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Der zweite Oktober 1
ОглавлениеMaria war spät eingeschlafen. Deshalb wachte sie so schwer auf, als ihre Schwester Ilse hereinkam, den Vorhang aufzog und zu ihr ins Bett schlüpfte.
„Es ist erst halb sechs“, flüsterte Ilse, „die Kinder schlafen noch, und der Regierungsrat (so nannte sie rechtens ihren Mann) ist beim Rasieren, Turnen, Baden und Aktenaufarbeiten. Wir haben eine Stunde Zeit. Erzähle nun endlich von Wiesenberg.“
„Erzähle du zuerst von dir, Ilse“, seufzte Maria und reckte sich, „du hast ja unterdessen auch drei Monate gelebt.“
Ilse lachte. „Bei uns kennst du alles“, sagte sie. „Es verändert sich nichts, außer den Monaten, und die kommen ja nach einiger Zeit auch wieder. Oder doch: gestern saß ich zu Tisch mit dem Präsidenten. Und er sagte, er sei von der Karriere Walters überzeugt.“
„Das ist nichts Neues“, seufzte Maria, und Ilse gab es zu. Es war ganz selbstverständlich, daß ein so eifriger, ordentlicher und gescheiter Mann wie Walter Richter seinen Weg machte. Es war sogar langweilig selbstverständlich. Was sie noch nicht zugab, war, daß alles in ihrer Ehe langweilig war. Die Gespräche des Morgens, das Warten über Tag und die Abende, an denen sie entweder auf nützlichen Gesellschaften war oder zu Hause neben dem Schreibtisch des Mannes hockte, las oder nähte und dem Rauschen der Aktenblätter lauschte, wie sie früher dem Wipfelrauschen der Bäume bei den Großeltern in Wiesenberg gelauscht hatte. Ach, wie war doch alles fern geworden!
„Also erzähle von Wiesenberg und von den Großeltern“, sagte Ilse.
Maria erzählte ein bißchen. Die Konditorei ihrer Backfischzeit war abgerissen. Die süße Hinterstube bei Lolle gab es nicht mehr. Die Majorin Frytag hatte einen Selbstmordversuch begangen, weil ihre Tochter einen Agenten heiratete, „einen Mann, der mit Handkoffern von Haus zu Haus ging“. Der General Schüler, der Großvater, wurde immer asthmatischer. Aber er wollte es nicht wahrhaben und rannte, wenn man ihn beobachtete, den Berg zum Haus hinauf, als wäre er Siebzehn und nicht Fünfundsiebzig. Die Großmutter ... nein, das wollte sie nicht erzählen, die Großmutter hatte ihr gesagt, Maria solle sie nur fragen, wenn sie endlich das Schicksal ihrer Mutter erfahren wollte. Die Großmutter fand, es sei Zeit, daß sie Bescheid wüßte. Aber der „kleinen“ Ilse sollte sie nichts davon sagen. Wozu auch? „Ihr Weg ist trocken und deshalb leicht zu fahren. Sie wird der Mutter nicht nacharten.“
„Aber ich?“ hatte Maria gefragt.
„Ich weiß nicht“, hatte die Großmutter geantwortet, „ich weiß es wirklich nicht, so alt ich bin.“
Also das konnte Maria nicht erzählen. Aber es war schon etwas passiert. Es war nur noch nicht ganz gewiß. Ilse wurde neugierig. Sie rüttelte die Schwester. Sie rief triumphierend: „Also hast du dich verlobt? Und das hast du mir gestern abend nicht gesagt und erzählst jetzt tragisch, daß die süße Hinterstube abgerissen ist? Nun erklär wenigstens, wer es ist!“
„Guido von Wrede“, sagte Maria und lachte. Denn Ilse hatte sich im Bett hingekniet und flüsterte ganz andächtig: „Guido von Wrede ... das ist ja wunderbar. Der gescheite und erfolgreiche Guido.“
Sie küßte die Schwester leidenschaftlich. Sie hatte Freudentränen in den Augen. „Oh, wie ich mich freue. Und du? Freust du dich gar nicht? Doch, sicher! Du mußt dich doch freuen. Guido von Wrede! Komm, ich muß es gleich dem Regierungsrat erzählen.“
Maria hielt sie fest. „Untersteh dich“, sagte sie, „es ist ganz und gar geheim. Keiner weiß es. Nicht einmal wir ganz genau.“
„Guido von Wrede“, wiederholte Ilse zärtlich. „Ich traf ihn vor zwei Jahren in Wiesenberg. Er war so still und dabei so lustig. So adrett, nicht wahr, und immer aufmerksam. Man merkt es ihm gar nicht an, daß er so fleißig ist, und das merkwürdigste: er spricht selten von sich und niemals von seinen Erfolgen. Daß es solche Männer gibt! Ich mag ihn riesig!“
„Ich mag ihn auch ganz riesig“, sagte Maria.
Ilse hatte sich auf die Fensterbank geschwungen. Sie starrte beglückt hinaus, als breite sich unten eine herrliche Landschaft. Aber man sah nur Häuser. Eine fremde Wohnung war genau gegenüber, mit einem Balkon, putzig verputzt mit Efeu, verrankt mit wildem Wein, eine Laubhöhle an einem nackten Steinhaus. Und wenn man sich hinausbeugte, sah man Straßenlaternen, wo Bäume hätten stehen müssen, und schräg gegenüber einen Schlächterladen mit Würsten im Fenster, einem halben Schwein und einem Ochsenviertel.
„Ich freu’ mich so“, sang Ilse, „ich freu’ mich so.“
Maria wurde ein wenig mutiger unter Ilses Freude. Der doppelte Schreck von gestern, der sie die Nacht über verfolgt hatte, der Schreck über das plötzliche Auftauchen Zylvercamps und der nicht ganz klare Schreck über diesen Baudis ... sie wichen ein wenig zurück.
Sie sagte: „Wenn ich den Guido heirate, werde ich viel Zeit haben. Wahrscheinlich kommt er in den Generalstab, und da arbeiten sie ja eigentlich immer. Ich habe ihn auch gefragt, wozu er eigentlich eine Frau braucht. Er sagte: um mit den Gedanken irgendwo zu Hause zu sein. Hübsch, nicht wahr? Aber ich brauche nicht zu sitzen und zu warten. Ich werde ein Atelier haben.“
Ilse winkte ab. „Das wird nur zuerst sein, später wirst du nicht mehr malen wollen. Und wenn erst Kinder da sind ...“ Sie brach seufzend ab.
Maria hatte sich aufgesetzt. „Davon verstehst du nichts, Ilse“, sagte sie scharf und beinahe böse. „Ich werde immer malen. Ebenso kannst du einem Menschen sagen: Du wirst nicht mehr atmen wollen, wenn du erst Kinder hast. Immer und unter allen Umständen werde ich malen. Hast du verstanden?“
Ilse erwiderte nichts. Sie brach das Gespräch einfach ab. Wenn Maria dieses Gesicht machte, ein Gesicht, steinern, mit Falten rechts und links vom Mund wie eine Meduse, dann hatte es keinen Zweck, zu sprechen ...