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Arbeitnehmer-Wohnheim, Kulmer Straße 37. So belanglos die Adresse und so belanglos auch der braune Kasten von außen erscheint, Flugloch für Flugloch mit einem winzigen Balkon, einem Brettchen quasi für den Aufschwung in die Luft, die Weite, die Freiheit, für Orpheus ist das wohldurchdachte Bienenhaus mit all seiner Funktionalität voller Aufregungen. Schon wenn er sich am Spätnachmittag rathaussatt dem Bau nähert, den Schlüsselbund in der Hand, meint er es knistern zu hören wie unter der Überlandleitung: Apartment für Apartment von dem einen Wunsch beseelt, besetzt, besessen, nicht allein zu bleiben.

Aber wie das anstellen? Wie? Diese Wohnheime, auf die Berlin so stolz ist, eine der effektivsten Maßnahmen zur Überwindung der Nachteile der politisch bedingten Insellage, wie man im Rathaus zu sagen pflegt, sie haben keinerlei Gemeinschaftseinrichtungen. An so was haben die Erbauer nicht gedacht, hadert der Neuzugang mit Unbekannt. Ein Partyraum, ein Schwimmbad, eine Sauna, eine Hausbücherei oder wenigstens ein Fernsehsalon? Nein, nichts, nicht einmal ein Tischtenniskeller. Kein Buon Retiro, nein, Einzelhaft als Prinzip. Ja, eiskalte Berechnung. Isolationsfolter. Um den baldigen Umzug in eine richtige Wohnung zu erzwingen. Damit das Apartment wieder frei wird für den nächsten neuangeworbenen Arbeitnehmer, den nächsten Neuberliner. Nur neu, neu, neu darfst du hier sein, niemals mit deiner Umwelt vertraut, nicht eingelebt, nicht beruhigt, nicht zufriedengestellt, nein. Bloß zwischengelagert.

An dem Spätnachmittag, als er sein Apartment betritt, fühlt er sich wie auf links gedreht. Keine Tentakeln mehr nach außen, keine Antennen, keiner seiner sieben Sinne aktiv. Alles nach innen gestülpt, wo er nichts damit anfangen kann, wo ihm alles nur zum Dorn im Fleisch wird. Reiß dich zusammen, Orpheus! Und schon kann er auch das positiv sehen: Ich genieße nicht nur die Promptheit meiner Geschmacksnerven, die Feinheit meines Tastsinnes, den Gehorsam meines Penis, meiner Zwerchfellkontraktionen, – ich genieße viel mehr: meine Stimmungen und anderer Leute Stimmungen dazu, ich genieße sie als künstlerische Niederschläge, und ich genieße meine Hirnfunktionen. Wie zuverlässig sie sich einstellen. Aber: Einen, der so vielseitig ist im Genießen, nicht genießen zu lassen, sondern zum Arbeiten zu zwingen, das ist Mißbrauch der Natur, ist ein Verbrechen wider die Menschlichkeit, ist, ist, ist, und das auch noch und das Allerschlimmste ist, daß es das auch noch potenziert ist. – Ausgerechnet das. Aufhören, Aufhören!

Sich ganz schnell ablenken. Da das Buch. Ha, Bücher! Im Apartment zu wohnen, das ist wie Jahrzehnte zurückversetzt, versteht er plötzlich. All die Bücher, die sich im Laufe der Zeit angesammelt und wie Staub abgesetzt haben, sind plötzlich nicht mehr da. Oder: noch nicht da. Es fängt wieder mit einzelnen Büchern an. Nur anders als damals. Denn jetzt sind sie nicht mehr Stück für Stück tage- und wochenlang mein Lebensinhalt. Jetzt steht nur da, was mitgekommen ist: das vierundzwanzigbändige Lexikon und ein paar Zufallsbegleiter. Einige Bücher liegen noch so auf dem Sideboard, wie ich sie vor Wochen abgelegt habe. Ich bin in Amt und Würden, ich lebe nicht mehr mit Büchern, sie umgeben mich nur noch als stumme Beobachter, sind nur noch wortlose Vorwürfe. Und auch das mußt du positiv sehen, Orpheus. Hast du dich doch nur ein wenig von deinem Autoren-Schreibtisch entfernt – und damit auch von deinen Lesern –, um mal wieder ein paar tiefe Züge von dem permanent kreisenden Joint Normalleben zu inhalieren. Versuchte Nähe sozusagen. Einfach lebensnotwendig. Und: Turnt ganz schön an, auf einmal wer zu sein, ganz förmlich mit Titel angeredet zu werden und ein Direktorgehalt zu beziehen. Ich muß aufpassen, daß ich nicht süchtig werde. Oder auch nicht. Ist doch eh nichts für mich, dieses Rathausdasein. Ist denn etwa in meinem Sinne, was hier geschieht? Was ich als kleines Rädchen im Getriebe mit in Bewegung bringe, wenn ich mich auch soweit wie eben möglich auf eine unauffällige Zuschauerposition zurückziehe. Aber mitgegangen ist das auch. Und eines Tages wird es wohl heißen: mitgefangen, mitgehangen. Nicht echt, nicht mit Strick, nein. Nur weil ich selbst ein Opfer der Verhältnisse bin, die wir nicht verbessert haben. Kann ich da überhaupt mitmachen? Wenn mich einer fragen würde, wie ich dazu komme, hier in dieser Funktion tätig zu werden, ich als Schriftsteller, – aber es fragt mich das ja niemand. Das ist das Schlimmste: Dieses Tätigwerden hier ist das fraglos Richtige. Eine gut dotierte Position im öffentlichen Dienst. Was will man noch mehr. Und wenn doch einer käme und fragen würde? Dann würde ich ihm sagen: Das ist für mich wie ein Ausgehen, um Tinte zu holen, frische Tinte, ein großes Glas voll. Tinte, die wieder zügig fließt. Weil zuletzt das Schreiben mit dem Rest in der Flasche, schon eingedickt, so wurde, daß es kaum noch zu lesen war.

Die Ohren übervoll davon und bemüht zu halten, was nicht zu halten ist, notiert Orpheus in sein Tagebuch: Das Beste an der Metropole ist die Musik, die man hier hören kann. Ohne jedes Suchen, nur das Radio angemacht, und schon hat man das, was einem gerade gefehlt hat: Jazz oder Klavierkonzert oder große Opernarie. Der Troubadour, was sich jetzt gerade mit meiner Tinte mischt. Was für eine Verbindung. Doch haben sie etwas gemeinsam, sind sie beide doch nur Lückenbüßer. Ja, das ist des Pudels Kern: Die Lücken lassen wir aufklaffen durch unser Türenzu. Deshalb haben wir auch selbst dafür zu büßen. Seit wir das Wort Kommunikation als Moderouge auf den Lippen tragen, ist die Vereinsamung unübersehbar. Als der Anti-Begriff. Und als deprimierende Praxis: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe ... und das bei mehr als hundert so und anders Ausgerüsteten in diesem Einzelqualghetto. Jeder und jede quält jede und jeden und sich selbst – allein durch das Da-sein unter demselben Dach und hinter einer Tür, die alle anderen aussperrt.

Entrüstet Euch! Das sprühen sie auf die Hauswände. Ja, verdammt noch mal, wenn ich dann auf der Straße Frauen und Mädchen so ungerührt daran vorübergehen sehe, geschickt aufgemacht, wenn solche Fehlstücke direkt auf mich zu kommen und wenn dann eine aufblendet mit einem Blick, daß mir die Luft wegbleibt, weil sich das Zwerchfell zusammenkrampft und ich es fühle, irritiert merke, wie sich ein Teil von mir selbständig macht, wenn ich plötzlich weiß, daß die Natur mich dazu verurteilt hat, so zu reagieren auf das Runde, das Weiche, weil diese ignorante Natur einzig das Interesse an der Arterhaltung kennt, nicht Haltung und nicht Überlegenheit und nicht Kultiviertheit und Amt und Würden und und und, ja, dann möchte ich mich verdammt noch mal entrüsten. Nur, – wem gegenüber?

Schon der nächste Abend läßt den Wohnheimkoloss in ganz anderem Licht erscheinen. Orpheus lernt den Wert einer Gemeinschaftseinrichtung kennen, an die er bisher nicht gedacht hat: die Briefkastenanlage im Foyer. Hockt da doch eine junge Mitbewohnerin des Hauses vor der Front der Blechkästen und bemüht sich, mit der Hand durch einen Briefschlitz zu greifen.

„Können Sie mir vielleicht mal helfen“, spricht sie ihn an, „mein Briefkastenschlüssel ist hier drin.“ Aus der Untersperspektive. Bei dem Busen und der Bluse ein unüberhörbarer Appell. Sie lacht verlegen. So richtig süß dumm, denkt Orpheus – aus der Oberperspektive –, und dabei so blond und so jung und so prall.

„Um den Briefkasten zu öffnen, wirft man den Schlüssel nicht in den Schlitz, sondern steckt ihn dahin, wohin er gehört, nämlich in das Schlüsselloch.“ Das hat er den Rathausleuten schon abgelauscht: In der Unterhaltung niemals einfach sachlich antworten; alles immer irgendwie witzig überhöhen, damit wirkt man überlegen – und ist quasi entschuldigt für seine profane Alltagsarbeit.

Sie sieht ihn mit einem Blick an, der heißt: verstanden, alles verstanden. Dabei hat er soviel gar nicht sagen wollen.

Sie habe am Morgen ihren Schlüsselbund in den Briefkasten geworfen, weil er ihr lästig war, dabei aber nicht daran gedacht, daß der Briefkastenschlüssel mit dran ist, erklärt sie ihm ihr Problem. So bemühen sie sich abwechselnd und dennoch vergebens, den dicken Schlüsselbund herauszufingern. Der hilfsbereite Orpheus hat sich schon die Hand blutig geschrammt, als er endlich den Einfall hat, sein langes Brotmesser zu holen. „Ich bin gleich zurück.“ Als er dann mit dem Brotmesser und einem Pflaster auf dem Handrücken zurückkommt, steht ein junger Mann im Jogginganzug bei der Blonden – Pralline hatte er sie für sich genannt – und ihr Briefkasten offen. Der Jogger habe ihn einfach aufgerissen, erfährt Orpheus. Und der Bursche weiß ihn auch mit einem kräftigen Fußtritt wieder in die alte Form zu bringen.

„Ja, mit Gewalt“, verteidigt Orpheus sich, als die beiden ihn schon stehenlassen und im Aufzug verschwinden. Und wo bleibe ich? Wenigstens mir den Namen der Pralline merken: ein E als Vorname. Was immer das heißen mag. Edith, Elisabeth? Nein, dafür ist sie zu jung. Erika? Dafür erst recht. E.?

So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale

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