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Das war der Traum gewesen. Zylvercamp aber hatte jetzt ein paar Pastellstifte ergriffen und zeichnete den Nesselgrund. Aber sich selbst zeichnete er nicht. Es war, als könnte er sich in der Traumlandschaft nicht mehr erblicken.

Er wandte sich nun endlich wieder dem Selbstporträt zu und begann verbissen zu arbeiten. Die Augen voll Traum und Tod wollte er jetzt bekommen. Die neugierigen Augen. Die farbgierigen Augen. Waren wieder kleiner und härter und schärfer geworden. Die Haare wurden nun endlich ganz grau. Oder? Nein, hier vorn an den Schläfen brannte noch ein bißchen vom alten Feuer. Aber das andere war ganz überascht. Auch der Mund war kleiner geworden. Zusammengezogen und verbissen wie ein Greisenmund. Die Unterlippe noch immer durstig vorgeschoben. Er war älter geworden ... natürlich. Aber auch bitterer geworden ... leider.

Er malte jetzt mit einem ganz feinen, kleinen Pinsel das Gefältel unter den Augen. Hier links unter dem Auge war eine neue Falte entstanden. Die mußte genau, sorgfältig ins Bild hinein. Wenn man lügen wollte, konnte man Modemaler werden. Ein Mann, der zu altern begann, stand vor dem Spiegel. Und der mußte gemalt werden. Der Nacken war noch ungebeugt. Gewiß. Aber die Zylvercamps blieben alle ungebeugt bis ins hohe Alter. Ungebeugt und schlank war der Großvater neunzig Jahre alt geworden. Aber zwanzig Jahre hatte er doch in einer zunehmenden Dämmerung zugebracht. In einem seltsamen, unverständlichen, halblauten Gespräch mit sich selbst. Oder mit den Schatten, die von ihm Besitz ergriffen hatten. Zylvercamp hatte ihn noch ein Jahr vor seinem Tode gemalt. Der alte Mann vor dem kleinen Altenteilerhaus, stehend, mit Augen ohne Widerschein und Ruhe.

Ohne Widerschein und Ruhe. Das war der Fluch des Alters. Man löschte langsam von innen her aus. Man leuchtete nicht mehr. Man alterte. Aber es hatte keinen Zweck, keinen Sinn, zu altern. Man bekam nichts dafür, daß man alterte. Man rückte nur Schritt für Schritt aus dem Leben hinaus, und zum Schluß fielen alle Verbindungen, und es war aus.

Zylvercamp legte das Handwerkszeug weg. Es hatte keinen Sinn, zu malen, wenn man sich verlöschen fühlte. Wenn man nicht selbst leuchtete, wie sollte das Bild leuchten? Malen mußte aus dem Überfluß kommen. Man durfte nicht arbeiten, wenn man sich trocken, armselig, gestrandet fühlte. Nicht nur im Gegenwärtigen tot, sondern auch in allem Vergangenen erloschen.

Er ging jetzt sehr schnell an den „Giftschrank“, in dem er seine Selbstporträts aufbewahrt hatte. Er holte sie heraus. Vier Stück, dem Alter nach geordnet.

Obenauf lag der schnurrbärtige Zylvercamp, achtundzwanzig Jahre alt. Hochnäsig mehr als hochherzig. Mit kalten Augen. Mit Radiumaugen, hatte er damals gesagt. Sie „sahen dem Menschen auf den Grund“. Sie entschleierten ihn, enthüllten ihn. Das Selbstporträt war glatt und klar gemalt. Sehr begabt. Jener Zylvercamp war in allen Techniken erfahren. Von allem Können geheizt.

Damals hatte er die Große Goldene Medaille bekommen und die Professur in München. Das war ein unglaublicher Erfolg. Schwer zu ertragen für einen, der sich durchgehungert und durchgefroren hatte und nun aufnahmebereit war wie Märzboden.

Er war sehr hochmütig geworden. Malte immer merkwürdiger und seltsamer und hatte — das lag in der Zeit — immer mehr Erfolg. Damals hatte er auch seine erste Frau geheiratet, Grete Zylvercamp. Aus Dankbarkeit, weil sie ihn durch die mageren Jahre begleitet hatte.

Das nächste Bild: ein Schreckensbild. Der Mann von Fünfunddreißig. Ein etwas beleibter, genüßlicher Herr. Als Bild schlichter gemalt. Naiver. Viel begabter. Aber etwas romantisch-verschwommen. Auf der Suche nach Tiefe sich schon tief wähnend. Er war damals gerade nach Berlin berufen worden. Er ließ seine Familie „vorläufig“ in München. Lebte ein Jahr allein. Eine herrliche Zeit. Nicht wegen der Abenteuer (die er allerdings sich auch ersehnt hatte), sondern wirklich wegen des Alleinseins. Er wohnte am Siegmundshof im Atelierhaus. Die Spree floß vor den Fenstern, und durch das Atelier ging ein Strom von Menschen: von Männern und Frauen, von reichen und armen Leuten, von Begabten und Unbegabten, von Begeisterten und Neidischen, von Schülern und Anhängern. „Man kann Menschen reich machen“ ... Das steht als Motto in der Zylvercampschen Hieroglyphenschrift und nur ihm und seinen nächsten Freunden entzifferbar auf den Rahmen geritzt. Eine ungeheure Zufriedenheit mit der Welt, ein großes Glück steckt in dem Bild. Bäurische Sicherheit, städtische Tüchtigkeit, künstlerisches Können, menschliche ... nein, menschlich oder seelisch oder herzlich ist nichts drin.

Porträt Nummer drei: Zylvercamp zweiundvierzig Jahre alt. Gemalt in der Heimat, in Ohrau, vor dem Vaterhaus. Gesicht und Haus gehen fast ineinander über. Von hier kommst du ... hierher gehörst du ... sollte das Bild heißen.

Aber es gelang nicht. Von hier kommst du: das sagt das Bild in der Form, wie Dach und Schädel ineinander übergehen. Aber der Blick, in den nun endlich Seele gekommen ist, Seele, wie meist, geboren aus Prüfung und Not, der Blick fragt: Wohin gehst du, Mensch?

Es war die schlimmste Zeit seines Lebens (bisher!). Der Krieg war gewesen. Zylvercamp hatte ihn drei Jahre lang mitgemacht. Im vierten lag er schwerverwundet in Lazaretten herum, kam nach Hause, quälte seine Frau, quälte sich. Konnte nicht malen. Meinte, in all dem Elend gehöre sich das nicht. Meinte, da er nichts konnte als malen, er sei am Ende seines Lebens. Wozu malen — so schrieb er damals öffentlich — die Menschen blieben, gemalt oder ungemalt, Bestien. Man veränderte die Welt nicht durch noch so gute Bilder. Ja, man veränderte nicht einmal sich selbst durch Malen. Und damals gerade, gerade dies Bild hatte ihn verändert, hatte ihn zu einer gewissen Selbsterkenntnis gebracht. Er hatte sich plötzlich gesehen, in allem, was ihm mitgegeben war. In seiner Bedingtheit, in seiner Begrenztheit. In dem, was nie anders wird. In dem, über das man nie hinauskommt. Und er hatte sich auch plötzlich gesehen in allem, was noch aus ihm werden würde, abgesehen von seiner Herkunft, vom Seelischen aus also. In dem, was immer wächst und wächst. Und keine Grenzen kennt.

Er war damals endgültig von seiner Frau weggegangen. Hatte seine Familie, Frau und zwei Kinder, in München untergebracht. Er sorgte materiell sehr gut für sie. Aber er kümmerte sich wenig um sie. Das kann nicht verschwiegen werden. Er war sehr froh, als die Frau einen anderen Mann heiratete, mit dem sie sich ausgezeichnet verstand und der die Kinder sehr gut erzog. Er fand, er gehörte nicht zu diesen Kindern. Er fand, sie spiegelten beide ganz und gar die mütterliche Familie wider, und sie hatten nichts von ihm und wollten nichts von ihm außer Geld. Und das war ihr gutes Recht, und sie bekamen es.

Manchmal dachte er, es sei böse, so zu fühlen und nach diesem Gefühl zu handeln. Aber nachdem er einmal vier Wochen mit den beiden Kindern verreist gewesen war und mit ihnen gelebt hatte wie mit Menschen von einem anderen Stern, nachdem er gesehen hatte, daß sie in ihrer Welt wenigstens so glücklich waren wie er in seiner, trennte er sich endgültig und für immer von ihnen und sah sie höchstens ein-, zweimal im Jahr oder wenn sie zufällig in Berlin waren.

Er wollte damals vor allem ungestört arbeiten. Er kam plötzlich auf ganz neue Dinge. Farblich, technisch, thematisch.

Er begriff ganz neue Sachen. Er fing zum ersten Male in seinem Leben an, systematisch nachzudenken. Er hatte bis dahin den Aberglauben gehabt, daß Denken dem Künstler, dem Maler, dem Könner schaden müsse. Daß es die ursprüngliche Kraft lähmen oder zerstören könne. Er kannte doch Maler genug, die zu klug waren. Die tüftelten und theoretisierten, die Denksysteme auf die Leinwand brachten. Ergrübelte und erknobelte Probleme statt Gestaltungen. Keine Schauungen. Und nun merkte er: alles, was der vertrocknete Verstand, was der endlich gepflegte und aufgelockerte Geist aufnahm, das kam in den Farben wieder zum Vorschein. Geist malen kann man nicht. Aber vom Geist her über das Auge die Farben leuchtender, durchsichtiger, klarer, einfacher machen ... das kann man. Das hatte er erfahren.

So kam es, daß er nach dieser entsetzlichen Krise — nein, noch mitten drin — ganz neue, ihn selbst überraschende Dinge malte. Bilder, die alle seine Anhänger und Freunde befremdeten, bis auf Bigel, der damals wie immer bei ihm stand und ihm beistand. Bilder, die aber von ganz anderen Menschen, von Menschen, die ihm bisher fremd und aller Malerei fremd gewesen waren, verstanden wurden.

Eine Riesengebirgslandschaft war darunter gewesen. Vom Kamm ins Tal über Fichten weg, sehr kühn und sehr verkürzt gesehen, die Farben auf Sonnenstrahlen in die Tiefe gleitend, ein überraschend heiteres Bild. Ferner das Porträt eines drei Monate alten Kindes — Baby-Porträts, schrieb befremdet die Kritik, zeigen eine gewisse Neigung zum Auflösen aller Form —, in das nichts hineingeheimnißt war, in dem nur das klare, einfache Menschenstaunen, das Widerbild der erstaunlichen Welt, das ursprüngliche Leuchten der menschlichen Existenz Gestalt geworden war. Schließlich war damals der Löwenmaulgarten entstanden, von oben her, vom Menschenaugenstandpunkt aus gesehen, eine derbe Fülle von Farben, aufgetan in der ganzen Vibration des Lichtes.

Unter diesem Löwenmaulbild hatte er Renate getroffen, eine pommersche Landfrau mit dem feinknochigen Gesicht und der zarten Haut der Städterin, mit straffen Haaren, die über der Stirn wie Pferdehaare abgeschnitten waren. Er hatte gesehen, daß sie lange unter dem Bild stand und schließlich überwältigt weinte. Und er hatte sie einfach weggeholt, weggefangen wie ein junges Pferd von der Steppe. Er wußte es genau: damals, als er voll guter Ideen und Einsichten, aber mit geringen Verwirklichungen im schlimmsten Übergang steckte, da er unmutig, lebensunsicher und lebensüberdrüssig war, hatten ihn ihre Freudentränen zum Leben zurückgeholt.

Sie hatten ihn erschüttert wie ein Erdbeben, und es war endlich ans Licht gekommen, was an Lebensfreude, an Klarheit, an Heiterkeit und Klugheit in ihm gesteckt hatte.

Da kam die große Zylvercamp-Zeit, aus der das Porträt Nummer vier stammte. Es war um den fünfzigsten Geburtstag herum gemalt. Selbst die beginnende Glatze leuchtet auf diesem Bild. Die Augen, ein wenig malerhaft zusammengekniffen, funkeln vor Farblust, vor Lebensfreude. Welch ein Gefühl, auf der Höhe des Lebens zu leben! Welch eine rasende Lust, das zu gestalten, was schon lange gewartet hatte, gestaltet zu werden! Welche Kraft kommt daher, daß man Kraft ausgibt! Daß man sich in immer wieder neuen Schöpfungen verschwendet. Daß man sich in Gestaltungen ergießt, die bleiben, in armselige, viereckige Leinwandstücke voll Ewigkeit.

Das verdankte er Renate. Und er verdankte ihr, daß alles Schwere leicht wurde. Selbst das bedrückte Gewissen. Er nahm doch nicht gern einem Mann seine Frau weg. Er mochte diesen Scheffer aus Pommern gern, einen schweigsamen Mann, einen stolzen Herrn, dem nie und nirgends etwas zugestoßen war, was er nicht überwinden konnte. Aber dies überwand er nicht. Genau wie Renate erdbebenhaft Zylvercamp aufriß und — wörtlich — entdeckte, genau so stürzte ihr Weggehen das Leben des Gutsbesitzers Scheffer zu.

Renate wußte das. Sie sprach damals das tollkühne, das hochmütige Wort, daß in jeder Schöpfung Geburt und Tod stecke. Und daß man es sich darum genau überlegen müsse, ob man schöpferisch zu sein wage. Denn man könne nicht wissen, ob bei einer Schöpfung Leben herauskomme oder Tod. Sei man aber erst einmal in der Schöpfung drin, so müsse man es ganz sein und könne sich nicht mehr darum kümmern, ob man das Leben anderer gefährde. Ein zweischneidig-gefährliches Wort, das heißt, mit einer Schneide gefährlich für den, über den es gesprochen wurde, und mit einer Schneide für den, der es sprach.

Denn jetzt, vierzehn Jahre nachdem es gesprochen war, jetzt fiel es Zylvercamp wieder ein, und er erkannte, daß es auch ihr Leben zerschneiden konnte.

Er packte bei diesem Gedanken seine Bilder fröstelnd zusammen. Er sah wieder das letzte, das unvollendete Selbstporträt an. Das bedeutete einen Abstieg. Deutlich. Ein Herunterkommen, mindestens einen Stillstand. Wo war der Mut hin? Wahrscheinlich mit dem Hochmut davongegangen. Wo die Kraft, das ewig Wechselnde einzufangen? Starr blickte der Mann auf dem Bild. Griesgrämig, lauernd. Er wartete. Worauf wartete er? Auf einen Anstoß von außen. Auf einen Anruf. Auf die Stimme, die ihm den Weg weisen sollte.

Er nahm die Palette noch einmal auf, er legte sie still wieder hin. Er spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.

Er saß fest. Das war ganz klar. Das Leben, das er führte, hatte ihn versandet. Mochte es nun zu satt, zu reich, zu erfolgreich, zu bequem, zu einfach sein oder war es in die unzähligen Bilder übergegangen und ihm war nichts mehr geblieben. Er war festgefahren. Mit seinem Lebensboot, mit der ganzen Fracht von Erkenntnis und Arbeit, von Familie und Freundschaft, von Kampf und Erfolg.

Er war festgefahren, und er konnte nicht loskommen, wenn nicht Hilfe von außen kam. Oder wenn er etwas von der Fracht seines Lebens über Bord warf. Das war klar. Er mußte bald loskommen. Er mußte bald wieder aufbrechen. Er konnte nicht liegenbleiben und mehr und mehr versanden.

Er wußte das schon seit einiger Zeit, und in diesem Augenblick meinte er nur genau zu spüren, daß er ohne Hilfe von außen, daß er ganz von sich aus nicht mehr die Kraft finden würde.

Von außen mußte das kommen, was ihn losriß. Darum hatte Maria von Nemesch diese helle und dunkle Gewalt über sein Herz und über sein Leben. Sie war zur rechten Zeit gekommen. Sie war ihm gesandt.

Oktober

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