, seine eigenen Bücher neun Zehntel lateinisch oder Französisch schrieb, auch jene Schrift, in welcher er das Deutsche als die wahre Sprache der Philosophie bezeichnet. Es ist, als ob ein Fluch auf der deutschen Prosa ruhe. Selbst Männer, deren Namen wir nur mit tiefster Ehrfurcht nennen, Namen, auf denen ein guter Teil deutschen Weltruhms ruht, haben oft ein qualvolles, ungenießbares Deutsch geschrieben. Kant und Hegel, Klopstock und Herder, Fichte und Schelling, Wilhelm und Alexander von Humboldt und Leopold von Ranke sind nicht Meister, sondern, Büßer der deutschen Sprache' gewesen.
Von ihnen allen gilt das Wort: Sie werden gelobt, aber nicht gelesen; nur gut geschriebene Bücher werden älter als fünfzig Jahre. Was sind die Ursachen für den tiefen Stand des durchschnittlichen deutschen Prosastils? Die Geschichte unserer Sprache in den letzten dreihundert Jahren ist eine Leidensgeschichte, denn sie ist das Spiegelbild unserer politischen Geschichte. Als Luther die neue deutsche Prosakunst schuf, regierte in Deutschland ein burgundischer Edelmann, von dem das vielzitierte Wort stammt: "Mit Männern soll man Französisch reden, mit seiner Geliebten italienisch, mit seinem Gotte spanisch und deutsch mit seinen Pferden."
Über dies Urteil Karls V. zu reden lohnt nicht, denn dieser deutsche Kaiser konnte die deutsche Sprache nur radebrechen; aber wie er, dachte damals die ganze Oberschicht Deutschlands. Bis ins 18. Jahrhundert war in Deutschland die Umgangssprache der Gebildeten Französisch, die Sprache der Wissenschaft lateinisch. Friedrich der Große sprach und schrieb französisch flüssiger als deutsch und hat seine Bücher in dieser Sprache verfaßt und veröffentlicht. Sogar eine so urdeutsche Gestalt wie Wilhelm I. griff zum Französischen, wenn er sich im Brief schnell und bequem ausdrücken wollte. In der Berliner Akademie der Wissenschaften, der die Pflege der deutschen Sprache zur Hauptaufgabe gesetzt war, war noch 1810 die Verhandlungssprache Französisch. Ja, bis zur Zeit Bismarcks haben die deutschen Gesandten ihre Berichte Französisch abfassen müssen. Noch schädlicher und hartnäckiger war die Fremdherrschaft des Lateinischen in Verwaltung, Schule und Wissenschaft. Lateinisch war die Sprache der Reichsversammlungen und Konzile, lateinisch abgefaßt wurden die kaiserlichen Gesetze und alle gerichtlichen Urkunden. Selbst die alten Rechte ließ Karl der Große lateinisch aufzeichnen. Lateinisch war die Sprache des Gottesdienstes; auch der Laie mußte Vaterunser und Glaubensbekenntnis lateinisch hersagen können und hielt sie oft für fremdartige Zaubersprüche mit besonderer Wunderkraft. Lateinisch geschrieben waren 1570 drei Viertel aller Bücher, und auch noch 100 Jahre später waren Latein lateinische Bücher in der Mehrzahl. Als Ludwig XIV. 1682 Straßburg geraubt hatte, beriet der Reichstag lange, in welcher Sprache man Einspruch erheben solle: französisch oder lateinisch, aber beileibe nicht Deutsch. 1665 schreibt ein deutscher Jurist, Konring, daß die Franzosen, Engländer, Italiener, Niederländer und Spanier wissenschaftliche Bücher jetzt in ihrer Muttersprache schrieben statt in Latein, das sei eines Gelehrten unwürdig. Als 20 Jahre später Thornasius an der Universität in Halle als erster Vorlesungen in deutscher Sprache ankündigte, brandete ihm eine Welle der Empörung entgegen, daß er das "ehrliche schwarze Brett" damit verunehrt habe. Als Jakob Grimm 1830 aus dem geliebten Hessen nach Göttingen übersiedelte, da wählte er zum Gegenstand seiner Antrittsvorlesung das Heimweh; aber er mußte die Rede lateinisch halten: De desiderio patriae. In Frankreich dagegen hatte man schon 300 Jahre früher verboten, im amtlichen Verkehr die lateinische Sprache zu verwenden. Noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat der große Gauß seine mathematischen Werke lateinisch geschrieben, und Schopenhauer bezeichnete es als eine Schweinerei Infamie, daß Anmerkungen zu lateinischen Schriftstellern in deutscher Sprache abgefaßt würden; man schreibe doch nicht für schwadronierende Barbiergesellen. Diese Zeit der sprachlichen Fremdherrschaft hat die deutsche Umgangssprache entkräftet und verseucht. Furchtbare Narben und Wundmale sind dem deutschen Sprachkörper aus jenen Jahrhunderten verblieben. Die Wiege der französischen Prosa hat in den französischen Salons gestanden; das Deutsche ist nie die Sprache einer großen Geselligkeit gewesen. Das Neuhochdeutsche Luthers wurde in den ersten hundert Jahren in keinem Winkel Deutschlands gesprochen, es war nur eine Sprache der Bücher und Kanzleien. Ein leiser Duft von Kanzel und Katheder haftet der deutschen Prosa noch heute an. Der Schwung der lebendigen Konversation, die Luft der großen Welt ist ihr ferngeblieben. Der Deutsche ist kein geborener Unterhalter. Allzu unbekümmert ist er bestrebt, sein Eigenes zur Geltung zu bringen; ein jeder spricht gern und viel und laut und zieht es oft vor, die genaue Wiedergabe seiner Empfindungen der Betonung, dem Stimmaufwand und der Sprechweise anzuvertrauen und nicht den Geheimnissen der Stilkunst. So wird die Unterhaltung nicht leicht zum wahren Gespräch. Das Gespräch verlangt vor allem den gescheiten Zuhörer, der auf die Worte des anderen eingeht und ihm die Fragen und Stichworte bringt, statt nur zu warten, bis er Atem schöpfe. Die Unterhaltung schwankt daher oft zwischen schulmeisterlicher Belehrung und belanglosem Alltagsgerede hin und her und steigt nur selten zu der Höhe jener schwerelosen Plauderei empor, in der die Künste der Sprache geübt und entwickelt werden. Mit bitteren Worten hat Schiller dieses Übel beklagt: "Die Sprache der Gelehrten ist der Leichtigkeit, Humanität und Lebendigkeit nicht fähig, welche der Weltmann mit Recht verlangt. Es ist das Unglück der Deutschen, daß man ihre Sprache nicht gewürdigt hat, das Organ des feinen Umgangs zu werden, und noch lange wird sie die üblen Folgen dieser Ausschließung empfinden."
Schon erinnern manche drohenden Anzeichen an den Verfall des Griechischen, an die Verarmung des Lateinischen. Was Wilamowitz, der große klassische Philologe, über das Griechische der ersten nachchristlichen Jahrhunderte gesagt hat, klingt wie ein Wort aus unseren Tagen: "Die Sprache schleift sich ab, der Formenreichtum schwindet, die Feinheiten im Gebrauch der Casus, Tempora, Modi werden nicht mehr empfunden; Umschreibungen verdrängen die kernige Einfachheit, man braucht immer mehr Worte und konventionelle Phrasen … Die Poesie schreibt keine lebendige Sprache mehr." Es ist eine entscheidende Frage der deutschen Sprachgeschichte, ob die Entwicklung unserer Sprache in diese Richtung gehen wird. Noch besitzen wir die schönste und stärkste Sprache der Welt, ein Instrument, das nirgends seinesgleichen hat. Sorgen wir auch für die Musikanten, die es spielen können und wollen!