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Die Leichtigkeit des Abschieds und die Schwere der Ankunft
ОглавлениеDer weinrote Lederkoffer, mit dem Paul Lindner am Münchner Hauptbahnhof ausstieg, er allein bezeugte die Reiseunfähigkeit und Reiseunlust der Provinz.
Dieses weinrote Lederungetüm hatte die Schwere und Originalität eines Erstkommunionanzugs und man sah ihm seine beschränkte, provinzielle Mobilität förmlich an.
Paul Lindners Lederkofferankunft kam infolge- dessen den Klischees eines kitschigen Heimatromans sehr nahe, in dem die schwangere, verstoßene Magd ihr Glück in der fremden Stadt suchte. Paul Lindner fühlte sich verstoßen und abgestoßen von ländlicher Intoleranz und seine Seele war schwanger von abenteuerlichen, freien Gedanken. Eine Befreitheit, die sein schwerer Lederkoffer so gar nicht widerspiegelte.
Es war, als trüge er seine Vergangenheit mit sich, nach dem Motto der Unfreiheit: ich habe einen Gefangenen und der lässt mich nicht los!
Paul Lindner wartete vor`m Bahnhofsgebäude in der Schwanthalerstraße auf ein Taxi.
Zuweilen war er das Stadtleben gewöhnt, wohnte immerhin ein halbes Jahr in Wien.
Wer Wien überlebt, die Stadt der Destruktive, der überlebt jede Metropole, sagte er sich. Aber allein die Grenzüberschreitung, die Passkontrollen machten ihm das Fremdsein, sein eigenes Grenzüberschreiten bewusst. Und er hatte sofort ein ungutes Bauchgefühl, dass ihn diese Fremde von übermäßiger Größe erdrücken könnte, ihn zu einem winzigen Nichts machte, bevor sein Stern hier aufging. Es fiel ihm augenblicklich ein, wie ihm in fremdsprachigen Ländern stets ein Gefühl an Einzigartigkeit überkam, ein Verstecktsein in der fremden Sprache, eine Art von Tarnkappenschutz in der eigenen Sprache. Jedoch in München, in derselben Sprache und Kultur, fühlte er sich wie ein Niemand, ein Nichts und als Nichts durchschaut.
Spürte, dass ihm dieses Fremdsein ungewohnt fremd war, wie ihm zu Hause das Bekanntsein gewohnt unangenehm war. Aber war nicht gerade diese Verlogenheit an Nähe Triebfeder seiner Flucht?
Paul Lindner entschloss sich, sein Fremdsein erst mal mit ein paar Weißbieren runterzuspülen und im Rausch der Großstadt, wie alle Trunkenen, grenzvergessen zu sein!
Eingetunkt, eingetrunken in bayrische Gemütlichkeit war Paul Lindner das Fremde nun doch nicht mehr so fremd.
Dennoch war ihm bewusst, dass der Rausch wichtige Konturen der Wirklichkeit verwischte und Grenzen, die Feinheiten hervorhoben, aufzuweichen vermochte. Feinheiten, auf deren Spurensuche er nach München kam.
Deshalb war er froh, dass ihn der Alkohol selten seiner Instinkthaftigkeit entzog, er selten über den Genuss hinaus trank.
Die Weißbiere hatten seine Gedankenschärfe etwas abgemildert, seine Naivität wieder bestrahlt, aber nicht verwaschen, nicht abgetötet.
Paul Lindner war sich auch ziemlich sicher, niemals jeglichen Drogen zu verfallen, weil er sich selbst die größte Droge war.
Seine körpereigenen Morphine durchspülten ihn 24 Stunden, waren der Lebensrausch, der ihn täglich durch die Wege trieb.
Als Paul Lindner im Taxi saß, nahm er erstmals den Rhythmus der Stadt wahr.
Sein seismographisches Ertasten einer Örtlichkeit, einer Stadt, benutzte er wie ein Blinder den Blindenstock. Er spürte die Stadt als fast zu ruhig, zu sauber, aber mit einem schmutzigen Unterton, der ihm gefiel.
Es war nicht mehr jener provinziell derber Polkarhythmus, der ihn seit Kindertagen begleitete; nicht jene Wiener Walzermorbidität, die er so schnell verwünschte, so sehr er sich zuvor das Wiener Großstadtleben herbeisehnte.
Es hatte ihn zu schnell an den Rand getanzt und beinahe darüber hinaus.
Zu anfällig war er für diese Schwärze und Nekrophilie der Stadt Wien. Und Paul Lindner war durchaus anfällig für nächtliches Treiben, ja sogar selig für diese Stunden zwischen Mitternacht und Morgenfrühe. Die Zeit, die die Provinz verschläft, totschläft, um sich für den darauf folgenden Moloch zu rüsten. Gerade dieser Zeitraum war sein Rhythmus, seine Kraftquelle, wo sich äußere Konturen verwuschen, die Tagesmaske verschwand und die Wesentlichkeit allmählich hervortrat, das Blut sichtbar wurde und die Adern aufsprangen nach Lust.
Dieser Rhythmus der schmutzigen Untertöne, nur für Eingeweihte hörbar, diese Suche nach Lebenslust führte ihn auf naive Weise wahrscheinlich nach München; angetrieben von einer Mechanik verschlossener Triebe, die er öffnen und zur Blüte bringen wollte.