Читать книгу So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale - Walter Laufenberg - Страница 9
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ОглавлениеDas Zimmer 1035 im ersten Obergeschoß des Rathauses Schöneberg geht auf einen engen Innenhof hinaus, in dem eine einsame Jungbirke zu leben versucht. Mit dem Bäumchen schließt Orpheus sofort Freundschaft. Ein aufmerksamer Blick und ein freundliches Wort, als vegetative Antwort ein Wedeln der Blättchen: Sie sind sich einig. Dabei hätten sie beide nicht sagen können, wieso. Nüchtern betrachtet ist es so, daß die Birke mit ihrem schüchternen Grün all das wettmachen muß, was Orpheus bedrückt. Vor allem, daß sein Büro so klein ist und nahezu leer. Nur ein Schreibtisch mit defektem Schloß, ein Schreibtischstuhl mit abgewetztem Stoffbezug, ein Schränkchen für Akten und für einen schmalschultrigen Mantel. Das ist das Interieur. Orpheus erfährt, was es heißt, in der Verwaltung der Neue zu sein: Man findet die ältesten Sachen vor, Plunder, der keinen der Kollegen mehr zum klammheimlichen Austauschen reizen konnte, als das Zimmer leerstand.
Dr. Hecht hat gesagt: „Ich hoffe, Sie fühlen sich hier bei uns wohl. Natürlich muß man sich ja überall erst einmal einleben.“ Damit hat er wohl den Kontrast gemeint, in dem das Büroambiente zu der Stellenbeschreibung in der Anzeige stand, auf die hin Orpheus sich beworben hatte. Auch mit den hoch- und höherstapelnden Ansprüchen, die ihm im Vorstellungsgespräch präsentiert wurden, hat diese Arbeitsplatzgestaltung so gar nichts zu tun. Nur gut, daß ich die Typen dieser Beschnupperrunde nicht geschont habe. Meine Faustformel hat sie geschockt, exakt im richtigen Moment gebracht: „Genau genommen, meine Herren, entscheiden Sie hier ja nicht über mich, sondern über sich selbst.“
Unsicherheit in den einheitlich glatten Funktionärsgesichtern und die Frage: „Wieso das?“
„Nun, es gibt eine gesicherte Erkenntnis der Betriebssoziologie, die da sagt: Erstklassige Leute stellen erstklassige Leute ein, zweitklassige Leute stellen drittklassige ein. – Mit Ihrer Entscheidung über mich werden Sie zeigen, ob Sie erstklassig sind oder nicht.“
Das war der Fangschuß. Mit meiner ehrlichen Neugier auf Berlin, mit meinen Erfahrungen in der Öffentlichkeitsarbeit und mit etlichen nur angedeuteten Ideen gab ich den Herren den Rest: Da war ich eingestellt. Daß das so glatt läuft, hätte ich nicht gedacht. Wenn ich noch daran denke, wie ich das Bewerbungsschreiben getextet habe. Mit diesem Hinweis: „Ich spreche hundert Sprachen, alle in bestem Deutsch“. Daran entscheidet sich, ob ich dort richtig bin oder nicht, hatte ich mir gesagt. Wenn sie das goutieren, dann mach ich den Job, wenn nicht, dann bleibe ich besser raus aus dem Stall.
Und jetzt? – Jetzt komme ich überhaupt nicht mehr aus dem Staunen heraus: Was für den, der in der zweiten Reihe parkt, der laufende Motor ist, das ist für den Büroflüchtling die brennende Schreibtischlampe. Das Signal: Ich bin gleich zurück. Ob man Mittag macht oder zu privaten Besorgungen unterwegs ist, die Lampe sagt ihr Immer-Dienstbereit. Und scheint die Sonne noch so schön, die Lampe hält mit. Als Platzhalterin sogar viel zuverlässiger als die Sonne, tröstet sie den, der hereinkommt und mit seinem Wunsch nicht ankommt, und besänftigt den Vorgesetzten, der suchend herumläuft – während natürlich auch an seinem Schreibtisch die Lampe einsame Wache hält.
Dr. Orpheus Schmitt macht Erfahrungen, mit denen er nicht gerechnet hat. Dabei ist er so widerborstig, diese Erfahrungen nicht in eigene Geschicklichkeit umzusetzen. Man möchte sich ja noch von diesen Bürokraten, diesen Apparatschiks absetzen. Plötzlich gefallen ihm solche Begriffe. Nur nicht alles von ihnen übernehmen, nimmt er sich vor. Mich nicht normalisieren lassen. Denn was ich hier so höre: vorehelicher Geschlechtsverkehr ist normal, und erhöhter Blutdruck ist normal und Ehekrach auch. Und ein Beutel Tee pro Tasse ist genauso normal, wie ein Auto pro Familienmitglied normal ist. Die Novembergrippe ist normal und der Weihnachtsbaum auch und der Sommerurlaub sowieso. Und sogar der Glaube an Horoskope ist normal. Nur wer an die baldige Wiedervereinigung Deutschlands glaubt, dem sagen sie: „Du bist nicht ganz normal.“ Klar. Dabei: Wenn wir uns einig wären, daß wir all das, was wir gemeinhin als normal bezeichnen, überhaupt nicht zur Norm erheben wollen, sondern es damit nur als üblich deklarieren, dann könnten wir uns damit beruhigen, daß das Übliche eigentlich gar nicht so übel ist. – Daß ich mich immer so verfranse, wenn ich nachdenklich werde.
Was man unter Anpassungsdruck zu verstehen hat, wird ihm vorgeführt, als er bei einer der gemütlichen Büroplaudereien die Kneipe „Dicke Wirtin“ am Savignyplatz erwähnt. Die kennt keiner der Kollegen. „Eine ausgesprochen urige Pinte. Da trifft man die kuriosesten Typen. Als ich gestern abend an der Theke mit einer Frau ins Gespräch kam, die sich betont emanzisch gab, habe ich sie schließlich nach ihrem Beruf gefragt. Da kriegte ich zunächst einmal zu hören, daß man danach in der Kneipe nicht gern gefragt werde. Sie sagte dann aber doch mit unüberhörbarem Stolz, sie sei Journalistin. Und auf Nachfrage kam sie endlich damit heraus: Sie arbeitet für die Die Wahrheit. Wie gut, daß ich ihr nicht gesagt hatte, wofür ich arbeite, ich hatte mich einfach nur als Büromensch ausgegeben.“
Den letzten Satz hat er schon für sich selbst gesagt. Weil seine Gesprächspartner sich abrupt einem anderen Thema zugewandt haben, von ihm abgerückt, als hätte er die Krätze. Eine Reporterin des kommunistischen Hetzblattes Die Wahrheit – pfui, Spinne, so der allgemeine Kommentar in Körpersprache. Was Orpheus zu denken gibt. Nun ja, daß das Blättchen hier im Westen erscheint, aber von drüben finanziert wird, das weiß man. Aber man empfindet es offensichtlich nicht als einen Vorteil, daß es deswegen in einer so rücksichtslosen Weise berichten kann, wie sie kein Westberliner Zeitungsverleger seinen Redakteuren erlauben könnte. Gerade das Lokale, müssen die ja immer wieder gezügelt werden, gerade das Lokale ist die empfindliche Seite einer Zeitung. Weil man mit peinlichen Hintergrundstories aus dem städtischen Leben die wichtigsten Anzeigenkunden verprellt. Orpheus liest in den nächsten Tagen besonders aufmerksam Die Wahrheit. Und sieht: Da wird über die Westberliner Verhältnisse in einer Art berichtet, die ganz eindeutig auf nichts und niemand Rücksicht nimmt. Da werden einzelne Fälle von Grundstücksspekulation schonungslos aufgedeckt, da wird ohne jede Verschleierung über die miserablen Ausbildungsverhältnisse in einem Großunternehmen berichtet. Alles so fremd klingend für den Zeitungsleser aus Westdeutschland, wo alles so schön rücksichtsvoll, so hintertürig, so publicrelationshaft gebracht wurde, wo immer der ängstlich auf die Kontoauszüge schielende Verleger durchschimmerte, und der haareraufende Anzeigenleiter, wo alles dreimal gewendet, viermal gefiltert und fünfmal verwässert werden mußte, ehe es serviert werden konnte, mit ein wenig Sex angereichert und mit Pop, damit der fade Geschmack nicht aufstößt. All diese Hindernisse fehlen hier, stellt er fest. Das ist die Wahrheit hinter der Wahrheit, so degoutant wie diese selbst. Ob auch alles wahr ist, was so schonungslos gebracht wird, ist natürlich eine andere Frage.
Muß ich mein Leben ändern?, überlegt Orpheus. Muß ich sogar schon meine Kneipen meinem neuen Status entsprechend wählen? Nein, da mache ich nicht mit. Aber: Vielleicht sollte ich wenigstens nicht immer alles wahrheitsgemäß erzählen, was ich erlebe. Alles ein wenig weniger wahr, immer ein bißchen vorgetäuschte Gleichheit, das wäre besser. Dieses Mitmachen, das fängt doch schon mit der Krawatte an, die im Rathaus Schöneberg unumgänglich ist, als büromännliches Devotheitssignal. Dabei: In Wahrheit ist das ein Halstuch, das Männer trugen, die sich draußen herumtrieben, ein Schutz in Wind und Wetter. Ach, laß das, Orpheus. – Und er läßt es, läßt die Selbstzerfleischung. Dennoch wird ihm ganz schnell klar, was das war, diese ominöse künstlerische Freiheit: Dies und das und jenes – und das Unkrawattiertsein und das Knoblauchessendürfen mitten in der Woche.
Mit seinem Abteilungsleiter in dessen Privatwagen – der Mitfahrer bringt für ihn drei Pfennige mehr pro Kilometer an Spesen – unterwegs zum Abschiedsempfang einer Verlagsrepräsentantin. Zeitschriften und Zeitungen, versteht sich, nicht Bücher, korrigiert Dr. Hecht Orpheus’ abwegige Vorstellung. Und auch wieso eine solche Verlagsrepräsentantin eine wichtige Figur sei, erklärt er ihm: Meinungsmultiplikatorin. Daß Orpheus über den Widersinn des Wortes Abschiedsempfang stolpert, ist Dr. Hecht unverständlich. Enttäuschend. Sie sei auch eine gute Tennisspielerin, informiert er seinen neuen Mitarbeiter. Er selbst habe leider viel zu wenig Zeit fürs Tennisspielen. Sein Mitarbeiter gibt den Ball zurück, das gehe ihm genauso mit dem Lesen. Zum Lesen, gibt der Abteilungsleiter freimütig zu, komme er schon lange überhaupt nicht mehr. Und erzählt von dem letzten Buch, das er gelesen habe, vor zwei Jahren im Urlaub: Der Mann ohne Eigenschaften. Orpheus verschont ihn mit der naheliegenden Frage, wieso gerade dieses Buch – nein, nein, er scheint immerhin einer von den nettesten im Rathaus Schöneberg zu sein–, er überführt ihn auch nicht der Lüge, weil er sein Buch, das bei den Bewerbungsunterlagen war, angeblich so gut gefunden hatte.
„Ganz lesen, also mehr als anpicken, querlesen, durchblättern kann man den Musil in einem einzigen Urlaub jedenfalls nicht“, konstatiert er kühl, „doch finde ich das gar nicht schlimm. Im Gegenteil. Das müßige Herumspielen mit einem Buch, das Naschen von Zufallssätzen und das ziellose Weiterblättern, das Hängenbleiben an einzelnen Begriffen, das ist auch eine Art, ein Buch zu nutzen, wenn man schon nicht die Ruhe hat, es ganz zu lesen. Die Stärke eines Buches zeigt sich nicht zuletzt darin, ob seine einzelnen Ausdrücke einen nachdenklich machen können, ob sie einen weiterführen können, hin zu eigenen Erkenntnissen. Ich habe, als ich anfing zu schreiben, gedacht, es müßte möglich sein, einen Text so dicht, so stringent zu machen, daß der Leser zwangsläufig das denken muß, was ich ihm eintrichtern will. Davon bin ich schnell abgekommen. Liest doch jeder Leser aus jedem Text was anderes heraus, je nach Gemütsverfassung, Bildung und aktueller Beschäftigung. Der Wortemacher ist nur ein Anreger zum Selberbau von Bewußtsein. Die unmöglichsten Gedankenverbindungen haben mir meine Leser gedankt. In Gesprächen, in Briefen. Eine einzige Peinlichkeit. Jetzt weiß ich, der Romanautor ist ein Buchmacher, der nicht mehr, aber auch nicht weniger bietet als die Chance zum Glücklichsein.“
„Bei uns zuhause ist meine Frau fürs Lesen zuständig“, gibt Dr. Hecht zu. Und muß sich dann sagen lassen: „Das höre ich immer wieder. Viel zu oft. Man kann wohl sagen, daß bei uns die Männer in den Jahren zwischen Uniabschluß und Pensionierung als Lose mit dem Aufdruck ,Kein Gewinn‘ für die Gesellschaft ausfallen.“ Worüber Dr. Hecht herzhaft lachen kann: „Sie haben einen köstlichen Humor.“ Daß Unterhaltungen hier anders ablaufen, daran muß ich mich erst noch gewöhnen, sagt Orpheus sich.
Der sogenannte Abschiedsempfang im Hotel Intercontinental, im rundum verglasten obersten Geschoß, läßt ihn ein Gefühl der Einsamkeit empfinden. Ist er doch offensichtlich der einzige von den rund siebzig Anwesenden, der nicht hofiert wird. Wohl weil ich selber nicht mitmache beim Rundum-Hofieren, sagt er sich. All diese gebleckten Gebisse, diese Verbeugungen. Beuge dich, Werwolf: Weswolf, Wemwolf, Wenwolf ... Und doch genießt er es, einer von denen zu sein, die von den adretten Weiße-Blusen-Mädchen, diesen wortlos lächelnd umherschwebenden Elfen so untertänig bedient werden. Und erst das Essen. Die Bezeichnungen der Köstlichkeiten auf der gedruckten Karte, die vor jedem Gedeck steht, in Habachtstellung, wie es sich in dieser Gesellschaft empfiehlt, diese Bezeichnungen im feinsten frankophonen Deutsch lassen prompt die pawlowschen Säfte fließen, daß er schlucken, schlucken, schlucken muß. Nach einiger Zeit kommt auch etwas auf den Teller.
Schon ein paar Tage später muß Orpheus sein Urteil über die illiteraten Männer revidieren. Im FAZ-Magazin liest er ein Kurzinterview mit dem Senatssprecher Dr. Vener. Was er in der Freizeit am liebsten tue? Sich mit Literatur beschäftigen. Ach, – sich mit Literatur zu beschäftigen, das hat immer noch einen hohen Renommierwert? Als seine Lieblingsautoren hat der Sprecher Fontane und Simenon angegeben. Typisch. Nicht nur Wohnungseinrichtungen sieht man an, in welchem Jahr die Leute soweit waren – und dann aufgehört haben, sich drum zu kümmern.
Und wieweit sind meine Kollegen heute? – Die Köpfe vollgestopft mit Zeitungspapier und Zeitschriftenbildchen, Informationsgeflüster auf den Lippen, in den Ohren radio- und fernsehwispernde Geräusche, der Blick verwischt von Herrschaftswissen, so rutschen sie schneckengleich ihre Bahn, eine Schleimspur hinter sich lassend. Ihre Instant-Geistigkeit führt sie in schöne neue Welten. Dr. O. Schmitt mit Doppeltee leidet neuerdings an gelegentlichen Anfällen von Unduldsamkeit. Er weiß das selbst, findet es unschön und bemüht sich redlich um ein menschenfreundlicheres Urteil über seine Mitmenschen. Doch meist vergeblich.
Habe ich etwa erwartet, daß sie sich anhören wollen, was ich ihnen zu sagen habe? Nur, weil ich es so schön sagen kann? Im Gegenteil, sie erwarten, daß ich mir anhöre und daß ich lese, was sie nicht ausdrücken können. Hilf Himmel, eine Sprache rundum, als hätten die Schreibmaschinen die Macht an sich gerissen. Gigantische Bla-Bla-Blasen, die nicht verstanden werden wollen, sondern hinterhorcht, von listerfahrenen Insidern interpretiert. Man sollte ihnen die Zeitungen und Zeitschriften und Informationsdienste entreißen, all die Mitteilungen, Protokolle, Dienstanweisungen, Rundschreiben und Vermerke, alle Konzepte, Akten und Unterlagen, auch noch das letzte Anschreiben und Schriftstück und Paper und Aidemémoire, selbst die geheimen Dossiers und die kleinste Aktennotiz. Klaubt ihnen jeden Vorgang aus dem Eingang, weg mit all dem Gerülpse, das sie ernstnehmen, und ihr werdet sehen: Nach drei Tagen krabbeln sie auf allen vieren herum und brabbeln freundlich vor sich hin. Dann ihnen Max und Moritz vorlesen, und sie hätten eine Chance, wieder Menschen zu werden.