Читать книгу So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale - Walter Laufenberg - Страница 12
8.
ОглавлениеDie erste große Aufgabe, die Dr. Hecht seinem neuen Mitarbeiter überträgt, erscheint dem so schmeichelhaft wie schwierig. Als Nichtberliner sei er genau der richtige Mann, wird ihm Motivation serviert. Er solle eine Broschüre zusammenstellen über die vielfältigen Leistungen, die Berlin – natürlich Berlin (West) – für die Bundesrepublik Deutschland erbringt. Der Hintergrund sei, erklärt Dr. Hecht: „Etwa die Hälfte des Berliner Etats wird auf der Einnahmenseite mit Geldern der Bundesrepublik abgedeckt. Das sieht schlecht aus und führt immer wieder zu hämischen Bemerkungen von Politikern im übrigen Bundesgebiet über diese allmählich unerträglich werdende Last Berlin. Das geht bis zu so unsachlichen Bemerkungen wie, man sollte Berlin doch einfach den Polen überlassen.“
Dem soll nun entgegengehalten werden, wieviel Berlin für den Bund tut. Da geht es selbstverständlich um das hohe Steueraufkommen, das die Berliner Wirtschaft erarbeitet; neben dem Pekuniären wären aber auch andere Werte zu berücksichtigen, etwa die Berliner Mode; da wären die rund achtzig wissenschaftlichen Institute Berlins zu benennen: Forschen für Deutschland; und es müßte auch in die Rechnung aufgenommen werden, daß Berlin die weitaus meisten Studenten hat: Bildungsarbeit für die anderen Bundesländer mit.
Endlich eine richtige Aufgabe, bei der es darauf ankommt, schwierige Sachverhalte so auszudrücken, daß die Leser für Berlin eingenommen werden. Also los! Dr. Orpheus Schmitt geht mit Begeisterung ran, erarbeitet und nimmt auf und Stellung und benennt und bewertet und wägt ab und berücksichtigt auch, gibt zu Bedenken, stellt mit Befriedigung fest und setzt ins richtige Licht, resümiert – und macht daraus den Entwurf einer hübschen Broschüre. Plötzlich ist Berlin nicht mehr das arme Nehmerland, das Häme auf sich zieht, sondern ein tüchtiges Geberland, auf das man stolz sein kann. Hoch klingt das Lied vom braven Berlin. Alles mit Zahlen belegt, hieb- und stichfest. Damit wären die Kritiker erledigt, kann er sich sagen. Es geht halt immer nur um die Darstellung. Orpheus ist mit Recht stolz auf sein Werk. Doch leider kommt diese Wunderwaffe nie zum Einsatz. Das Opus wird nicht gedruckt. Die Spitze des Hauses, so hört Orpheus, habe Bedenken, ob eine so positive Darstellung der Leistungskraft Berlins, selbst wenn sie noch so richtig ist, nicht dazu führen könnte, daß die Bundeshilfe gekürzt wird.
Nun ja, das sei so was wie höhere Gewalt; sie ändere nichts an der Leistung, die er erbracht habe, redet Dr. Hecht ihm gut zu. Von solchen Rückschlägen dürfe er sich nicht beeindruckt zeigen, sich nur nicht zu schnell mundtot machen lassen. Werde ich auch nicht, nimmt Orpheus sich fest vor. Und nimmt das Nein zu seiner Berlin-Broschüre schweigend hin und schreibt in sein Tagebuch: Berlin prahlt damit, die größte Industriestadt zwischen Moskau und Paris zu sein, vergleicht sich in der Kunst mit New York und serviert seinen Gästen Schnitzel Wiener Art. Das kommt immer gut an. Berlin ist halt eine Weltstadt. Berlin ist aber auch eine Art Troja, in dem der schnelle Hektor nur noch ein Hund ist, die unkende Cassandra ein Raubdruck. Die schöne Helena ist zur Birne Hélène veredelt und Paris, der Genießer, zum Pariser. Die Belagerer aber, draußen vor der Mauer, werden unter ihrem König Agamemnon, einer mittleren Konfektionsgröße, je mehr Dekaden ins Land ziehen, um so deutlicher sichtbar zu Nachbarn, die zornig an ihrer Achillesferse massieren und ihr trojanisches Pferd verzweifelt mit Bayer-Basileum behandeln – gegen Holzwurmfraß.
Schon sehr bald beginnt Dr. Schmitt mit Doppeltee, Eigeninitiative zu entfalten, wie man das in seiner neuen Umgebung nennt, was man von ihm erwartet. Er bietet dafür ja die denkbar beste Voraussetzung: Seine Begeisterung für Berlin ist echt. So findet er bei seinen Bemühungen, die Stadt als großartig, einmalig und unvergleichlich herauszustellen, schnell die richtigen Argumente. Richtiger gesagt: die aufregendsten. Aufregung erregt er zum Beispiel mit seiner Anregung, Berlin als frühe Seemacht zu feiern. Darauf haben ihn eine U-Bahn-Station und eine Dampferfahrt auf dem Wannsee gebracht. Hat doch der Große Kurfürst schon vor gut dreihundert Jahren nach seinem Sieg über die Schweden bei Fehrbellin seinen langgehegten Plan verwirklicht und eine Kriegsflotte gebaut. Orpheus liest es mit Staunen und Hochachtung: Die kurbrandenburgische Kriegsmarine war ein Ruhmesblatt für die Stadt, deren Stern- und Kreisschiffahrt nun nur noch sehr begrenzt hin und her fahren kann, weil die größten Gewässer und dazu alle Schleusen in DDR-Hand sind. Aus diesem Ruhmesblatt müssen wir was machen. Man darf sich nicht einfach ausruhen auf seinem Ruhm.
Wieder diese Enttäuschung. Der Senatssprecher, also der Chef seines Chefs Dr. Hecht, hat abgewinkt. Abgewunken hat Dr. Hecht zwar gesagt, aber Orpheus hat verstanden, was er meinte. „Aber warum nicht einmal ein Marinestück? Berlin ist doch eine Insel.“ Dr. Hecht ohne jedes Verständnis: „Eben deshalb.“ Erst nach längerem Bohren erfährt Orpheus, warum seine Idee nicht gefallen hat: „Eine Kriegsmarine paßt nicht ins Bild des heutigen Berlin, nachdem wir mit Mühe und Not die schimmernde Wehr von Kaiser Wilhelm Zwo und den U-Boot-Krieg des Dritten Reiches aus der Erinnerung verdrängt haben.“
Dr. Schmitt muß bei aller Enttäuschung doch das überlegene Geschichtsbewußtsein bewundern, das hinter solcher Strategiestrenge steht, und denkt neu los. Natürlich reizt es ihn nun, sich gerade auf diesem Gebiet der Berlin-Historie auszuzeichnen. So schlägt er vor, das dreihundertjährige Jubiläum eines Ereignissen zu feiern, das zu Unrecht in Vergessenheit geraten sei: 1683 wurde Groß-Friedrichsburg gegründet, im Auftrag Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, und zwar an der afrikanischen Westküste, im heutigen Guinea. Groß-Friedrichsburg – die erste Partnerstadt Berlins.
Eine feste Burg, wie sie im Buche steht, begeistert sich Orpheus für diese erste deutsche Gründung auf afrikanischem Boden. Er findet alte Abbildungen der imponierenden Fortifikationen, mit denen sie umgürtet war. Und Kopien der Verträge mit mehreren Negerhäuptlingen, die der neugegründeten Brandenburgisch-Afrikanischen Handelsgesellschaft Gebiet und Handelsmonopol überließen. Welch eine historische Dimension für Berlin, das immer als zu neu, zu unhistorisch und gleichzeitig als – in der Neuzeit – historisch zu belastet abgetan wird.
Doch der Senatssprecher Dr. Vener winkt abermals ab. Diesmal notiert er allerdings gleich eine Begründung für sein Nein auf Dr. Schmitts Vermerk, den er ihm zurückschickt: Berlin als solches hat keine Partnerstädte, die haben nur die einzelnen Bezirke. Der hier infragekommende Bezirk wäre aber das alte Cölln, und das liegt in Ostberlin, ist also von uns nicht zu bewerben.
Gar nicht so einfach, Berlin etwas Gutes zu tun, muß Orpheus einsehen. Völlig verwirrt aber ist er dann, als ein paar Tage später sein Abteilungsleiter ihn – „ganz im Vertrauen“ – darüber aufklärt, daß es große Aufregung wegen seines Vorschlags Groß-Friedrichsburg gegeben habe. Dr. Vener habe ihn gefragt, ob dieser Schmitt völlig durchgedreht sei oder ob er vielleicht von der Opposition geschmiert werde.
„Aber wieso denn?“
„Na, weil Ihr Vorschlag einfach unmöglich war.“
„Nichts ist unmöglich. Man kann in der Öffentlichkeitsarbeit auch mit den kleinsten und ältesten Klamotten noch ein Feuerwerk veranstalten, wenn man es nur geschickt anfängt“, verteidigt Orpheus sich, indem er Dr. Hechts Sprechweise übernimmt, „denn Darstellung ist nun mal alles.“
„Mit Ihrem Feuerwerk hätten wir uns ganz schön die Finger verbrannt. Dr. Vener hat getobt. ,Hat der Kerl denn noch nie was von Kolonialismus gehört?‘, hat er gebrüllt. , Will der uns in offene Messer laufen lassen?‘“
„Aber wer wird denn so dogmatisch sein“, wundert Orpheus sich.
„Dogmatisch, dogmatisch, der Senatssprecher hat sich bei einem befreundeten Historiker erkundigt und sich darüber aufklären lassen müssen, daß diese famose Brandenburgisch-Afrikanische Handelsgesellschaft, deren Stützpunkt Groß-Friedrichsburg war, unter anderem einen schwunghaften Sklavenhandel betrieben hat.“
„Ja, mein Gott, ist der Große Kurfürst nun der Große Kurfürst oder nicht? Und hat die renommierte Ostindienkompanie der Briten nicht auch am Sklavenhandel verdient?“
Was Dr. Hecht, aller Redefreude zum Trotz, mit einem feinen Lächeln quittiert. Gegenüber den Großen dieser Welt, das habe er in seinem langen Beamtenleben gelernt, erklärt er kurz und klar, habe jegliche Kritik zu unterbleiben, gleich ob die Großen leben oder längst tot sind.
Daß der Senatssprecher, ein Jurist, gleichzeitig die oberste Instanz – nach dem Regierenden Bürgermeister – in allen Fragen der Berlin-Werbung ist, stört Orpheus ein wenig. Damit hat er nicht gerechnet. Er hat geglaubt, mit ganzer Kraft für die Stadt Berlin arbeiten zu können, der Berlin-Panegyriker quasi Schulter an Schulter mit dem Regierenden Bürgermeister, der ebenfalls nur für Berlin denkt, lebt und arbeitet. Das kommt ihm plötzlich etwas naiv vor. Für die Regierenden sind ihre eigenen Interessen und die Interessen der Regierten identisch – beide Seiten im permanenten Überlebenskampf –, muß er einsehen, folgerichtig geht es immer nur um das Interesse der Regierung.
Schmitt sammelt Herrschaftswissen eigener Art. Das bringt ihn zwar nicht weiter, läßt ihn aber erste zarte Schichten von Hornhaut ansetzen. Richtiges Herrschaftswissen wird bald nachgeliefert. Denn Dr. Hecht hält es endlich für opportun, seinem neuen Mitarbeiter ein paar Hintergründe der Werbearbeit für Berlin zu erläutern. So erfährt er von den drei Werbegurus aus Westdeutschland, die man angeheuert habe, für viele zigtausend Mark, damit sie in einigen Arbeitsgesprächen in Berlin eine Werbestrategie für Dr. von Dinkelacker entwickelten. „Der Stein der Weisen, den sie natürlich gefunden haben, heißt Subsidiarität. Weil kein Geld übrig ist, um überall Verbesserungen einzuführen, wo sie notwendig wären, hat unser Regierender als seine große Idee das Subsidiaritätsprinzip propagiert. Das klingt sehr gut, dabei heißt es auf eine kurze Formel gebracht: wir von der Regierung lassen Euch Privatleuten den Vortritt, wo immer Not am Mann ist. Das ist unsere Bescheidenheit, das ist unsere Achtung vor der Privatinitiative. Wer sich also von uns anregen läßt, Gutes zu tun, oder von sich aus Gutes tut, kann sicher sein, daß wir es ihm danken. So sparen wir Geld, das wir dann dazu benutzen können, über diese Privatinitiativen bundesweit in Anzeigenserien zu berichten, die für unser Berlin einnehmen. So einfach ist das. Jetzt wissen Sie also, wo es lang geht.“
Jede Gelegenheit wahrnehmen, mit der U-Bahn zu fahren. Das hat er sich vorgenommen. Denn nirgendwo sind Nasenbeobachtungen so unauffällig und massenhaft möglich wie in der U-Bahn. Immer wieder aufregend, wie sie sich einem aufgereiht präsentieren, ein halbes Dutzend Nasen nebeneinander, optimal beleuchtet. Und alle stehen so brav und unberührt in ihren Gesichtern, als hätten sie überhaupt nichts zu tun mit den Händen, die auf den Knien oder im Schoß liegen, stricken oder Zeitungen halten. So was Scheinheiliges wie U-Bahn-Nasen gibt es nirgendwo sonst, egal ob fettglänzend oder mattgepudert, roterregt oder makeupgesoßt. Sie stehen in den Gesichtern, als wären sie so vom Himmel gefallen und ihnen aufgeklebt worden. Wie sie da oben gerade vorhanden waren, die kuriosesten Formen, jede einzelne mit der Entschuldigung auf der Nasenspitze: für die Willkür der Natur kann ja keiner.
Doch der Kenner der Materie weiß: jeder ist seiner Nase Schmied. Dr. Schmitt machen die Nasen nichts vor. Ihm ist klar: das Gesicht, beherrscht von der Nase, wird zu Unrecht als der Spiegel des Charakters bezeichnet. Es ist eher der Pegel zur Bestimmung des Zeitpunkts, an dem einer sich selbst erkannt hat. Wenn man die Form der Nase nicht gleich als den Intelligenzmesser an sich bezeichnen will. Johann Caspar Lavater – daß ich nicht lache. Sein Gerede macht es uns bis heute unmöglich, ein Gesicht zu deuten. Eine Denkerstirn, so sagt man für frühen Haarausfall, eine gewaltige Eselskinnbacke ist für uns immer noch ein energisches Kinn, wer zu lange am Daumen gelutscht und sich dabei einen Überbiß ins Gesicht manipuliert hat, dessen dicke Schnauze scheint uns ein Sinnbild der Sinnlichkeit zu sein. Die Nase als Widerlager des Gehirns, ach, Lavater, laß doch den Quatsch. Die besondere Form der Nase sollte auf Gemüt oder Härte, auf Kunstsinn oder Angestrengtheit, auf Geschlechtsreinheit oder Fleiß schließen lassen. Auf Fleiß, ja, das stimmt. In der U-Bahn muß man sie nur lang genug beobachten, dann kommt plötzlich die typische Handbewegung, die alles erklärt. Wenn auch nur ansatzweise, scheu, sich schnell selbst unterbrechend. Natürlich sind solche Beobachtungen am besten bei Großstädtern anzustellen, weil die mehr Dreck zu beseitigen haben als andere. Aus der eigenen Nase, nicht vor der eigenen Tür. So schaffen Großstädter in zehn Jahren abenteuerliche Nasengebilde, für die man andernorts zwanzig Jahre brauchen würde. Die Nase verrät schamlos, was heimlich mit ihr geschieht, aus Nervosität, aus bloßer Ungeschicklichkeit oder aus Reinlichkeitsbedürfnis. Ja, auch Sauberkeit, so kompromißlos jedermann dafür einsteht, hat offensichtlich ihren Preis. Besonders gut zu sehen bei Schauspielern und Sängern und Fotomodellen.
Was für eine zentrale Bedeutung der Nase zukommt, Dr. Schmitt versucht längst nicht mehr, es jemandem klarzumachen. Soll jeder selbst dahinterkommen. Warum wohl hat der Volksmund sich so in die Nase verbissen? Das muß einem doch zu denken geben. Da trägt einer die Nase zu hoch, da kann der eine des anderen Nase nicht leiden, will sich aber nicht an die eigene Nase fassen. Einer hat eine Nase für etwas, geht immer der Nase nach, und das tut er sogar alle naslang. Ein anderer wird genasführt oder kriegt einen Nasenstüber, fällt auf die Nase, wenn er die Nase in fremde Angelegenheiten steckt, zu naseweise ist oder sich auch nur den Wind um die Nase wehen lassen wollte. Man hat die Nase voll und rümpft die Nase, läßt sich nicht auf der Nase herumtanzen, nicht alles auf die Nase binden oder vor der Nase wegschnappen, unter die Nase reiben. Dr. Schmitt könnte stundenlang von der Nase erzählen. Davon, daß sie der einzige Teil des Körpers ist, den wir selbst gestaltet haben. Daß in ihr deshalb unser eigentliches Ich steckt: meine Nase bin ich. Daß die Nase das Zeichen des freien Menschen, Symbol der Autarkie, ist. Und daß die Araber, die bekanntlich alles schon wieder zu vergessen anfingen, als wir Westeuropäer gerade erst darangingen, etwas zu erkennen, daß diese altgescheiten Araber für unser deutsches Wort Leute sagen: Nas.