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Der dritte Oktober 1

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In der Nacht hatte es gestürmt. Der erste Herbstzyklon ging über die Stadt. Die Bäume des Bellevueparkes hatten geheult wie pommerscher Wald (fand Renate Zylvercamp). Am Morgen war es hellgrau, seefarben. Vom Altan aus sah man zum erstenmal die Umrisse von ein paar Dächern jenseits des Großen Sterns. Viele Blätter mußten gefallen sein.

Zylvercamp erschien nicht zum Frühstück. Er schlief lange in den Morgen hinein. Renate hatte vorsichtig in sein Schlafzimmer hineingelugt und gesehen, daß er wirklich fest schlief, die Hände wie gewöhnlich zu Fäusten geballt und neben den Kopf gelegt, als müsse er das Schicksal drohend verscheuchen, das sich über ihn herstürzen wollte.

Renate wußte, daß es ein schlechtes Zeichen war, wenn er lange schlief. Er wünschte dann, nicht am Leben teilzunehmen. Er hatte die große Fähigkeit, sich einen langen Schlaf zu erzwingen. Er hatte sogar die Selbstüberredungsgabe, die ihn Tag für Tag müder werden ließ. Einmal, damals, als Frank, ihr Junge, so krank war, hatte er einfach sechsunddreißig Stunden durchgeschlafen, bis die Krise zu Ende war. Sie hatte das immer „großartig“ gefunden. Heute zum ersten Male war sie ein wenig böse auf seine Fähigkeit, einfach aus der Welt, aus dem Leben auszusteigen und die anderen sich abzappeln zu lassen.

Renate kam jetzt gegen elf Uhr aus dem Hause in der Brückenallee. Es war nun schon wieder sonnig. Drüben im Park hatte der Sturm so viel hellgelbe Blätter hinuntergeblasen, daß es aussah, als wäre Sonne gefallen. Es erinnerte übrigens an Schnee, der bald fallen würde Machte also nicht froh.

Renate stieg in ihren kleinen hellblauen Wagen, den sie das Himmelsschiffchen genannt hatte. Sie fuhr ziellos die Charlottenburger Chaussee hinunter bis zur Siegesallee und bog dann scharf hinüber zur Tiergartenstraße.

Sie stand ein paar Minuten später atemlos, eine hellgelbe Eintrittskarte in der Hand (wieder diese Herbstblätter!), in der Zylvercamp-Ausstellung der Galerie Bigel.

Sie war ganz allein in der Ausstellung. Natürlich. Wer sollte um elf Uhr an einem herrlichen Herbsttag eine Ausstellung ansehen. Es waren drei Räume. Ganz hinten im letzten Raum, durch alle drei Türen sichtbar, hing das Löwenmaulbild. Es gehörte immer noch Bigel und war unverkäuflich. Er hängte es als Wertmesser, als Maßstab in alle Ausstellungen hinein. Zylvercamp sollte selbst vergleichen, ob er mit sich mitkam, ob er weiterkam oder zurückblieb. Bigel hatte das Bild in seinem Testament Renate Zylvercamp zugesprochen, weil sie nächst diesem Bild am besten bezeugen könne, was mit Zylvercamp eigentlich sei.

Renate ging durch die Säle und maß an dem Löwenmaulbild die anderen. Es waren weit bessere Bilder seitdem entstanden. Zum Beispiel die Lärchen aus dem Fextal. Zylvercamp hatte die drei einsamen Lärchenbäume aus seinem Garten gemalt. Sie waren wohl dreihundert Jahre alt. Strotzend von Kraft, unverbogen. Voll vom Wiegen der Winde und dem Stöhnen der Stürme. „Die Unnahbaren“ hatte er sie in seiner Titelsucht genannt. Selbst Doktor Altpeter hatte diesen Titel als zu literarisch abgelehnt. Aber Zylvercamp hatte recht, und Doktor Altpeter und die Malerkollegen, die sich ereiferten, hatten unrecht. Das Unnahbare war in den drei Lärchen gestaltet und Hoheit und Frost der Einsamkeit. Ja, so kalt, so durchdringend war diese Einsamkeit, daß Renate schauderte.

Sie spürte, daß der Mensch es nicht aushält, so unnahbar und so einsam zu sein, und daß er doch oft so allein ist wie ein Baum. Sie spürte, daß der Mensch zugrunde gehen muß, der nicht manchmal allein ist, und daß auch der Mensch zugrunde gehen muß, der immer allein ist. Und nun hatte sie den Mut, zu dem Bild hinzugehen, um dessentwillen sie gekommen war, dem Porträt Maria von Nemeschs.

Zylvercamp hatte es im Frühjahr gemalt, als Renate oben im Fextal in ihrem Häuschen saß und eingeschneit war, so daß keine Post durchkam. Und als endlich Post durchkam, war kein Brief dabei, sondern ein Telegramm: „Glücklich bei einem Porträt.“

Man konnte bei diesem Porträt wirklich glücklich werden. Über so viel Lebensfarbe und Leuchten bei aller Zurückhaltung. Über das Zarte, in sich Ruhende der Frau, die da, ihrer Schönheit bewußt, ohne Eitelkeit in die Welt sah.

Zylvercamp hatte — in seinen Hieroglyphen — daruntergeschrieben: Porträt der neuen, Wunschbild der alten Generation, und in den Rahmen hatte er einen seiner Vexiersprüche geritzt:

Wärt ihr nicht alle so leer,

Wolltet ihr nur so voll Fülle sein,

Fiele das Sterben den alten Menschen nicht schwer,

Würde die Welt morgen vollkommen sein.

Renate stand zehn Minuten vor dem Bild. Sie schrieb sich den mühsam entzifferten Spruch in ihr kleines Notizbuch. Sie war gerührt. Sie betrachtete mit einer gespannten und schmerzlichen Aufmerksamkeit das Gesicht Marias, als müßte sich daraus lesen lassen, was sie tun müsse. Sie fand Maria wieder sehr schön und sehr anziehend. Sie erinnerte sich auch gut, daß Zylvercamp immer, wenn Maria bei ihm gewesen war, sich so heiter und so lebendig gab, wie sie ihn im Anfang ihrer Ehe gekannt hatte. Sie war nicht eifersüchtig. Wie hätte sie auf einen so schönen Menschen böse oder neidisch sein dürfen? Aber ein stechender Schmerz der Hilflosigkeit traf ihr Herz und sollte es nie mehr verlassen. Sie spürte es ganz körperlich. Sie tastete nach dem Herzen. „Was soll ich tun?“ flüsterte sie.

In diesem Augenblick legte sich die Hand Bigels auf ihre Schulter. Der Kunsthändler wies lachend auf die Eintrittskarte, die Renate noch in der Hand hielt. Daß wenigstens einer noch die deutsche Kunst und die armen Kunsthändler unterstütze! Daß wenigstens einer noch sich für Zylvercamp interessiere!

„Ein schönes Bild, Bigel“, sagte Renate ernst, „ein wunderschönes Bild!“

Der Kunsthändler nickte. Es gehörte sicherlich zu den besten Zylvercamps. Aber ... nein, er sprach nicht weiter darüber. Renate drängte auch nicht. Sie sahen sich zusammen die schwächeren Bilder an. Das Porträt des Gesandten, in dem ein brutaler Verismus steckte, ein überflüssiger Trotz. Die Gewaltigen der Erde sollten nur nicht denken, daß ein Zylvercamp ihretwegen Fälschungen beging. Darum war das Bild ein wenig ins Unbedeutende und Häßliche verfälscht. Es hingen auch noch ein paar Landschaften da, die sehr effektvoll waren, sehr gekonnt, aber gekrampft und falsch betont.

Die beiden sprachen das ganz sachlich durch. Sie fühlten sich ja verantwortlich für Zylvercamp. Sie hatten ihn durchgesetzt. Sie kannten ihn von allen Menschen der Welt allein in seinen Schwächen und in der Größe, die, wie sie beide fanden, noch immer nicht ganz herausgekommen war.

Bigel begleitete Renate zum Wagen. Sie hatte den Motor schon angelassen und Bigel die Hand zum Abschied gereicht.

„Was meinen Sie, Bigel“, sagte sie da schnell, „sollte ich wohl gehen?“

„Wie meinen Sie das?“ wich Bigel aus. Er verstand sie aber natürlich sehr gut.

„Gehen und Platz machen“, antwortete Renate und nickte in Richtung der Säle, in denen Marias Bild hing.

„Nein, nein“, stotterte Bigel, „und außerdem, wohin wollten Sie denn gehen?“

„Wohin?“ fragte Renate. „Ich weiß es nicht. Darauf kommt es auch nicht an.“

„Unsinn“, sagte Bigel scharf, „Sie sind mindestens so viel wert wie Zylvercamp.“

„Darum dreht es sich nicht, Bigel“, lachte Renate. „Aber vielleicht ist es auch Unsinn. Ich weiß es nicht.“

Damit fuhr sie fort.

Oktober

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