Читать книгу Visionen gegen die Monster - Walter Faerber - Страница 5

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Einleitung

Welche Themen fallen Menschen in der Regel ein, wenn sie an die Offenbarung des Johannes denken? Der Weltuntergang oder ähnlich katastrophale Szenarien kommen in den Blick; dann Katastrophenfilme, die irgendwie auch davon inspiriert sind und mit der Vorstellung eines Weltuntergangs spielen. Schließlich gibt es religiöse Gruppen außerhalb des Mainstream, die jedenfalls manchmal mit der Offenbarung argumentieren. Wer ein bisschen theologisch bewandert ist, assoziiert vielleicht auch Luthers Verdikt, die Offenbarung sei »aller Rottenmeister Gaukelsack« – und übersieht dabei, dass Luthers theologisches Denken bis in die Wortwahl hinein seine intime Bekanntschaft mit der Offenbarung nicht verleugnen kann. Und am Ende gilt die Offenbarung als Buch mit sieben Siegeln, das keiner richtig verstehen kann und von dem man lieber die Finger lässt.

Ein Buch für Krisenzeiten

Wenn man das Buch aber einfach einmal liest und versucht, dieses Vorverständnis so gut es geht auszuschalten, dann macht man andere Entdeckungen. Denn es geht gerade darum, dass das Buch mit sieben Siegeln nicht verschlossen bleibt, sondern geöffnet wird – nämlich das Buch, in dem die Geheimnisse Gottes aufgeschrieben sind. Tatsächlich ist da die Rede von schrecklichen Katastrophen, aber am Ende steht das Neue Jerusalem und die neue Schöpfung. Und alles zusammen ist gerade nicht als Schreckensszenario gemeint, sondern als Ermutigung: Seid getrost, es wird Erschütterungen und Umwälzungen geben, aber das ist unvermeidlich, wenn die heraufziehende neue Welt Gottes auf die alte Welt der zerstörerischen, gottfeindlichen Mächte trifft. Es muss so sein. Habt keine Angst, ich sorge für euch! Ganz ähnlich hat auch schon Jesus zu seinen Jüngern gesprochen (etwa Markus 13,1-8), wie man überhaupt schnell sachliche Verbindungen zu vielen anderen Schriften des Alten und Neuen Testaments entdecken kann.

Denn die Adressaten dieses Buches sind nicht irgendwelche naseweisen Leute, die neugierig sind, wie denn wohl das Ende der Welt aussehen wird. Die Adressaten sind sieben kleine christliche Gemeinden im Gebiet der heutigen Westtürkei. Das waren winzige Minderheiten in großen Städten, in denen die Menschen sonst heidnische Götter und den römischen Kaiser anbeteten. Diese Christen stehen ziemlich unter Druck, ihre Umwelt beäugt sie misstrauisch, und es hat Angriffe auf sie gegeben, ja, sogar schon Tote. Der christliche Prophet Johannes ist selbst auf die Insel Patmos vor der kleinasiatischen Küste verbannt worden. Von dort aus teilt er den Gemeinden mit, was Jesus ihm für sie aufgetragen hat. Und es geht immer darum, dass seine Visionen ihnen Mut machen. Jetzt kommt ihr euch vielleicht wie eine bedeutungslose Minderheit vor, sagt Johannes.

Aber versteht: In Wirklichkeit spielt ihr in Gottes Plan eine entscheidende Rolle. Ihr seid in den ganzen Erschütterungen, die jetzt heraufziehen, ein strategischer Angelpunkt. Deswegen haltet durch, lasst euch nicht einschüchtern, lasst euch nicht von eurem Weg abbringen! Davon redet die ganze Offenbarung: Gott hat euch nicht vergessen, sondern er wird eingreifen und die Welt erneuern. Und zentral seid dabei ihr und eure Standhaftigkeit.

Drei Bühnen für ein Drama

Die Offenbarung des Johannes spielt dabei parallel auf drei verschiedenen Bühnen. Da sind zunächst die kleinasiatischen Gemeinden, die mindestens teilweise von Paulus gegründet worden sind: Gemeinden, die in einer feindseligen Umwelt mehr oder weniger gut ihren Alltag bestehen. Sieben Briefe an sie bilden das zweite und dritte Kapitel der Offenbarung, und auch danach wird das Schicksal dieser Gemeinden immer mal wieder wenigstens andeutungsweise sichtbar. Dieser erste Teil ist eine Art Lesehilfe für das ganze Buch. In all den erstaunlichen Bildern und Visionen sind letztlich diese kleinen Gruppen von Christen und ihr Beitrag zum Lauf der Welt das Zentrum, um das es geht. Für die Menschen auf dieser Bühne ist die Offenbarung geschrieben. Aber natürlich auch für alle, die später in ihre Position kommen werden.

Die zweite Bühne ist die himmlische Welt, der Thronsaal Gottes mit Engeln, Ältesten, die für das Volk Gottes stehen, und Wesen, die die Schöpfung repräsentieren. Johannes darf das in einer Vision sehen. Aber dieser Himmel ist nicht isoliert von der Erde. Der Himmel ist die verborgene Seite der Welt. Da sind die geistig-geistlichen Mächte versammelt, die die Erde bewegen. Im Himmel achten sie darauf, was auf Erden passiert. Vom Himmel aus werden die Ereignisse auf der Erde beeinflusst. Und die Gebete der Christen erreichen den Himmel.

Die große Welt der Macht ist die dritte Bühne, auf der die Offenbarung spielt. Die Welt, die von Königen regiert und von Händlern ausgebeutet wird. Die Welt, die ein Spielball gigantischer Mächte und unwiderstehlicher Propaganda ist. Diese Machtzusammenballungen erscheinen in der Offenbarung als die »Tiere«, die Monster. Diese ganze Welt gerät in Aufruhr, wenn der gekreuzigte Jesus, das Lamm, die Gewaltgeschichte der Menschheit neu aufrollt, aufrollt im buchstäblichen Sinn, weil das Buch mit den sieben Siegeln ja eigentlich eine Schriftrolle ist.

Eine Weltsicht eigener Art

Man wird keinen Zugang zur Offenbarung finden, wenn man sich nicht auf diese Weltsicht mindestens versuchsweise einlässt. Der Himmel spielt in ihr eine entscheidende Rolle. Er ist der Raum der Vorstellungen und Träume, die Menschen bewegen. Er ist der Raum der Gedanken und Ideologien, die in der sichtbaren Welt wirksam werden. Gott hat in diesem Raum seinen Platz, aber auch der Satan. Und wenn Jesus sich endgültig entschließt, seinen Weg auf Erden bis zum Kreuz zu gehen, dann stürzt der Satan aus dem Himmel. So steht es übrigens schon bei Lukas (10,18) und Johannes (12,31). Das heißt wohl, dass die satanische Vision für menschliches Leben erledigt ist, sobald mit Jesus die Alternative Gottes präsent ist. Sobald diese Alternative real wird, sieht das satanische Konzept nur noch alt aus.

Damit wird in der Offenbarung in vollem Maß sichtbar, was sich in den jüngeren Teilen der Bibel zunehmend herauskristallisiert: Die Welt hat eine für uns unsichtbare Seite; und diese unsichtbare Seite mischt sich ein. Es gibt Begegnungen und es gibt so etwas wie Fenster zwischen den beiden Sphären.

Deshalb ist der Himmel auch kein idealistisches »Reich der Ideen«. Dafür ist er viel zu aktiv am Geschehen in der sichtbaren Welt beteiligt. Vom »Himmel« zu reden ist ein Weg, um auszudrücken, dass die Welt keine Maschine ist, die bewusstlos funktioniert wie ein Uhrwerk. In ihr spielt Bedeutung eine Rolle. Sie ist von Beziehungen durchzogen. In ihr gibt es Mächte, die größer sind als einzelne Menschen und die trotzdem personähnlich agieren. Viele, wenn nicht alle Phänomene haben zwei Seiten, eine sichtbare und eine unsichtbare. Und was auf der unsichtbaren Seite – also im »Himmel« – geschieht, hat Konsequenzen im Sichtbaren, auf der Erde.

Wenn sich der Orientierungsrahmen ändert, in dem Menschen die Welt und sich selbst sehen, dann ändert das den Lauf der Geschichte.

Die große Veränderung im Himmel, deren Zeuge Johannes wird, betrifft vor allem das »Lamm«. »Lamm« ist in der Offenbarung die Chiffre für Jesus. Er darf das Buch mit den sieben Siegeln öffnen. Er darf in das Geheimnis der Welt hineinschauen, er darf verstehen, wie es alles zusammenhängt. Er ist »würdig«, das heißt: Er kann das verkraften, er kann damit umgehen, er ist der Richtige dafür. Aber das ist kein einfaches Zur-Kenntnis-Nehmen. Das Öffnen des Buches verändert das Gleichgewicht im Himmel. Es schiebt die Geschichte an, die dort aufgeschrieben ist. Jedes Mal, wenn ein Siegel geöffnet wird, passiert etwas Dramatisches. Es gibt Krieg, Hunger und Seuchen, man sieht die Opfer von Gewalt und Katastrophen. Und im Lauf der Zeit wird das Geschehen immer krasser.

Als das Lamm schließlich beim siebenten Siegel angekommen ist, passieren immer erschreckendere Dinge. Der Schmerz, die Unterdrückung und Gewalt, all das Unsagbare, das die Menschheitsgeschichte begleitet, meldet sich. Wir alle tragen mit uns eine Gewaltgeschichte und eine Leidensgeschichte herum, die wir uns normalerweise gar nicht wirklich klarmachen, weil wir es nicht ertragen könnten. Aber sie ist da. Sie verschwindet nicht einfach aus der Welt. Bis heute tun Menschen anderen Menschen schreckliche Dinge an, die man eigentlich gar nicht beschreiben kann.

Wer z.B. einen Film wie »12 Years a Slave« gesehen hat, weiß vermutlich, was ich meine. Es ist ein Film über einen freien Schwarzen, der im 19. Jahrhundert 12 Jahre als Sklave in den amerikanischen Südstaaten leben musste. Da wird die grausame Behandlung der Sklaven gezeigt, wie sie jeder Willkür ihrer Herren ausgeliefert sind, ausgepeitscht werden, wie sie gedemütigt und manchmal auch getötet werden. Das ist nur das Schicksal eines Einzigen, und nach 12 Jahren ist der dem System entkommen, aber Millionen haben so unter der Herrschaft der Peitsche gelebt. Oder denken wir an die Kriege, vom Dreißigjährigen Krieg bei uns bis hin zu dem, was jetzt im syrischen Bürgerkrieg geschieht. Eine schier unglaubliche Menge an Leid und Angst und Schrecken begleitet den Weg der Menschheit.

Wir leben ja in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer relativ privilegierten Zeit und an einem privilegierten Ort. Im Vergleich zu den meisten anderen Zeiten und Weltgegenden sind unsere Probleme eher Luxusprobleme. Deshalb können wir noch weniger als andere auch nur annähernd ermessen, was dort und anderswo die Realität unzähliger Menschen war und ist. Und diese ganze Realität, all diese grauenvollen Erinnerungen werden weggesperrt und verdrängt, weil kein Mensch das ertragen könnte. Aber wenn das Lamm die Siegel öffnet, dann kommt das alles wieder zur Sprache, es wird wieder lebendig und erschüttert die Welt. Jesus, »das Lamm, das geschlachtet wurde«, kann das, weil er einen neuen Weg gefunden hat, mit erlittener Gewalt umzugehen. Jetzt gibt es Hoffnung für die verdrängten Erinnerungen.

Verborgene Akteure werden sichtbar

Zunächst aber werden über diese Welt voller Gewalt die Schalen des Zornes Gottes ausgeschüttet. Gott kann nicht darüber hinwegsehen, wie Menschen mit Füßen getreten und zerstört werden. Was sonst oft im Bild des Endgerichts erscheint, das wird hier im Bild der Katastrophen und Zerstörungen beschrieben. Und allmählich wird immer deutlicher sichtbar, wer hinter all dem Unrecht und den Entstellungen steckt, die Menschen angetan werden: der Böse, der Satan, der Drache, der Zerstörer. Immer stärker gerät er in den Fokus, und am Ende wird über ihn Gericht gehalten.

Aber kurz bevor es ihm an den Kragen geht, muss erst Babylon dran glauben. »Babylon« ist ein Codename: In Wirklichkeit ist Rom gemeint – einschließlich all seiner Vorläufer (und heute setzen wir hinzu: und auch all seiner Nachfolger). In zwei langen Kapiteln beschreibt Johannes den Untergang Roms. Er benennt die Profiteure, die in Roms Schutz Geschäfte gemacht haben. Detailliert beschreibt er die Handelsströme und die Güter: vor allem Luxuswaren und Sklaven. Und am Ende steht ein riesiger Jubel, als das verhasste System zusammenbricht. Danach wird nur noch mit dem Satan abgerechnet, und dann beginnt der neue Himmel und die neue Erde.

Da kommen die drei Bühnen zusammen: der Himmel, die große Welt der Mächte und die überschaubare Welt der christlichen Gemeinden. Wenn das Böse weggeschafft ist, dann gibt es keine Trennung mehr zwischen Himmel und Erde, dann kommt das Neue Jerusalem aus dem Himmel herab auf die Erde, und Gott wohnt für immer bei seinem Volk.

Der Weg der Bilder

Man kann sich vielleicht vorstellen, dass es nicht ungefährlich war, solche Gedanken zu entwickeln. Deswegen die vielen Andeutungen und die Codewörter wie »Babylon«. Man konnte damals nicht offener reden und erst recht nicht schreiben. Die römischen Aufpasser folterten irgendwie Verdächtige ganz routinemäßig. Und man ist dann eben in Bilder und Gleichnisse ausgewichen, in Gedankengut, das schon im Alten Testament (vor allem im Buch Daniel) und in der Zeit zwischen den Testamenten vorbereitet worden ist. Das macht die Offenbarung für uns manchmal schwierig, weil wir wahrscheinlich eine ganze Menge Andeutungen gar nicht mehr verstehen und bei anderen nicht wirklich sicher sein können.

Diese Art zu reden und zu denken ist aber für neuzeitlich denkende Menschen überhaupt schwer zugänglich. Wir erwarten klare Aussagen, am liebsten eine Chronologie der kommenden Ereignisse, und bekommen stattdessen Bilder, die unsere Vorstellungskraft sprengen. Wenn man sie unbedingt als Weltuntergangs-Chronologie lesen will, muss man sie gewaltsam untereinander und mit anderen Aussagen der Bibel kompatibel machen. Schlimmer noch: Hier gibt es keine scharfe Trennung zwischen der »realen Welt« und den Bedeutungen, mit der sie sich in unserem Denken widerspiegelt. Vielmehr liegt beides ineinander, ist miteinander verflochten. Deshalb kommt man noch nicht einmal mit einer sauberen Trennung von »natürlich« und »übernatürlich« durch. Der Himmel ist nicht weniger real als die Erde, aber er ist anders. Himmel und Erde sind beides Teile der Schöpfung. Und wenn man nur einen Teil davon als real ansieht – im antiken Gnostizismus war es der Himmel, im modernen Materialismus ist es die Erde – , dann nehmen beide Schaden. Wer nur auf den Himmel schaut, verachtet die Erde genauso wie der, der sie jeder Bedeutung entkleidet und zur reinen Materie herabstuft: zum Material, mit dem wir nach unserem Belieben verfahren dürfen. Die Leibfeindschaft der Alten und die moderne Plünderung des Planeten sind gar nicht so weit voneinander entfernt.

Das alles führt zur modernen Humorlosigkeit im Umgang mit literarischen Gattungen. Für den modernen Blick gibt es eigentlich nur Sachbücher, seien sie technischer oder geschichtlicher Art. Alles andere – bildhafte, poetische, mythische und ähnliche Ausdrucksweisen – ist für diesen Blick im Grunde entweder überflüssig oder auf seine verborgenen Sachaussagen hin zu exegesieren. In diesem bierernsten Beharren auf sola facta – Tatsachen allein – sind sich die modernen Frommen mit den Liberalen einig. Das geht vor allem zu Lasten der ersten und letzten Teile der Bibel. Für die einen können Schöpfungs- und Urgeschichte ebenso wie die Johannesoffenbarung nichts anderes als fromme Märchen sein (möglicherweise mit ein paar weisheitlichen Nutzanwendungen), für die anderen sind es heilige Tatsachenberichte. Dass in Wirklichkeit am Anfang und am Ende der Bibel versucht wird, in Bildern etwas über das Ganze zu sagen, was anders unsagbar bliebe, entgeht beiden.

Letztlich ist es eben nicht in erster Linie die Bedrohung durch imperiale Inquisitoren, die die Verfasser der apokalyptischen Schriften in für uns verwirrenden Bilderwelten reden ließ. Eine solche mythische Sprache ist anscheinend angemessen, wenn man Aussagen über das Ganze der Welt und die in ihr wirkenden Kräfte treffen will. In den Bildern und Bildwelten der Offenbarung ist zusammengehalten, was im modernen Denkstil aufgeteilt wird auf so unterschiedliche Disziplinen wie Kosmologie, Physik, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Ökonomie. Ja, wir Kinder der Moderne müssen das in unseren Denkstil übersetzen, aber wir sollten das nicht automatisch als Zeichen der Überlegenheit unserer Denkkonventionen werten.

Es geht deswegen in dieser Auslegung der Offenbarung des Johannes ausdrücklich nicht darum, einen Tatsachenbericht »nur symbolisch« statt wörtlich zu verstehen (und ihn so zu ermäßigen). Vielmehr geht es darum, den vollen Gehalt dieser Bilder zu erfassen und von ihm her unseren beschränkten Verständnishorizont zu durchbrechen. Denn natürlich begegnen wir hier einer Art, von den großen Linien der Welt zu sprechen, die den modernen »realistischen« Zugang zur Welt in Frage stellt – auch den fromm getönten.

Die Vorstellung des »Himmels« erinnert den modernen Wissenschaftsgläubigen daran, dass die Welt eben nicht nur aus »Fakten, Fakten, Fakten« besteht. Und dass dieser Himmel schließlich zur Erde kommt (und nicht wir am Ende »in den Himmel kommen«), fordert den modernen Frommen heraus, der wie die alten Gnostiker die Materie längst abgeschrieben hat. Dagegen konzentriert die Offenbarung unsere Aufmerksamkeit auf den Himmel und die Erde, die Gott geschaffen und nie aufgegeben hat, um die er kämpft und die er am Ende durch erschreckende Erschütterungen hindurch zu ihrem Ziel bringen wird.

Nicht jeder wird diese Weltsicht teilen. Aber es sollte doch deutlich sein, dass unsere moderne Art, uns die Wirklichkeit plausibel zu machen, ebenso ihre blinden Flecken hat wie der Verständnisrahmen früherer Zeiten. Auf jeden Fall hat die Offenbarung nicht die Absicht, sich unserem Verständnisrahmen zu unterwerfen. Und dann sollten wir es von ihr auch nicht erwarten. Wenn man aber eine solche, uns fremde Weltsicht kommunizieren will, dann wüsste ich keinen angemesseneren Weg als den, den die Offenbarung geht: den Weg der Bilder und Visionen, die offen sind für ständige Neuinterpretation.

Denn wir heute, mit unserem heutigen Wissen um die großartigen und erschreckenden Möglichkeiten des menschheitlichen Potentials, lesen dieses Buch natürlich anders als seine ersten Adressaten mit ihrem eher statisch geprägten Weltbild. Sie hätten sich nicht vorstellen können, welche Veränderungen unser Planet auch nur bis heute erfahren hat. Und käme man als Zeitreisender aus der Zukunft zu ihnen und wollte es ihnen erklären, so bliebe einem am Ende wohl auch nur dieser Weg der Bilder.

Dieser Gedanke funktioniert aber auch andersherum. Wenn wir uns von der stillschweigenden Annahme trennen, wir seien schon am Ziel der Geschichte angekommen, dann haben wir damit zu rechnen, dass die folgenden Generationen auch noch einmal neue Sichtweisen der Offenbarung entwickeln, die uns heute prinzipiell unzugänglich sind. Wer der menschlichen Prognosefähigkeit mehr zutraut, der sehe sich doch nur einmal wenige Jahrzehnte alte Science-Fiction-Filme an und lasse sich davon ernüchtern. Im Vergleich zu solchen, schnell überholten Entwürfen sind die Bilder der Johannesoffenbarung auch nach fast zwei Jahrtausenden immer noch bemerkenswert robust und produktiv.

Auf jeden Fall begegnen wir hier einer Weltsicht, wo alles ganz eng zusammengehört: der Lauf der Geschichte mit ihren großen Katastrophen und Wendepunkten, das Leben, der Tod und die Auferstehung Jesu, die – wir würden heute sagen: privaten – Entscheidungen und Verhaltensweisen der Christen und schließlich die verborgene, himmlische Seite der Welt. Das alles ist jetzt schon ganz eng miteinander verknüpft, auch wenn es für viele noch getrennte Sphären sind. Am Ende wird es endlich auch, für alle sichtbar, eins werden. Wenn das Böse überwunden ist, dann wird Gott alle Tränen abwischen, und dann beginnt die eigentliche Geschichte der Welt.

Dennoch sind wir mit unserer kleinen Geschichte ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der ganzen Welt, mit ihrer irdischen und ihrer himmlischen Seite. Was wir hier tun und entscheiden, ist der Ernstfall. Es wirkt sich aus auf den großen Kampf Gottes um die Befreiung seiner Schöpfung.

Ein Buch zur Orientierung

Wer sich auf die Offenbarung einlässt, dem ist der Rückzug in die kleine Welt der privaten Innerlichkeit verstellt. Damit setzt dieses Buch am Ende der Bibel noch einmal einen deutlichen Akzent. Auch wenn viele Schriften des Neuen Testaments zunächst einmal an einer kleinen Gruppe von Menschen (Jesus und seine Jünger, Paulus und seine Gemeinden) orientiert sind, heißt das nicht, dass der historisch-politisch-theologische Rahmen des Alten Testaments überholt wäre. Im Gegenteil: Die Offenbarung lebt in der Bildwelt des Alten Testaments und entwickelt sie weiter. Der globale Horizont wird eher noch erweitert. Aber im Zentrum stehen diese kleinen christlichen Gruppen, deren Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus die Welt nicht mehr zur Ruhe kommen lässt.

Aus der Perspektive eines Lesers von heute müsste das im Grunde an Plausibilität sogar noch gewonnen haben. Denn der Impuls des Evangeliums, den die christlichen Gemeinschaften in die Welt getragen haben, hat langsam und beharrlich tatsächlich den Verständnisrahmen verschoben, mit dem Menschen in beinahe allen Kulturen sich selbst und die Welt betrachten.

Allein schon die bemerkenswerte Tatsache, dass die moderne Welt mit ihrer permanenten Umwälzung aller scheinbar »natürlichen« Lebensverhältnisse ausgerechnet im christlichen Europa erfunden worden ist, sollte zu denken geben.1 Man kann darüber streiten, ob diese moderne Welt Segen, Fluch oder beides zugleich ist; man kann unterschiedlich darüber denken, ob es sich dabei um eine Entstellung des Christentums oder um sein Zu-sich-selbst-Kommen handelt. Aber dass Christentum und Moderne eng miteinander verknüpft sind, sollte nicht bestritten werden.

Akzeptiert man diesen Zusammenhang, dann kann man alle Erschütterungen, die mit der modernen Revolutionierung aller Lebensverhältnisse einhergehen, als Begleiterscheinungen des Kommens Gottes in seine Welt verstehen. Wir erleben ja derzeit einerseits eine enorme Beschleunigung dieses Wandels, insbesondere durch die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation und Datenverarbeitung. Dazu gehört eine bisher unbekannte Ermächtigung des Individuums. Parallel dazu wachsen aber auch die Kräfte, die hinter die Errungenschaften der Moderne wie Menschenrechte und Demokratie zurück möchten zu einem Autoritarismus, der lediglich die technischen Möglichkeiten der Moderne einschließlich ihrer Manipulationsmöglichkeiten nutzt.

So unübersichtlich dabei die Fronten erscheinen: Sie ordnen sich, sobald man sie von der Auseinandersetzung her begreift, in der sich eine Welt voll gottloser Mächte dagegen wehrt, in den Gehorsam gegen ihren Schöpfer und Erlöser zurückgeholt zu werden. Dass diese theologische Deutung nicht in Konkurrenz zu anderen Deutungsmustern politischer oder ökonomischer Art tritt, möchte ich ausdrücklich betonen. Auch die Offenbarung geht an diesen Zusammenhängen nicht vorbei. Sie ordnet sie aber ein in den Rahmen der Auseinandersetzung Gottes mit den Mächten der Zerstörung, die die Schöpfung zunehmend zu verwüsten drohen.

In dieser Auseinandersetzung ist der Weg Jesu auf der Erde, einschließlich seines Todes und seiner Auferstehung, die entscheidende Wende; doch damit ist die Auseinandersetzung beileibe nicht beendet. In der Begrifflichkeit der Offenbarung findet sie nun nicht mehr bloß »im Himmel«, sondern auch »auf der Erde« statt. Es geht von nun an um die weltweite Implementierung dieses Weges Jesu, also um seine »Anwendung im Heute«. An diesen Prozess werden wir gegenwärtig durch die globalen politisch-ökonomischen Erschütterungen heftig erinnert. Es gibt jedoch keinen belastbaren Grund für die Vermutung, dass dieser Prozess ausgerechnet in unserer Epoche an sein Ziel kommen wird.

Aber auch ohne diese dramatische Zuspitzung ist unsere Lage dramatisch genug. Geheimer Dreh- und Angelpunkt einer von Konflikten zerrissenen Welt zu sein, ist eine ziemlich aufregende Rolle. Johannes wusste, dass seine Gemeinden dazu dringend einen Leitfaden brauchen. Knapp zwei Jahrtausende später hat sich daran nichts geändert.

1 Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Ich verweise aber ausdrücklich auf das materialreiche Buch von Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt (2014). Siedentop beschreibt detailliert Entwicklungen der antiken und mittelalterlichen Theologie und Kirche, die die Grundlagen der Moderne legten.

Visionen gegen die Monster

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