Читать книгу Mörder sind nicht zimperlich: 10 Krimis - Walter G. Pfaus - Страница 21
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Оглавление„Ich liebe dich“, flüsterte die junge Frau.
Fred Sayers lag neben ihr im Bett, angelte sich eine Schachtel Zigaretten vom Nachttisch und zündete sich Sekunden später eine an. Er sah zufrieden aus, er lächelte sogar, aber seine stahlblauen Augen blieben dabei seltsam kalt und hart. Die junge Frau blickte zu ihm hoch.
„Warum sagst du nichts?“, wollte sie wissen.
Sayers strich ihr über das Haar. Es knisterte unter seiner Berührung, es blieb an seinen Fingern hängen.
„Da siehst du mal, wie du mich elektrisierst“, flüsterte die junge Frau.
„Das möchte ich lieber vermeiden“, sagte er mit zuckenden Mundwinkeln.
„Ich finde es schön.“
Er inhalierte tief. Er konnte seiner Geliebten nicht gut sagen, woran er dachte, ja zwangsläufig denken musste, wenn vom Elektrisieren die Rede war.
„Du bleibst doch noch, bis Gerry von seiner Geschäftsreise zurückkehrt?“, fragte die junge Frau hoffnungsvoll.
Sie war 34. Ihr hüllenloser Körper war schlank, biegsam, vollkommen. Das Gesicht war ebenmäßig und wurde beherrscht von großen, lang bewimperten Augen und einem üppigen Mund. Die Farbe der Augen ließ sich nur schwer bestimmten und schwankte zwischen Braun und Gold.
„Wann erwartest du ihn?“
„Das habe ich dir doch schon mehrere Male gesagt. Er kommt am Freitag zurück, in vier Tagen.“
„So lange kann ich nicht warten.“
„Wenn du gegangen sein wirst, werde ich nur noch an dich denken“, seufzte sie. „Lieber Himmel, warum um alles in der Welt habe ich bloß Gerry Mitchell geheiratet? Er ist fad. Ein Ekel. Und dick dazu. Oh, Fred! Du hättest mich damals mitnehmen sollen. Ich habe dir doch wahrhaftig deutlich genug gezeigt, was ich für dich empfinde.“
„Du weißt, wie das lief“, murmelte er.
„Du wolltest weg von Hammond, ich erinnere mich. Du wolltest ein reicher Mann werden. Du hattest dir vorgenommen, als Millionär zurückzukehren. Das klang wie Spinnerei. Es waren die Träume, die jeder in deinem Alter hatte, aber merkwürdig, dir habe ich geglaubt. Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Ich wünschte, ich hätte dich auf dem Weg nach oben begleiten dürfen. Ich hätte dir diesen Weg leichter und schöner gemacht, das darfst du mir ruhig glauben.“
Er streichelte jetzt ihre runde, glatte Schulter.
„Es hätte mich abgelenkt“, sagte er und wirkte dabei seltsam zerstreut. „Erfolg lässt sich nur dann sichern, wenn man nur ein Ziel kennt, nichts sonst.“
„Warum machst du nicht wahr, was du dir vorgenommen hast? Weshalb kehrst du nicht nach Hammond zurück, für immer?“, fragte sie. „Gerry ist oft unterwegs! Wir könnten uns so häufig sehen, wie du nur wolltest ...“
„Hammond ist ein Kaff. Ich hasse es.“
„Ich lebe in diesem Kaff“, meinte sie lächelnd. „Macht es das für dich nicht liebenswerter?“
„Natürlich“, erwiderte er lächelnd, „deshalb kehre ich ja regelmäßig hierher zurück. Zu dir, versteht sich.“
„Ja, zu mir“, seufzte sie und verschränkte, sich räkelnd, die Arme unter dem Nacken, „aber niemand darf etwas davon erfahren. Ich würde mich so gern mit dir zeigen, ich möchte allen sagen: Seht her, das ist er, Fred Sayers, meine große Jugendliebe. Er hat es geschafft, er ist zum Millionär aufgestiegen, aber du verbietest es mir, du ...“
Er fiel ihr ins Wort: „Du bist verheiratet, Honey. Ich denke nur an dich.“
„Ich hasse Gerry, diesen Widerling! Wenn du es willst, lasse ich mich von ihm scheiden.“
Er drückte die Zigarette in dem Ascher aus, schlug das Laken zurück und stand auf.
„Du willst schon gehen?“, fragte die junge Frau betroffen. „Habe ich was Falsches gesagt? Vergiss das mit der Scheidung! Ich weiß, wie nervös Männer reagieren, wenn man sie an die Kette zu legen versucht.“
„Ich habe noch was zu erledigen“, sagte er.
„Um diese Zeit? Mitten in der Nacht?“, fragte sie.
Er zog sich an.
„Es ist sehr wichtig.“
„Was ist es?“
„Hör zu, Baby ... es kann Ärger für mich geben“, meinte er zögernd. „Wärest du schlimmstenfalls bereit, mich mit einem Alibi zu unterstützen?“
Die junge Frau machte keinen Hehl aus ihrer Verwirrung.
„Wozu brauchst du es?“, fragte sie.
„Ich hoffe, ich brauche es gar nicht ... aber falls ich es haben muss, würde ich gern auf dich bauen. Ist das okay?“, fragte er.
Die junge Frau setzte sich auf, zog die Knie an und legte ihre Arme darum.
„Ich liebe dich. Ich tue alles für dich, was du von mir verlangst, aber denkst du bei dem, was du vorhast, auch an Gerry? Wenn ich dein Alibi sein soll, bedeutet das, dass ich zugeben muss, dich in diesem Haus und diese Nacht beherbergt zu haben. Das wäre das Ende meiner Ehe.“
„In diesem Fall“, versprach er, „wäre ich bereit, dich zu entschädigen.“
„Wie denn?“
„Ich würde dich heiraten“, sagte er lächelnd.
„Oh, Fred!“, hauchte sie.
„Also, was ist ... bist du auf meiner Seite?“
„Ja! Darf ich wenigstens erfahren, worum es geht?“
„Nein, Honey. Es ist besser, du weißt nichts davon.“
„Du setzt dich doch hoffentlich keinen Gefahren aus?“, fragte sie ängstlich.
Er überlegte kurz, dann meinte er leichthin: „Nein, ich glaube nicht, dass es gefährlich ist. Nicht für mich jedenfalls.“
„Wann kehrst du zurück?“
Sayers blickte auf seine Armbanduhr.
„In zwei, drei Stunden wird alles vorbei sein“, sagte er, küsste die junge Frau auf die Stirn, zog seine Krawatte straff und verließ den Raum.
Als er die Straße betrat, nieselte es. Er machte nochmals kehrt, um seinen Trenchcoat aus der Diele des Hauses zu holen, dann stieg er in den Buick Skylark, den er sich von einem Wagenverleih besorgt hatte. Er fuhr damit bis in die Nähe der Rose Street, stellte den Buick unter einer Laterne ab, kletterte ins Freie, klappte den Mantelkragen hoch und ging mit raschen zielstrebigen Schritten auf sein Ziel zu.
Die Straßen waren menschenleer. In einigen Häusern brannte noch Licht, aber hinter den meisten Fenstern waren Ruhe und Dunkelheit eingekehrt.
Aus einem Vorgarten löste sich eine dunkle Gestalt. Sie kam direkt auf Sayers zu.
„Hallo“, sagte der Mann.
„Hallo“, sagte Sayers. „Alles okay?“
„Er war gerade bei ihm.“
,;Wer?“
„Dieser Schnüffler. Reiniger.“
„Er fängt an, mich zu nerven.“
„Das können wir abstellen.“
„Wie denn?“
„Überlassen Sie ihn ruhig mir!“
Fred Sayers seufzte. Es klang resignierend.
„Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass ich Gewalt und Blutvergießen hasse?“, fragte er. „Ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt ... ausgenommen die Leute, die es verdienen.“
„Okay. Sie sind der Boss.“
„Was ist mit Reiniger? Wo ist er jetzt?“
„Zurückgefahren ins Hotel, wie ich vermute. Er war allein.“
„Wie lange hat er sich bei Kimball aufgehalten?“
„Knapp eine Viertelstunde.“
„Wie ich sehe, brennt bei dem Herrn Staatsanwalt noch Licht“, sagte Sayers.
„Es ist kurz vor Eins. Vor Zwei kommt er selten ins Bett, wie wir wissen.“
„Ist alles vorbereitet?“
„Genau wie abgesprochen“, versicherte der Mann. „Es war kein Problem, das Schloss der zum Garten führenden Tür zu knacken. Sie können sie nicht verfehlen. Es führen ein paar Stufen zu ihr hoch. Dahinter liegt die Küche.“
Sayers straffte sich.
„Okay“, sagte er und hob das Kinn. „An die Arbeit!“
Er ging an dem Haus vorbei, in dem Kimball wohnte, und bog in die Querstraße ein. Sayers überkletterte den niedrigen Zaun, überquerte eine Rasenfläche, stieg über eine Hecke, und stand dann im Garten von Horace Kimball. Sayers näherte sich der Rückfront des schmalen, alten Reihenhauses und vergewisserte sich, dass die Tür, die die Küche des Hauses mit dem Garten verband, nur angelehnt war. Er schob sie zurück und betrat den dunklen Raum.
Er blieb stehen. Er hörte Musik. Sie kam aus dem Wohnzimmer.
Corelli.
Sayers legte den Kopf zur Seite und lauschte mit geschlossenen Augen. Er liebte Barockmusik, deshalb störte es ihn, dass ein Mann wie Horace Kimball die gleiche Neigung hatte.
Sayers gab sich einen Ruck. Er tastete sich zur Tür, öffnete sie, betrat die Diele und stoppte, als die Musik abbrach. Ein kurzes, trockenes Husten wurde laut. Ihm war anzuhören, dass es von einem älteren Mann erzeugt wurde.
Sayers streckte die Hand aus. Er bewegte sich behutsam vorwärts. Seine ausgestreckten Finger berührten glatte Tapete. Sie tasteten darüber hinweg und erreichten einen Türrahmen, dann die Klinke der dazugehörigen Tür. Er drückte sie herab.
Er blinzelte wie geblendet, als er die Tür mit einem Ruck öffnete und von dem hellen Licht getroffen wurde, das den Raum erhellte.
Horace Kimball saß in einem ledernen Ohrensessel. Von dem pensionierten Staatsanwalt war nur der obere Teil des Schädels zu sehen. Ein paar schüttere Haarsträhnen, die quer über die glänzende Kopfhaut gekämmt waren.
Kimball saß im exakt vorgeschriebenen Abstand vor den Lautsprechern der Stereoanlage, deren automatischer Plattenspieler sich in diesem Moment anschickte, ein weiteres Musikstück abzutasten.
Fred Sayers ging an Kimball vorbei und betätigte die Stoptaste des Plattenspielers, dann wandte er sich um.
Horace Kimball saß wie erstarrt, mit großen, ungewöhnlich hellen Augen, die unter buschigen, grauen Brauen lagen. Sein Gesicht wirkte wie gegerbt. Die Haut war trocken und faltig. Horace Kimball sah älter aus, als er war, dennoch machte er keinen hinfälligen oder gar kranken Eindruck. Im Gegenteil. Er wirkte vital, aber auch beherrscht. Er bot das Bild eines Mannes, der mit sich in Frieden lebt und gelernt hat, jede Situation zu meistern.
„Wer, zum Teufel, sind Sie?“, fragte er. Seine Hände umspannten die Armlehnen des Sessels. Die Knöchel traten weiß und spitz hervor.
„Ich bin Ihr Henker, Kimball“, sagte Fred Sayers und ließ sich in einen Sessel fallen. „Ich nehme an, Bount Reiniger hat Sie von meiner Mission unterrichtet.“
„Er hat mir gesagt, dass zwischen dem Tod von Derek Dark und Leo Conroy offenbar Zusammenhänge bestehen, und dass es zweckmäßig für mich sei, darüber nachzudenken, wie ich einem ähnlichen Schicksal entgehen könnte, aber ich war nicht bereit, mir diesen Unsinn anzuhören. Ich glaube einfach nicht, dass es Menschen gibt, die so etwas zu tun vermögen.“
„Sehen Sie mich an!“, sagte Fred Sayers mit kalter, leiser Stimme. „Ich bin gekommen, um Ihre Zweifel zu beseitigen.“
„Sie sehen aus wie ein vernünftiger Mann“, meinte Kimball, der keine Furcht zeigte. „Mit vernünftigen Leuten kann man reden. Lassen Sie sich von mir sagen, dass es dumm und ungehörig ist, in fremder Leute Wohnungen einzudringen und sie auf diese Weise zu erschrecken ...“
„Ich will Sie nicht erschrecken, Kimball, ich bin gekommen, um Sie zu töten“, sagte Sayers.
„Ich bin ein alter Mann. Ich habe keinen Grund den Tod zu fürchten.“
„Respekt“, sagte Sayers spöttisch. „Sie beweisen Haltung. Bis jetzt jedenfalls. Ich bin neugierig, was geschehen wird, wenn wir Ihnen den Kopf scheren und Sie auf dem Stuhl festschnallen.“
„Das können Sie mit mir nicht machen“, murmelte Kimball.
Sayers zeigte seine festen, weißen Zähne.
„Wollen Sie mich daran hindern?“
„Sie selbst werden dafür sorgen, dass dieses makabere Spiel sofort abgebrochen wird.“
„Was, wenn ich fragen darf, sollte mich wohl bewegen, Ihrer Aufforderung Folge zu leisten?“
„Der Verstand. Der letzte Funken Menschlichkeit, der auch in Ihnen vorhanden sein muss. Mord ist kein Instrument zur Befriedigung persönlicher Rachegelüste. Wenn Ihr Hass erst einmal verpufft ist, wird Sie die Reue quälen ... aber dann ist es unter Umständen zu spät dafür.“
„Zu spät für Reue? Offen gestanden mache ich mir darüber keine Gedanken.“
„Wer sind Sie überhaupt?“
„Ich habe einmal in dieser Stadt gelebt. Als Junge. Ich hatte keine Eltern, aber einen Menschen, dem es gelang, sie mir zu ersetzen. Dieser Mensch wurde von Leuten Ihres Schlages getötet. Ich bin zurückgekommen, um sein Ende zu rächen.“
„Sie sprechen von Gilbert Osborne, nehme ich an. Er war ein Mörder.“
„Nein, das war er nicht ... und Sie wissen es!“
„Der Prozess ist formaljuristisch unanfechtbar verlaufen“, sagte Kimball.
„Sie müssen gewusst haben, dass Conroy von dem alten Craig geschmiert wurde und mit seiner Falschaussage das Todesurteil sicherte“, sagte Sayers.
„Wenn es so war, wie Sie sagen, wüsste ich gern, woher ich damals Kenntnis von der Lage erhalten haben sollte“, meinte Kimball mit mildem Spott.
„Sie kannten Craig. Sie kannten Conroy. Sie kannten sogar Gilbert Osborne. Sie wären ein verdammt schlechter Menschenkenner gewesen, wenn Sie das grausame Spiel nicht durchschaut hätten“, sagte Sayers.
„Die sogenannte Menschenkenntnis pflegt auf emotionalen Werten zu basieren“, meinte Kimball geringschätzig. „Für einen Juristen sind diese Dinge ohne Bedeutung.“
„Sie haben es mit zu verantworten, dass ein Unschuldiger auf dem elektrischen Stuhl endete.“
„Es war meine Pflicht, die vorliegenden Beweise zu würdigen“, meinte Horace Kimball. „Das habe ich getan. Nach ihrem eingehenden Studium war ich gezwungen, die Todesstrafe zu beantragen.“
„Ihnen kann nicht entgangen sein, dass in dem Prozess mit gezinkten Karten gespielt wurde.“
„Trifft es zu, dass Sie Martin Cervanto töteten?“
„Ja.“
„Was ist mit Leo?“
„Er war dazu bestimmt, das Schicksal des Henkers zu teilen, aber sein Herz machte nicht mit. Es versagte, als ich ihn aus dem Haus zu holen versuchte.“
„Demnach sind Sie ein Doppelmörder.“
„War Cervanto ein Mörder?“
„Nein.“
„Er hat Menschen getötet.“
„Er hat es im Auftrag des Gesetzgebers getan.“
„Lassen Sie uns keine juristischen Spitzfindigkeiten austauschen“, sagte Sayers. „Cervanto hat getötet und wurde am Ende selbst getötet. So ergeht es jetzt Ihnen.“ Sayers erhob sich mit einem Ruck. „Kommen Sie!“, sagte er scharf.
Kimball blickte aus hellen Augen zu dem Mann hoch, der entschlossen war, ihn zu töten.
„Ich weigere mich, Sie zu begleiten“, sagte er.
„Ich kann Sie zwingen.“
„Wie denn?“, höhnte Kimball.
Sayers trat auf Kimball zu. Der hob trotzig das Kinn, aber in seinen Augen zeichnete sich plötzlich ein neuer Ausdruck ab. Es war beginnende Angst. Sayers lächelte. Sein Lächeln war kalt und drohend.
„Ganz einfach“, sagte er. „Ich wende Gewalt an.“
Im nächsten Moment schlug er zu.
Der Kopf des Alten flog zurück. Kimball sah entsetzt, wie Blut seine weiße Hemdbrust rötete. Er schluckte, er wollte etwas sagen, aber der Schmerz, der ihn quälte, und die Bedrohung, der er sich ausgesetzt sah, waren zu viel für ihn. Sie zerstörten seinen Stolz und seine Haltung, sie reduzierten sein Selbstbewusstsein nahezu auf Null.
„Das war nur eine Kostprobe“, sagte Sayers.
Das Telefon klingelte. Kimball zog mit zitternder Hand ein weißes Tuch aus seiner Hosentasche und stoppte damit die Blutung seiner Nase.
„Wer kann das sein?“, fragte Sayers stirnrunzelnd.
„Ich weiß es nicht.“
„Erhalten Sie oft Anrufe um diese Zeit?“
„Nicht sehr oft, aber hin und wieder passiert es schon“, sagte Kimball mit schwacher Stimme. „Die Leute wissen, dass ich ein Nachtmensch bin und dass es mir nichts ausmacht, zu später Stunde gestört zu werden.“
„Wie ich sehe, haben Sie einen Telefonlautsprecher“, sagte Sayers. „Nehmen Sie das Gespräch entgegen! Stellen Sie den Lautsprecher an und tun Sie so, als sei alles in schönster Ordnung! Wenn Sie versuchen sollten, den Anrufer zu warnen, wird das Ihre Lage nur erschweren.“
Kimball nickte. Er erhob sich und strebte mit wackligen Beinen auf das Telefon zu, nahm den Hörer ab und sagte mit belegt klingender Stimme: „Kimball.“
„Craig“, tönte es aus dem Lautsprecher. „Sind Sie allein, Kimball?“
Kimball machte eine kurze Pause, dann erwiderte er: „Ja. Warum fragen Sie?“
„Ich muss Sie sprechen, Sir.“
„Das tun Sie doch“, meinte Kimball und ließ sich in den Sessel fallen, der neben dem Telefon stand. Er blickte dabei Sayers an. Dessen Gesicht zeigte keinen Ausdruck, es wirkte völlig leer, aber es war eine Leere, die dem Mann am Telefon Angst machte.
„Ich nehme an, Sie haben inzwischen erfahren, was los ist. Es hat Conroy erwischt. Vorher ist der Henker abserviert worden. Jetzt soll es uns an den Kragen gehen.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“
„Sie wissen es. Ich wette, dass Sie es wissen. Wie haben Sie nur mit diesem Wissen leben können, als sei nichts geschehen, Mann?“
„Ich verstehe nicht recht, was Sie damit auszudrücken versuchen“, meinte Kimball.
„Ja, haben Sie denn gar kein Gewissen?“
„Oh doch“, sagte Kimball. „Es hilft mir, hoffe ich, stets die richtigen Entscheidungen zu treffen.“
„Damals, als es Osborne an den Kragen ging, muss es geschlafen haben.“
„Sie reden Unsinn, Hank!“
„Ich habe Cynthia getötet. Ich ganz allein. Das haben Sie gewusst!“, stieß Craig hervor.
„Sie sind verrückt, Hank.“
„Vielleicht bin ich es. Ein Wunder wäre es nicht. Fünfundzwanzig Jahre musste ich mit dem Wissen leben, dass ein anderer für den Mord, den ich begangen habe, sein Leben lassen musste. Bis zu dieser Stunde habe ich mit keinem Menschen über das gesprochen, was mich quälte und bewegte. Jetzt tue ich es. Ich muss mir Luft verschaffen. Ich muss herausfinden, wie andere mit dieser Belastung fertig geworden sind. Zum Beispiel Sie. Mein Vater hat damals mit Ihnen gesprochen. Ich weiß nicht, was er Ihnen gesagt und was er Ihnen gezahlt hat, aber ich bin sicher, dass dieser Besuch bei Ihnen dazu beitrug, Gilbert Osbornes Schicksal zu besiegeln.“
„Sie sollten einen Psychiater aufsuchen, Hank“, sagte Kimball. Seine Stimme hörte sich an, als käme sie aus einem alten Trichtergrammophon.
„Ich hab’s zweimal versucht, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, mit der Wahrheit herauszurücken. Ich tue es jetzt. Ich muss das Gefühl haben, nicht allein an Gilberts Tod die Schuld zu tragen. Ich brauche Verbündete. Ich kann das nicht länger allein mit mir abmachen ...“ Ein Schluchzen erstickte seine Worte.
Kimballs Gesicht sah lederner aus als zuvor. In den hellen Augen wogten graue Nebel.
„Was erwarten Sie von mir?“, fragte er.
„Sagen Sie mir, dass ich nicht allein die Schuld trage. Vielleicht finde ich dann die Kraft, zusammen mit Ihnen und den anderen einen Weg zu beschreiten, der mir Erlösung bringt.“
„Haben Sie getrunken?“
„Was hat das damit zu tun?“
„Haben Sie getrunken, ja oder nein?“
„Ja, zum Teufel! Glauben Sie, ich hätte im nüchternen Zustand den Mut, mich Ihnen in dieser Weise zu offenbaren?“, schrie Craig.
„Beruhigen Sie sich, Hank! Schlafen Sie erst einmal aus! Morgen früh werden Sie sich fragen, wie es dazu kommen konnte, dass Sie mir so törichte Dinge sagten.“
Es klickte in der Leitung. Der Teilnehmer hatte aufgehängt.
Horace Kimball legte den Hörer so behutsam auf die Gabel zurück, als sei sie aus Glas. Unter seiner ledernen Gesichtshaut war er aschfahl.
„Wunderbar getimt“, sagte Sayers langsam und kaum hörbar. „Wenn es noch einen Zweifel an der Richtigkeit meiner Erkenntnisse und meines Handelns gegeben haben sollte, so ist er jetzt beseitigt.“ Kimball schwieg. Er starrte ins Leere. „Was wollte der alte Craig damals von Ihnen?“, fragte Sayers.
„Nichts Besonderes. Er hat mir gegenüber lediglich beteuert, dass sein Sohn unschuldig sei.“
„Warum hat er das gesagt? Hank saß nicht auf der Anklagebank“, meinte Sayers.
„Es gab damals Gerüchte in der Stadt. Sie waren Craig zu Ohren gekommen und machten ihm Sorge.“
„Gerüchte welcher Art?“
„Es hieß, dass Hank das Mädchen umgebracht habe, und dass Hanks Vater mit Geld und schmutzigen Tricks versuche, den Sohn zu retten und dem unschuldigen Gilbert Osborne die Schuld in die Schuhe zu schieben.“
„Wie reagierten Sie darauf?“
„Ich habe vergessen, was ich ihm sagte. Es spielte für mich keine Rolle, was er dachte und was die anderen vermuteten. Für mich zählten nur die Fakten.“
„Fakten? Sie haben sich von falschen Zeugenaussagen aufs Kreuz legen lassen!“
„Irren ist menschlich.“
„Dieser Irrtum hat Gilbert Osborne das Leben gekostet. Dafür werden Sie jetzt zahlen“, sagte Sayers und ging auf Kimball zu. Der hob abwehrend beide Hände.
„Nicht schlagen, bitte!“, wimmerte er.
„Stehen Sie auf! Ziehen Sie sich an, los!“, sagte Sayers. Er blickte auf seine Uhr. Er befand sich noch innerhalb des Zeitplanes, aber es wurde Zeit, dass er mit seinem Gefangenen das Haus verließ.
Sayers folgte Kimball ins Schlafzimmer und sah zu, wie der Alte erst in seine Schuhe und dann in eine schäbige, karierte Sportjacke schlüpfte.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, sagte Kimball.
„Welchen denn?“
„Ich packe aus. Ich sorge dafür, dass Hank bestraft und Ihr Freund Osborne rehabilitiert wird.“ „Großartig!“, höhnte Kimball. „Ist das Ihre Auffassung irdischer Gerechtigkeit? Das Ganze würde Sie zum Helden machen! Der Mann, der seinen eigenen Strafantrag revidiert und jene zur Verantwortung zieht, die ihn mit falschen Informationen und Aussagen fütterten. Horace Kimball, der gestrenge Staatsanwalt, wird allen ein leuchtendes Vorbild der Wahrhaftigkeit sein, ein Mann, der. den Mut gefunden hat, einen Fehler zu korrigieren, den er einmal machte.“
„Warum sagen Sie das so sarkastisch, so höhnisch?“, fragte Kimball. „Ich meine es ernst.“
„Das kann ich mir denken. Es ist nun mal schöner, wie ein Held zu leben, als wie einer zu sterben. Nur bin ich nicht bereit, Ihnen diese Chance zu geben. Die haben Sie verwirkt. Craig mag ein Mörder sein, aber er hatte immerhin den Mut, sich zu seinem Verbrechen zu bekennen, während Sie sich hinter Ihren Paragraphen verschanzen und so tun, als hätten Sie seinerzeit nichts anders getan, als dem Recht zu dienen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie haben es mit Füßen getreten, weil der alte Craig es so wollte.“
„Das werden Sie niemals beweisen können.“
Sayers grinste müde.
„Ich will es gar nicht beweisen, Kimball“, sagte er. „Mir genügt es, dich für den bloßen Tatbestand ins Jenseits zu schicken. Los, gehen wir!“