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2.

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Ein Kapitol im Kopf, so ein amerikanisch-süßes Plastikwunder von Kapitol im Kopf, mit Monstersäulen, griechisch-putzigem Architraph und hoher Petersdomkuppel, in der schönsten Kodacolorsonne glänzend. Wie sich das für einen Regierungssitz gehört. Um dann, aus dem überfüllten Frühbus gequetscht, das da vor sich zu sehen: Ein Grautier, störrisch-steif, den kantigen Kopf hochgereckt, im Regen, Regen, Regen. An einem Aprilmorgen, so triefäugig, daß er sogar noch alles Grau zum Glänzen bringt. Laß alle Hoffnung fahren und nichts wie hinein, sagt er sich, hinein ins Rathaus Schöneberg, den provisorischen Regierungssitz der freien Stadt Berlin (West).

Da sieht er vor sich ein Schild mit der Aufschrift: Bitte Hausausweis vorzeigen!, kaum daß er durch die schwer aufzuwuchtende Bronzetür ist. Eine breite Treppe, und oben auf dem Treppenabsatz vor ihrer Portiersloge stehen sie. Schon wieder Uniformierte, diesmal in grau. Sie stoppen ihn mit dröhnendstummen Hoheitsblicken. Er sagt: „Guten Morgen“, stellt sich vor mit: „Mein Name ist Schmitt, Doktor Orpheus Schmitt mit Doppeltee“ und erklärt auch gleich: „Ich bin der neue Referatsleiter in der Senatskanzlei.“

„Ihr Hausausweis!“

„Habe ich noch nicht, werde ich mich aber sofort drum kümmern. Ich muß nur erst einmal mein Büro gefunden haben.“

„Da kann ja jeda kommen“, berlinert es ihn so wenig subaltern an, daß er prompt einen ersten Anfall von Unernsthaftigkeit am falschen Ort kriegt und lacht, lacht, während er das letzte amtliche Schreiben mit der Angabe seines Dienstbeginns rauskramt und überreicht. Lacht, bis die Grauen endlich mitlachen und ihn durchlassen: „Bitte, Herr Doktor.“

Jetzt weiß ich also, wofür ich mich dazu durchgerungen habe, den freien Autor und Gelegenheitstexter aus- und den Bürokraten anzuziehen, meine heimische Klause gegen das hier, den Sitz der Landesregierung und des Parlaments von Berlin, einzutauschen: Nicht nur wegen Beate, nicht weil sie mich dazu gezwungen hat, nein, auch um denen hier zu zeigen, denen allen, bei den untersten Rängen der Machtelite angefangen, daß ich nicht „jeda“ bin. Wenn mir auch die Werbeaufträge ausgegangen sind – die wirtschaftliche Rezession halt – und ich all meine Ersparnisse aufgebraucht habe und meine Schriftstellerei noch so gut wie nichts einbringt, „jeda“ bin ich deshalb doch nicht.

Aber wie hat der eine Graue zuletzt gesagt? „Bitte, Herr Doktor.“ Eigentlich auch ganz schön, plötzlich wer zu sein, wo alle was sind, so förmlich mit Titel angeredet zu werden, macht er sich Mut, als er die Treppe zur Beletage hinaufsteigt. Und ein Direktorgehalt zu beziehen. Ich werde aufpassen müssen, daß ich hier nicht hängenbleibe. Aber, aber, – erst mal an die Arbeit!

Mit Arbeiten wird es zunächst noch nichts. Wie soll man sich über seine Aufgabe hermachen, wenn man so neu ist und nicht weiß, was läuft, wenn man in einem nur halb eingerichteten Büro sitzt und überhaupt noch keine richtige Aufgabe bekommen hat, sondern nur Akten, Broschüren, Bücher: Material zum Sich-Einlesen, wie es heißt. Er solle zunächst einmal in Ruhe gelassen werden. Also dasitzen und lesen, fremd unter Fremden. Viele Hände habe ich schon schütteln müssen; aber noch weiß ich nicht, wem ich vertrauen kann, wem ich sympathisch bin, wem nicht, erst recht nicht, wem ich im Weg bin, wer sich auf mich einschießen will; noch tun sie alle sehr freundlich.

Die ihm zugesagte Sekretärin gibt es noch nicht. Was gar nicht so schlecht sei, weil ohnehin kein Büro für sie frei sei, heißt es. „Das regelt sich“, tröstet ihn Dr. Hecht, sein Abteilungsleiter, mit vielen, viel zu vielen perfekt formulierten Sätzen, die in der Feststellung enden: „Das sind die typischen Anlaufschwierigkeiten in der Verwaltung. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Gut Ding will Weile haben, eine gute Verwaltung erst recht. Vorerst ist meine zweite Sekretärin, Frau Gram, als Schreibkraft auch für Sie zuständig. Hiermit beschlossen und verkündet. Im übrigen: Soviel haben Sie ja am Anfang nicht zu schreiben.“

„Nun gut“, Kann er dazu nur sagen. Und schon nimmt er sich vor, sich mit Arbeiten zurückzuhalten. Dieser Dr. Hecht ist nicht zurückhaltend, bemerkt er schnell. Er erweist sich als ein Berliner nach Schnittmuster. Er läßt es nie mit kurzen Erklärungen bewenden. Sprechen ist offenbar seine Leidenschaft. Er frönt ihr mit bewundernswerter Eloquenz. Dabei hat er nicht nur die schnodder-witzigen Redewendungen drauf, die man in Berlin an jeder Haltestelle, in jedem Laden und erst recht in der Kneipe zu hören kriegt, all dieses Vorgefertigte. Er kann sogar selbst Wortspiele machen, und das aus dem Stand heraus. Bei ihm gilt: Alles fließt. Fast könnte man sagen: In seinem Redefluß fühlt sich der Hecht am wohlsten. Na also: Was der kann, kann ich schon lange.

Wie ertappt, greift er sich an die Nase. Was ihn daran erinnert, daß er eine schönere Nase hat als dieser Dr. Hecht. Der muß ein Daumenbohrer sein, und zwar mit beiden Daumen. Überhaupt kein Falz mehr an den Nasenflügeln. Ein glattes Pultdach rechts und eins links, eine Doppelpultnase also. Tief ausgebohrt und so breitgezogen, daß die Spitze wie ein zu klein gewordenes Hütchen darauf sitzt. Unübersehbares Zeichen so mancher erfolgreich hochgebrachten Tiefbohrung. Eine echte Denkernase.

Die Augen offenzuhalten, das hatte er sich vorgenommen. Alles zu sehen, jedenfalls immer etwas mehr zu sehen als andere. Und nun ist sein erstes Mehropfer dieser Dr. Hecht. Für ihn der erste Berliner im Nahkontakt. Ich mag ihn, muß er sich zugeben. Und er mag mich offensichtlich auch. Hat er es doch gegen seinen direkten Vorgesetzten, den Senats Sprecher durchgesetzt, mich als seinen Mitarbeiter zu bekommen. Daß er mir das verraten hat – auch eine geschickte Methode, sich einen Menschen zu kaufen, und das mit Haut und Haar, wie er sagen würde. Da gab es an die hundert Konkurrenten, und etliche davon hatten den unschätzbaren Vorzug, Parteimitglieder zu sein. Und das sogar bei der richtigen Partei, nämlich bei den Christlichen. In der Leitung des Hauses gab es einige Leute, die meinten, das mache geringere Qualifikation mehr als wett. Doch der Regierende Bürgermeister von Berlin, Dr. Richard von Dinkelacker, fand, daß es gut zu seinem Bild von Überlegenheit passen würde, sich einen Mann für die Berlin-Werbung auszusuchen, der keiner Partei angehört.

„Aber Sie sind Parteimitglied?“ hat Orpheus Schmitt seinen Abteilungsleiter gleich in diesem ersten Gespräch gefragt.

„Ja, ich bin Sozialdemokrat.“

„Also in der falschen Partei.“

„Das kann man so nicht sagen“, wurde Dr. Hecht grundsätzlich. „Die Sozialdemokratische Partei kann niemals die falsche Partei sein, es kann nur gerade mal die falsche Partei am Ruder sein. Wie im Moment. Ich habe mich entschlossen, in diese Partei einzutreten, als Willy Brandt mit seiner Ostpolitik in ganz neue deutschlandpolitische Dimensionen vorstieß. Das hat mich so begeistert, da konnte ich nicht länger abseitsstehen.“

„Es war ja auch nicht daran zu denken, daß den Sozialdemokraten, die hier in Berlin die Herrschaft quasi gepachtet hatten, das Ruder mal aus der Hand fallen könnte“, hakte Schmitt nach.

„Was für mich kein Gesichtspunkt war.“

So einfach hatte Orpheus es ihm nicht machen wollen. Gerade am Anfang nicht. Deshalb schnell ein paar wohlgestellte Sätze über die Parteien als solche nachgereicht. Daß die großen Volksparteien die stolze Errungenschaft der Moderne, die Demokratie, gründlich verwässert hätten, indem sie aus der Wahl eine Entscheidung zwischen „Zum Wohle“ und „Wohl bekomm’s“ gemacht hätten. Damit hätten sie erreicht, daß die Bevölkerung in zwei Teile auseinandergerissen wurde und daß etwa der Hälfte der Wählerschaft der Wein nicht schmeckt, nur weil er mit, „Zum Wohle“ statt mit „Wohl bekomm’s“ kredenzt wird beziehungsweise mit „Wohl bekomm’s“ statt mit „Zum Wohle“. Es sei ja kaum noch möglich, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, weil es nur noch diese charakterlosen, gepanschten Mischweine gebe.

„Zurück zu Ihnen, Herr Schmitt. – Wieso haben Sie einen so komischen Vornamen? Orpheus – was haben Ihre Eltern sich nur dabei gedacht?“

„Nun ja, die haben sich einen Namen ausgedacht, der garantiert in kein Parteibuch passen würde.“

„Schön gesagt. Daß Sie keiner Partei angehören, weiß ich. Aber wieso nun wirklich dieser hypernostalgische Vorname?“

„Mein Vater hatte eine ständige Redensart, und die lautete: Die griechischen Götter, sie leben immer noch unter uns. Deshalb Orpheus. Nun ja. Aber abgekürzt, einfach so O-Punkt, klingt der Name doch ganz unverdächtig, absolut zeitgemäß, oder? Schon fast zu belanglos, meinen Sie nicht auch? Ich habe, muß ich zugeben, den Doktor nur gemacht, um dieser Abkürzung doch ein bißchen was zu geben.“

„Ein akademischer Titel quasi als Kosmetik, das klingt gut, für einen Werbemann der richtige Visitenkartengag. Aber jetzt muß ich das Gespräch leider abbrechen, weil ich zum Senatssprecher muß. Wir haben ja noch so viele Jahre, uns zu unterhalten. Dagegen diese politischen Figuren, das sind ja nur durchreisende Artisten, deren Spiel man bestaunen muß, ein wenig auch mitspielen, solange sie noch da sind.“

Immerhin, er ist was geworden bei den Genossen. Wie sie alle was geworden sind, meine Kollegen rundum, wurde Orpheus Schmitt nach diesem ersten Gespräch schon gefährlich nachdenklich. Die meisten seien wie er eingeschriebene Sozialdemokraten, hat er gesagt. Und denen hat sich von Dinkelacker nun mit einer Handvoll verschworener Unionsleute in den Nacken gesetzt. Mit dieser halben Situationsschilderung alleingelassen, bekommt Orpheus plötzlich so was wie eine Denkkolik: Ich selbst könnte in diesem Haus den ersten oder zumindest den zweiten Rang bekleiden, wenn ich mich gleich nach der Schulzeit oder möglichst sogar noch vor dem Abitur gesellschaftspolitisch engagiert hätte, wie es in den Lebensläufen der Politiker so schön heißt. Wenn ich wie sie Partei ergriffen und Plakate geklebt, einem Mentor Beifall gespendet und die richtigen Freundschaften gepflegt hätte – und mir aus vielem einfach nichts gemacht und statt dessen eine eigene Hausmacht aufgebaut, über allerlei redend, redend, redend und zu allerhand schweigend, schweigend, schweigend. – Hilf Himmel, daß ich auf den Gedanken komme, ich hätte so was werden können, das macht Jahrzehnte eifrigster Bemühung um das Gute-Schöne-Wahre zunichte. Und formuliert schnell und spricht es sich nikolaushaft vor: „Vorsicht Orpheus! Wer allen Karriere-Versuchungen heldenhaft widerstanden hat, der ist dennoch ein Verlierer, wenn er durch die Hintertür das Bedauern hereinläßt.“

So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale

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