Читать книгу Oktober - Walther von Hollander - Страница 12
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ОглавлениеZylvercamp war zum Schauspieler Baudis hinausgefahren, sehr böse, daß er vor der Arbeit ausriß. Aber manchmal, das hatte er in einem langen Arbeitsleben gelernt, mußte er ausreißen, weglaufen, die Arbeit stehenlassen. Allzu stramm macht unfruchtbar. Allzu schlaff allerdings erst recht.
Zylvercamp saß jetzt in dem großen Arbeitszimmer des Schauspielers und rührte in seiner Teetasse, die Augen starr auf den Fußboden geheftet, so als wollte er es vermeiden, den unzähligen Baudis-Bildern in Öl, in Pastell, in Radierung und in vergrößerten Fotografien ins Gesicht zu sehen. Es war übrigens auch ein Zylvercamp dabei, Baudis als König Lear, ziemlich versteckt in einer Ecke aufgehängt, weil es, obwohl vor zehn Jahren gemalt, einen zu alten Baudis darstellte.
Baudis sprach sehr schnell und sonor, mit jener Stimme, die Unzählige aus dem Theater und aus dem Kino kannten.
Er sprach von sich, von seinen Erfolgen und von dem, was er das Geheimnis der ewigen Jugend nannte. Er hatte sich ganz nah zu Zylvercamp gebeugt. Die lange Zigarre, eine verkohlte und verkokelte Virginia, schwenkte er wie einen Bleistift belehrend in der Hand.
„Der Wechsel, mein lieber Zylvercamp, hat mich so jung erhalten. Das ist es. Heute hier, morgen in Zürich. Heute den Lear und morgen den Faust. Heute im Theater und morgen früh in Tempelhof im Atelier. Man muß mit allem wechseln. Sie wissen, daß man mich auslacht, weil ich immer wieder heirate oder eine neue Freundin habe. Manche nennen es Narretei und Alterswahn. Ich weiß ganz genau, was die Leute sagen. Mit Ihnen kann ich darüber sprechen. Sie stehen auf der Höhe Ihres Ruhmes und Ihres Schaffens. Sie haben Erfolge, die Ihnen keiner abnehmen kann. Darum sind Sie auch nicht neidisch. Aber alle anderen sind neidisch. Weil ich Geld verdient habe, weil ich wieder und wieder Ruhm ernte, weil man sich meinen Namen zuflüstert, wenn ich durch Berlin gehe. Oh, das ist eine wunderbare Sache. Das tut gut. Ich leugne es nicht. Ich brauche das. Ich spitze die Ohren, ob sie es auch flüstern, das Honigwort: Baudis, Baudis, Baudis.“
Er kicherte dabei wie eine alte Hexe. Er wisperte wie eine Klatschbase. Er leuchtete vor Zufriedenheit. „Alle beneiden mich“, flüsterte er. „Aber sie wissen nicht, wie schwer es errungen ist und wie schwer zu halten. Man merkt es den Kollegen doch an, wie sie aufpassen, ob man nachläßt. Wie sie darauf achten, ob man nicht endlich ein paar Falten mehr hat. Diese verfluchten Großaufnahmen, eine total unkünstlerische Sache zudem. Sie passen alle auf, ob man nicht endlich von der Rampe runterschlägt. Da ist doch noch mancher, der meine Generaldirektoren spielen möchte und die Cracks unter den Verbrechern und den Othello oder den Jago. (Schade, daß man nicht beide spielen kann.) Sie würden mich am liebsten von der Szene herunterschießen. Aber dazu sind sie natürlich zu feige, und deshalb warten sie, ob nicht endlich die Kraft nachläßt. Aber ich beweise es ihnen immer aufs neue, daß ich noch da bin und noch lange dazubleiben gedenke. Und das ist auch der Grund, weshalb ich wieder geheiratet habe. Vielleicht haben auch Sie sich gewundert ...“ Zylvercamp schüttelte den Kopf. Er hatte zu Renate gesagt, als die Anzeige eintraf: Sie wird siebzehn sein und noch dümmer als die vorige.
„Nein“, sagte er jetzt, „ich habe schon vier Frauen bei Ihnen überlebt, und ich habe immer gedacht, daß eine fünfte, sechste und siebente kommen wird.“
Baudis lachte schallend. „Es ist nicht unmöglich“, sagte er, „man kann es nicht wissen. Obwohl ich es doch manchmal müde bin. Ihnen kann ich es ja gestehen.“
Zylvercamp sagte: „Sie haben wacker gekämpft, Baudis, und ich glaube, Ihre Müdigkeit wird wieder vorübergehen. Nicht wahr?“
Baudis nickte. „Ganz bestimmt“, sagte er, obwohl er nicht ganz sicher war.
„Ihre Anziehungskraft“, fuhr Zylvercamp fort, „ist doch unverändert groß. Ich sah da neulich, wie eine junge Dame, von Ihrem Anblick ganz gebannt, auf Sie zuging. Allerdings kam sie nicht ganz bis zu Ihnen.“
„Es war Ihre Bekannte“, lachte Baudis. „Und Sie haben sie mir weggejagt. Die sind Sie mir schuldig.“
Zylvercamp sagte: „Ich wollte sie Ihnen bringen. Es ging nicht. Ich habe sie nicht eingeholt.“
Und nach einer Pause: „Sie kennen sie also nicht? Es war allein die magische Kraft Ihrer Persönlichkeit?“
„Ich kenne sie wahrhaftig nicht. Aber sie ist außerordentlich schön“, sagte Baudis. „Verraten Sie mir wenigstens, wersie ist.“
Zylvercamp nannte Marias Namen. Er war immer noch überzeugt, daß Baudis schwindelte. Denn er hatte doch mit eigenen Augen gesehen, daß Maria auf diesen Mann zuging, so entschlossen, so geradeaus, wie sie alles anging, was sie sich einmal vorgenommen hatte. „Sie heißt Maria von Nemesch“, sagte er.
Baudis nickte. „Nemesch?“ fragte er. „Nemesch ... warten Sie ...“
„Sie kannten den Namen?“ fragte Zylvercamp.
„Man kennt so viele Menschen“, wich Baudis aus. „Unzählige Menschen sind durch mein Leben gegangen. Ich meine, ich habe den Namen schon gehört.“
„Es gab in Deutschland nur einen Mann dieses Namens“, sagte Zylvercamp streng.
„Aber er wird doch eine Frau gehabt haben, da er eine Tochter hat“, lächelte Baudis.
„Er war Strafrechtler in Jena“, sagte Zylvercamp.
„In Jena?“ wiederholte Baudis. „Nein, ich entsinne mich nicht.“ Zylvercamp stand auf. Er spürte, daß er bei Baudis nicht weiterkam. Er mußte Maria fragen.
Er ging schnell fort. Auf der Treppe hielt ihn noch die neue Frau auf und spielte eine kleine Eifersuchtsszene wegen „Herrn Zylvercamps Freundin, die in der Untergrundbahn verschwand“. Zylvercamp solle nur aufpassen. Sicherlich werde er nicht leicht „noch einmal eine so schöne Frau bekommen“.
„Sie haben recht“, sagte er und schüttelte ihr die Hand. „Als alter Mann muß man verflucht aufpassen.“
Er trat aufatmend aus dem dumpfen Hause. Er fragte sich, ob er sich nicht nur in diesem Gespensterringen gegen das Alter an Maria von Nemesch anklammere, an eine Leidenschaft für sie, um allen anderen Fragen und Kämpfen auszuweichen. Er konnte die Frage im Augenblick nicht beantworten.
Er ging durch die Gärten von Dahlem. Es war schon ziemlich dunkel. Hinten, nach Spandau zu, war der Himmel noch ein wenig aufgeschlagen wie ein großes feuriges Auge. Rechts über Berlin wölbte sich schon die leuchtende Abendkuppel, der Widerschein der Lichter. Unter den Bäumen aber war es Nacht. Eine bunte, schwüle Nacht mit Duft aus den Gärten von Rosen, die noch in Fülle blühten, und von exotischen Blumen, die fremd und betäubend dufteten.
Die Dunkelheit malen, hatte sein Lehrer Trübner gesagt, ist das Schwerste in der Malerei. Manche haben es nie gelernt. Aber alle, die es schließlich konnten, haben erst alt werden müssen. Im Alter, wenn man allein ist, wird man scharfsichtig und scharfhörig, auch wenn man nicht mehr gut sieht und hört. Deshalb ist es schön, zu altern.
Zylvercamp schüttelte den Kopf. Er drohte mit dem Stock in das verlöschende Sonnenuntergangslicht. Er wollte nicht alt werden. Ganz einfach: er wollte nicht. Selbst nicht um den Preis, daß er die Dunkelheit malen lernte? Nein, selbst nicht um diesen Preis.
Vielleicht hoffte er auch noch, er würde es auch in der Fülle aller seiner Manneskräfte schaffen, so zu sehen, daß er die Dunkelheit malen konnte.
Er als erster.