Читать книгу Münchner Feigheit - W.A. Riegerhof - Страница 6
ОглавлениеAls Paul Lindner vor 30 Jahren in tiefster steirischer Provinz in den Zug nach München stieg, konnte er, dank seiner Naivität, nicht ahnen, dass mit jedem Kilometer der Entfernung, mit jedem Jahr, das sich fortan zwischen seine Herkunft schob, die Genetik seiner Familie näher rückte. Immer tiefer, wie ein Sturzbach seines Blutes, war jener Einfluss, dem er sich zeitlebens zu entziehen versuchte und von dem er doch wie ein Fluch durchrauscht blieb.
Einzig allein die Mechanik seiner Naivität, den Antrieb seiner Fantasie und den Treibstoff seiner Träume verdankte Paul Lindner dem stetigen Entkommen provinzieller Vernunft, dem Entfliehen seiner verängstigten Gene.
Diesen Tatsachen, fern aller Logik, verdankte er, dass es ihm nicht wie allen Scheiternden erging, die den Rückzug antraten, um danach namenlos wie alle Unversuchten in der Provinz schnell zu altern und langsam an jenem unversuchten Dasein zu krepieren.
Im Rückblick waren die Wege, die er ging, die Haken, die er schlug, um sich vermeintlich näher zu kommen, gleichzeitig auch die Wege und Haken, die ihn von seiner Persönlichkeit entfremdeten.
Jener Person, jener Provinzängstlichkeit erwuchs eine Eigenständigkeit, die ihn im Laufe der Zeit wie einen Fremden auf sich zurückblicken ließ.
Die Geschichten der Jahre hatten sich dazwischen geschoben, die einstigen Wünsche wunschlos und die damaligen Ziele ziellos und verschwommen gemacht.
Und diese Erkenntnis nannte sich also „Leben“, dachte Paul Lindner.
Zwischen Provinzmensch und Stadtmensch hatte sich eine Art von dritter Person in ihm entwickelt. Eine Persönlichkeit, eine Lebendigkeit, die vorwiegend die Wege zwischen Wahrheit und Lüge suchte und immer mehr die Pfade der Einsamkeit vorfand. Wege, wie sie wohl alle Outlaws gehen, die innerlich nach Annäherung suchen und sich äußerlich ablehnend geben.
Der Mensch trägt immer
seine ganze Geschichte und
die Geschichte der Menschheit mit sich!
C.G. Jung