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Zylvercamp erwischte gerade noch den letzten Wagen des abfahrenden Untergrundbahnzuges. Maria von Nemesch war nicht drin. Er stand und starrte die vorbeifliegenden grauen Wände an, die Lichter, die vorbeizuckten, die Pfeiler, die auf- und abtanzten. Er war tief erschrocken. Einmal, weil Maria von Nemesch ihm ihre Rückkunft verschwiegen hatte, weil sie mit jenem Abschiedsbrief vom Juli Ernst machte, weil sie ihm ausgewichen war und nun sogar vor ihm davonlief.

Dann aber — und das war schlimmer — weil er ihr besinnungslos nachgelaufen war, gezogen von der gleichen unwiderstehlichen Kraft. Besinnungslos und gegen jeden Verstand. Es war doch gut, daß sie ihm auswich. Es war doch richtig, daß sie nicht mehr zu ihm kam. Es war doch tapfer und feinfühlig, daß sie ihn glauben ließ, sie sei noch immer in Wiesenberg.

„Ich fahre zu den Großeltern“, hatte sie beim Abschied gesagt, und er hatte geantwortet: „Das klingt feierlich und traurig wie bei einem Begräbnis.“ Und sie: „Das soll auch so klingen.“

Der Zug hielt am Wittenbergplatz. Zylvercamp sah Maria aussteigen und die Treppe langsam hinaufgehen. Er lief hinterdrein. Er freute sich wieder an ihrem Gang, wie sie „von selbst“ die Stufen hinaufschwebte. Er hatte ihr einmal versprochen, er wolle sie als Engel malen, in einem grauen Sportkostüm mit einer rosa Flügelbluse eine Treppe hinaufschwebend, die Treppe natürlich zu seinem Atelier. Fast ohne Flügel sollte sie schweben. Denn das traumhafte Fliegen kam aus der Vollkommenheit des Treppensteigens.

Er stampfte jetzt eilig die Stufen hinauf. Breit durch die Menge pflügend, kam er an ihre Seite.

„Fräulein von Nemesch“, sagte er etwas vorwurfsvoll. „Maria ...“

Maria blieb stehen. Sie reichte ihm wortlos die Hand. „Warum haben Sie sich nicht zurückgemeldet?“ fragte Zylvercamp.

Maria antwortete nicht.

„Warum laufen Sie vor mir weg, was ist das für eine Sache?“

Sie antwortete nicht.

„Und was ist das mit Baudis? Was wollten Sie von ihm?“

Endlich sprach Maria. „Baudis?“ fragte sie. „Es war also doch Baudis?“

Zylvercamp antwortete: „Ja, kannten Sie ihn denn nicht? Und wenn Sie ihn nicht kannten, dann mußten Sie ihn doch erkennen. Jeder Mensch kennt Baudis.“

„Ich kannte ihn nicht“, sagte Maria, als spräche sie nur zu sich. „Aber jetzt weiß ich, er ist es gewesen.“

Sie waren auf den Wittenbergplatz getreten. Immer noch schien die grelle, warme Sonne. Aber gleich mußte sie hinter der Gedächtniskirche verschwinden. Sie gingen schnell die Tauentzienstraße hinunter. „Wie lange sind Sie schon zurück?“ examinierte Zylvercamp. „Einen Tag? Sehen Sie, Sie können mir nicht ausweichen. Ich wußte es ja. Und war es schön bei den Großeltern? Nein? Lebt der Dackel Pepper noch, schimpft Seine großväterliche Gnaden, der Herr General, noch?“

Maria lächelte. Sie antwortete. Aber sie war nicht bei ihren Antworten. Schließlich sagte sie: „Ich habe doch Baudis schon in ein paar Filmen gesehen. Aber er sieht im Leben ganz anders aus.“

„Älter“, antwortete Zylvercamp. „Härter, abgebraucht, wie wir alle.“

Maria schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie, „anders.“

Und nach einer Weile: „Ich möchte nicht weiter davon sprechen. Es war schrecklich.“

Zylvercamp hatte sie jetzt nach alter Gewohnheit untergehakt. Sie bogen zusammen in die Nürnberger Straße ein. „Schrecklich?“ murrte er ungeduldig. „Seit wann gebrauchen Sie so große Worte?“

Maria sah ihn endlich an. Sie mußte lachen. „Ihr Ton ist zum Davonlaufen“, sagte sie. „Wie in der ersten Stunde. Die erste Aufgabe des Lehrers ist es, den Schüler zu entmutigen.“ Und sehr ernst: „Ist nicht nötig, Professor.“

Sie gingen im Schatten der Häuser, die eine muffige Hitze atmeten. Es war schon nicht mehr ganz hell. Zylvercamp wollte in dem kleinen russischen Kaffee eine halbe Stunde mit Maria sprechen. Aber sie hatte keine Zeit. Sie mußte zu ihrer Schwester Ilse, der Regierungsrätin. Ein Kind war krank. Nicht schlimm etwa. Nein, nur ein bißchen. Aber sie mußte die Schwester ablösen, und darum war sie eilig. Sie streckte ihm die Hand hin. Aber er schien es nicht zu bemerken.

Er ging weiter neben ihr. Er wußte ja, wo „die Regierungsrätin“ wohnte. Er hatte sie schon manchmal begleitet. Man stieg einen engen Treppenflur im Hinterhaus hinauf und hatte dann den Blick in einen bescheidenen Kaffeegarten. Also hier rechts herum in die Kurfürstenstraße. Nicht wahr?

Und mit einemmal brach er los. Er packte sie beim Arm. Er zog sie so zu sich herum, daß sie stehenbleiben mußte und Gesicht zu Gesicht vor ihm stand.

„Was glauben Sie eigentlich?“ flüsterte er. „Denken Sie, man beendet eine Freundschaft wie die unsere so mit Wegbleiben, Verschwinden, Nichtmehrdasein?“

Maria starrte ihn an. Nur nicht weinen, dachte sie. Das würde ganz verkehrt sein. Haltung, nicht wahr, geradestehen und einstehen für das, was man will. Das hatte der Großvater, General Schüler, immer gepredigt, und aus den tausend Lehren, die sie bekommen hatte, erwies sich diese eine immer wieder als brauchbar. Einstehen für das, was man will.

„Ich wollte unsere Freundschaft gar nicht beenden“, sagte sie, „ich wollte ...“

Zylvercamp aber ließ sie nicht zu Ende sprechen. „Nicht beenden“, murrte er und drehte sie wieder fort von sich, er schob sie geradezu weiter. „Nicht beenden, aber untertauchen und wegschwimmen und nicht mehr wissen, wo das Atelier liegt, und sich nicht mehr um das letzte Bild kümmern, Garten im Herbst als talentvolle Studie wie von einem Pfuscher hingehauen stehenlassen. Lieber Gott, wäre ich mit sechsundzwanzig Jahren so begabt gewesen! Hätte ich einen solchen Lehrer gehabt wie diesen Professor Zylvercamp! Aber ich war immer allein, mußte alles selbst machen, denken, experimentieren, exerzieren, probieren und verlieren, bis man es endlich gefunden hatte. Und euch jungen Leuten fällt die ganze Sache in den Schoß, und ihr laßt es eines Tages stehen und liegen. Keine Diskussionen bitte. Weg, verschollen. In die Arktis abgereist. Im Schweigen erstickt!“

Maria von Nemesch legte ihm die Hand auf den Arm. Zylvercamp verstummte endlich.

„Sie wissen“, sagte sie mit ihrer etwas dunklen, tonlosen Stimme, „Sie wissen genau, es ist nicht so.“

„Sondern ganz anders“, sagte Zylvercamp, „Sie kamen sofort nach Ihrer Rückkunft zu mir. Sie schickten mir von Wiesenberg aus Ihre neuen Arbeiten.“

„Ich habe fast nichts gearbeitet“, sagte Maria, „außer für den Verlag. Für Geld also, weil ich ja leben muß. Aber nichts für mich. Es ging nicht.“

Zylvercamp schüttelte erstaunt den Kopf. „Warum ging es denn bei Ihnen nicht? Bei mir, das ist ja ganz klar: ich suche etwas Neues. Etwas ganz Bestimmtes, das sich nicht fangen läßt. Und da übe ich mich eben im Fangen. Eine widerwärtige Zeit. Man ist wie tot, so sehr man sich abzappelt.“

Maria antwortete nicht. Sie hatte am Tage zuvor ein paar neuere Arbeiten von Zylvercamp gesehen. Sie waren gut, sicherlich. Aber wirklich wie tot. Merkwürdig unsicher. Trotzig. Ohne Hintergrund und Untergrund.

„Angelangt“, sagte sie jetzt und blieb an dem kleinen Eingang eines riesigen Hauses stehen. „Es ist auch Zeit. Mein Himmel, gleich sechs!“

Aber sie reichte ihm diesmal nicht die Hand. Sie sah ihn vielmehr erwartungsvoll an mit ihren „Landschaftsaugen in zierlich bemaltem Stadtgesicht“. So hatte er das erste Porträt genannt, das er von ihr gemalt hatte, und so sah er sie jetzt. Das war das Schreckliche und Schöne: wenn man einmal bis in den Untergrund des Menschen gesehen hatte, so blieb das und veränderte sich nicht. Das hatte seine Ewigkeit, wenigstens die kurze Ewigkeit des Lebens, das man führte.

„Landschaftsaugen in zierlich bemaltem Stadtgesicht“, sagte er. Und sie antwortete: „Leben Sie wohl, Professor.“

Sie drehte sich um und war sogleich in dem dunklen, engen Eingang verschwunden. Sie lief über den Hof, der lichtschachtähnlich eingeschlossen war von einem Steinviereck aus grauweißen Steinen, vier Stockwerke hoch, mit einem grellen blauen Himmel darüber. Es war schon dämmerig, und die Lampen der Fenster schienen.

Maria rannte an den Aschenkübeln vorbei, die hier immer standen, immer überquollen von Asche, Apfelsinenschalen, Papier und Gemüseresten. Sie hörte Zylvercamp rufen. Sie lief die ersten Stufen im engen Treppenflur. Im oberen Stock kam jemand aus der Tür und unterhielt sich hallend. Sie konnte nicht so weiterlaufen. Sie wollte ja auch nicht weglaufen. Warum lief sie? Geradestehen und einstehen! Sie hielt also an, sie hörte Zylvercamp über den Hof stampfen, wütend den Stock aufs Pflaster klopfend.

„Maria!“ Es klang böse und gebieterisch. „Maria!“

Er kam jetzt in den Flur. Er kletterte eilig die erste Treppe herauf und stand neben ihr.

Nun kam von oben der Mensch, ein dürrer, hastiger Herr, ein Rattengesicht mit neugierigen, fresserischen Augen. Es sah so aus, als wollte der fein gekleidete Mann sich gleich in die Abfallkübel auf dem Hofe stürzen. Er lief vorbei, zuckte mit der Hand nach seinem Hut, wollte Zylvercamp grüßen. Das war doch ein Gesicht, das man schon gesehen hatte. Er wandte sich von unten her noch einmal zurück und lief dann kopfschüttelnd über den Hof davon.

„Da stehen wir nun“, sagte Zylvercamp. „Da müssen wir in einem engen Treppenflur über die wichtigsten Dinge sprechen.“

„Wir brauchen, glaube ich, nichts mehr zu sagen“, antwortete Maria. „Es ist alles ganz klar.“

„Unsinn“, schalt Zylvercamp, „nichts ist klar. Alles ist verwölkt, dunkel, voller Gewitter.“

„Ich bitte Sie herzlich“, sagte Maria, „lassen Sie mich jetzt gehen.“

„Sie wollen also nicht wiederkommen?“ fragte Zylvercamp.

Maria schüttelte den Kopf.

„Auch wenn es notwendig wird für mich, wollen Sie nicht kommen?“

Maria ging schnell ein paar Stufen. Sie sagte: „Wir wollen nicht weitersprechen. Es kann doch nur schlimmer werden.“

Zylvercamp schlug mit dem Stock auf das Treppengeländer wie ein ungezogener Junge. Aber er sprach ganz gefaßt und leise: „Warum wollen Sie die Wahrheit nicht hören?“

„Weil ich sie weiß.“

„Auch daß ich Sie liebe?“

„Deshalb bin ich nicht mehr gekommen.“

„Nun ... und?“ Es sah gespannt zu ihr hinauf. So wie er im letzten Augenblick, bevor er zu malen begann, die Leinwand ansah. Auf die ersten Striche kam es an, alles andere ergab sich daraus ... wie Schicksal. Ja, es gab Bilder, notwendig wie Schicksal, und Bilder, überflüssig wie ein Durchschnittsleben, und es gab Schicksal, das sich notwendigerweise vollenden mußte wie ein Bild, und anderes Schicksal, nicht wert, es zu beginnen. Aber dies hier war notwendig wie ein Bild.

„Sie sind nicht gekommen“, sagte er, „und hat es Ihnen genützt?“

Maria mußte in allem Kummer lachen. „Nein, es hat mir ganz und gar nichts genützt.“

Damit wandte sie sich und lief schnell die Treppe hinauf. Zylvercamp stand einen Augenblick verblüfft. Dann lief er in ein paar Sprüngen hinterdrein. Er faßte sie noch dicht vor der Tür. Er hielt sie, indem er seinen rechten Arm um ihre Schulter legte, wie er es manchmal kameradschaftlich bei der Korrektur getan hatte. Er sagte: „Nein, hallo, so können Kinder einander weglaufen. Aber da Sie wissen, daß Sie ebenso ein Stück von meinem Schicksal sind, wie ich ein Stück von Ihrem Schicksal bin, so müssen Sie bleiben. Sie werden doch nicht gegen Ihr Schicksal kämpfen wollen?“

Maria antwortete nichts. Sie drückte auf die Klingel zu der Wohnung ihrer Schwester. Sie sagte: „Noch kann man entkommen.“

Zylvercamp konnte nichts mehr erwidern. Die Tür wurde gerade von dem Hausmädchen geöffnet. Er reichte ihr die Hand, verbeugte sich etwas linkisch. Die Tür schloß sich, und Maria von Nemesch war verschwunden.

Zylvercamp ging ganz langsam, Stufe für Stufe, die Treppe im Zwielicht hinunter. Als er unten auf der Straße ankam, war es dunkel geworden. Aber es war noch immer sommerwarm. Die Schaufenster glänzten von der falschen Sonne überheller Taglichtlampen.

Oktober

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