Читать книгу Oktober - Walther von Hollander - Страница 6

3

Оглавление

Abends war eine kleine Gesellschaft bei Zylvercamp. Es waren fast nur Freunde gekommen. Nur Doktor Altpeter, Assistent an der Hamburger Kunsthalle, war „zugeladen“ worden, weil er wichtig war oder sich wichtig machte. Er war ein schöner, junger Mensch mit einem Anflug von Feistheit infolge reichlicher Ernährung und ungewöhnlicher Selbstzufriedenheit. Er war ein verhinderter Dichter, der seit Jahren eine „exakte Ästhetik“ schrieb und seiner bissigen Kritiken wegen als Kenner galt.

Er verehrte den „Farbmeister und Menschendichter“ Zylvercamp sehr und gebrauchte ihn vielfach als Maßstab in seiner exakten Ästhetik. Zylvercamp behandelte ihn schlecht. Er duldete ihn auf Bitten seiner Frau. Aber er übersah ihn meistens. An diesem Abend hatte er noch kein Wort mit ihm gesprochen.

Aber er war überhaupt nicht sehr gesprächig. Bei Tisch hatte er sich von der Sammlerin Frau Terpuis, der Witwe eines Wäschegrossisten, über ihre Ankäufe berichten lassen. Jetzt saß er neben Bigel, dem Kunsthändler, auf dem großen Altan und starrte mit dem alten Freund zusammen über die Bäume des Bellevueparkes, die sich im Vollmondlicht mit den Bäumen des Tiergartens wie ein großer Wald dehnten, ein graugrüner Wald, wie Bigel behauptete, ein grünblauer Wald, wie Zylvercamp ihn belehrte. Ob nun blaugrün oder graublau ... der Blick auf die Bäume war herrlich, auf die Lichter der Charlottenburger Chaussee, die wie bläuliche Kerzen im Laub schimmerten, auf den dunklen, spitzen Turm der Kaiser-Friedrich-Kirche und den hellen, von Kinolicht angestrahlten Turm der Gedächtniskirche.

Der alte, dicke Bigel sprach heftig und ohne rechte Überzeugung auf Zylvercamp ein. Daß man manchmal lebensunlustig wurde, war doch klar. Aber es war kein Grund, böse auf das Leben zu werden. Daß man manchmal Mist malte oder, wie er sich ausdrückte, Schinken in Mist, war ganz selbstverständlich. Kein großer Maler ohne großen Mist. Er wollte vor den Ohren dieses süßlichen Altpeter keinen Streit entfachen, aber Rembrandt und Dürer, Holbein und Cranach, Corinth und Slevogt hatten nur deshalb keine miserablen Bilder gemalt, weil die Kunsthistoriker Gut und Schlecht nicht unterscheiden konnten. Hatte jeder seine schwachen Stunden, also Zylvercamp auch.

Bei dieser Gelegenheit: das Porträt des Gesandten, um das sich eine Wochenschrift sehr erregt hatte, war keine schwache Arbeit, sondern eine ausgezeichnete, und es war vielleicht nur nicht klug, Gesandte so zu malen, wie sie sind, statt so, wie sie sich sehen. Aber wenn irgendeiner mit seinem Leben zufrieden sein konnte, so doch Zylvercamp.

Zylvercamp zuckte die Schultern. „Vielleicht, wenn ich wie mein Bruder hinter dem Pflug herginge oder jetzt im Oktober beim Torfladen wäre oder auf der Entenjagd, würde mir wohler sein.“

Bigel winkte ab. Das stand jetzt nicht zur Debatte. Er sollte aber einmal das Glück in seinem Leben objektiv ansehen. Daß er als ein Bauernjunge in Dürftigkeit geboren war und doch nicht in Not. In einer engen Bauernkate aufgewachsen, aber in einer breiten, weiten Landschaft. Und hatte sich selber durchschlagen müssen, ohne andere Waffen als ein Bündel Pinsel. War ein berühmter Mann geworden, ein wohlhabender Mann mit der schönsten Aussicht Berlins vor der Nase, Stadt und Land in einem, Wald und Weite. Rechter Hand das Brausen der Kinowelt vom Kurfürstendamm, links das Grollen von Moabit mit Turmpalast und Bürgerwohnungen, und im Rücken das Zischen, Rollen und Funkeln der Stadtbahn, die gelben Sternlichter des Himmels neben dem Mond und das Vergnügungslicht Berlins als gelbe Kuppel am Himmel. Das war alles so wunderbar und märchenhaft, daß Zylvercamp sich täglich wenigstens einmal seines Glückes bewußt werden sollte.

Zylverkamp lachte: „Ich bin auch kolossal zufrieden.“

Bigel schüttelte den Kopf: „Nein, Ihre letzten Sachen sind nicht gut, also geht es Ihnen nicht gut. Außerdem aber, wenn man es Ihnen nicht ansähe: das gute Barometer des Hauses zeigt Stille, Flaute, baldigen Sturm.“

Sie blickten sich beide um. Sie lächelten Frau Renate Zylvercamp zu, die hinten auf dem Balkon saß, fast am Eingang zum Zimmer, mit Delius, dem Gutsbesitzer, und Minchen Tweer, der großen Sängerin.

Renate Zylvercamp hörte mitten im Satz zu sprechen auf und kam herüber. Sie legte eine Hand leicht auf Zylvercamps Schulter und sagte: „Wir schwatzen von früher wie die Kinder. Delius erzählt Jagdgeschichten aus Pommern und Minchen Erinnerungen an die Zeit, da sie eine Pastorentochter war.“

Zylvercamp lachte: „Und du erzählst aus der Zeit deiner Rittergutsbesitzerei, wie?“

Renate hörte ganz gut den Unterton von Unzufriedenheit heraus. Ein bißchen eifersüchtig war Zylvercamp noch immer auf ihren ersten Mann, den Gutsbesitzer Scheffer, von dem sie weggegangen war, um zu Zylvercamp zu kommen. Er war im August geboren. Wo er liebte, galt nur seine Welt.

Sie sagte: „Ja, in Geschichten kriegt das Frühere seinen kleinen Glanz. Der Reitweg ins Moor, der versoffene Buschwächter Grün, Schäfer Frenze mit der Strickstrumpfweisheit, Schlehen im Oktober, so jetzt bei Vollmond, und die Mondnebel über dem Bruch ...“

Sie verstummte. Sie beugte sich ein wenig hinaus. Der Mond traf gerade ihre schöne, klug gebuckelte Stirn, eine faltenlose Stirn. Der Gram saß tiefer, in den Lippen zum Beispiel, die jetzt ins Mondlicht tauchten, ein wenig zusammengezogen, verkniffen vom Verschweigen und Stillesein.

„In der Erinnerung ist das Leben fast immer glücklich“, fuhr sie fort. „Minchen Tweer erzählte vorhin von Amsterdam. Von einem Spaziergang an den Grachten mit ihrem Mann Tweer. Er habe damals aus dem Mondschein und den alten Kanälen den ganzen Geist Amsterdams beschworen. Tatsächlich war Tweer damals schon irrsinnig, und Minchen hatte jede Nacht Angst, er würde auf sie schießen. Sie wissen, Bigel, er wollte sie nicht totschießen. Nein, nur die Kehle durchschießen, damit sie nicht mehr singen könnte. Denn er glaubte, daß ihr Singen ihm die Kraft, die Einsicht und den Verstand nähme. Das mußte sie damals durchleben. Ich weiß es genau. Und in der Erinnerung bleibt der Mondschein über den Grachten.“

Sie wandte sich schnell und ging über den Altan weg ins Zimmer. Bigel steckte sich eine neue Zigarre an. Er sagte paffend: „Eine muntere Geschichte, diese Geschichte aus Amsterdam. Und wie gewöhnlich haben die Verrückten recht. Die Kunst des einen frißt das Leben des anderen mit auf. Oder?“

„Wieso frißt die Kunst das Leben des anderen?“ fragte Zylvercamp. „Kunsthändler zum Beispiel kommen mit ihrem Leben auch nicht zurecht und Gutsbesitzer, Kaufleute und Postsekretäre mit ihren Ehen auch nicht. Wer frißt denn da wen?“

Bigel sah den alten Freund forschend an. Ihm war es eigentlich gleichgültig, wer wen fraß. Er wollte wissen, ob es wirklich so gefährlich um Zylvercamp stand, wie ihm Renate berichtet hatte. Eine Krise durch und durch, von oben bis unten, die alles zerfrißt, hatte sie ihm gesagt. Sie schien recht zu haben.

Denn Zylvercamp ging ganz gegen seine Gewohnheit — er liebte es sonst, alles ordentlich zu Ende zu bringen, er war eigentlich ein Pedant, ein Alles-immer-besser-Macher — Zylvercamp ging einfach aus diesem Gespräch weg.

Er ging mit einem starrsinnigen Lächeln auf den Lippen an seinen Gästen vorbei. Er übersah es, daß Doktor Altpeter sein feistes, lächelndes Gesicht gegen ihn erhob, um ihn nach seiner Meinung über Grünewald zu fragen, der in der exakten Ästhetik eine schlechte Note bekam. Er überhörte auch Minchen Tweers Frage, ob sie ein Lied singen dürfe. Er ging hinaus. Und während Minchen Tweer sich im Balkonzimmer an den Flügel stellte und, von Renate begleitet, ein altes italienisches Lied von Spinelli sang: Frage der Liebenden über die Ewigkeit des Glückes, das sterngleich auf ihr Bett schien (sie sang es sehr leise, die Töne hatten Zeit, einander abzuwarten, zu begleiten, zu versickern), während Bigel mit unruhigen Altersschritten auf dem Altan auf und ab ging, Frau Terpuis, die Wäschegrossistenwitwe, die Augen schloß, Delius ernst und würdig vor sich hinschaute und Doktor Altpeter wohlwollend lächelte, weil er sehr zufrieden war, daß die berühmte Tweer hier abends einfach ohne Eintritt und Vorbereitung und Presse für ein paar Auserwählte sang ... währenddessen stand Zylvercamp in seinem Zimmer am Telefon. Er rief bei Regierungsrat Richter an. Er hatte sich ausgerechnet, daß Maria allein in der Wohnung sein würde. Er stand, den Hörer am Ohr. Die Verbindungsglocke zirpte. Jetzt knackte der Apparat. Marias Stimme.

Zylvercamp nannte seinen Namen. Er sagte nichts weiter. Sie, nicht wahr, war weggelaufen, sie mußte jetzt sprechen. Aber sie sagte auch nichts. Sie stand am Apparat, der neben dem Kinderbett aufgestellt war. Eine Nachtlampe schien in das unruhige Fiebergesicht des kleinen Gebhard. Sie fürchtete, ihn zu wecken. Sie flüsterte endlich: „Ich kann jetzt nicht sprechen.“

Zylvercamp sagte: „Mit einemmal kann ich es nicht mehr ertragen, von Ihnen getrennt zu sein.“

Sie antwortete: „Was soll ich tun?“

Er überlegte einen Augenblick. Das war wirklich nicht einfach zu sagen. Er war kein Knabe mehr, der glaubte, daß man zusammenlief, und es war dann alles in Ordnung.

„Ich wollte Ihnen schon lange sagen ...“ begannen sie beide gleichzeitig und stockten.

„Nicht jetzt“, schloß Maria hastig. Denn das kranke Kind hatte sich bewegt. Sie legte den Hörer schnell auf. Sie löschte das Licht und ging mit dem Apparat in ein anderes Zimmer. Sie stöpselte ein. Er würde sicher gleich wieder anrufen. Sie wollte ihm dann sofort sagen, daß sie so gut wie verlobt war. Mit Oberleutnant von Wrede. Sie hatte sich in Wiesenberg nach langen Kämpfen entschlossen. Es war doch „das einzig Vernünftige“. Sie kannte Wrede schon fast zehn Jahre. Sie mochte ihn sehr gern. Warum rief Zylvercamp nicht an? Sie mußte es ihm unbedingt sagen. Dann war es endlich entschieden.

Sie begann jetzt seine Nummer zu wählen. Der Apparat schrillte drüben bei Zylvercamp. Er stand daneben. Aber er meldete sich nicht. Was sollte er sagen? Eine tiefe Müdigkeit hatte ihn erfaßt. Er ging langsam den Gang zurück zu den anderen Zimmern. Er dachte: Wenn sie mir aber gar nicht helfen kann? Wenn ich mir selbst helfen müßte? Das Hausmädchen kam vorbei. Er schickte sie an den Apparat. Sie sollte sagen, daß er weggegangen war. Schnell, schnell.

Er stand und hörte, wie das Mädchen etwas geziert berichtete, der Herr Professor habe soeben das Haus verlassen.

Er kam langsam, die Hände in den Taschen, in das Musikzimmer zurück. Minchen Tweer sang gerade das Lied zu Ende. In den Sternen stünde die Ewigkeit der Liebe geschrieben. Aber der Erdenbürger könne die Schrift nicht entziffern.

Sie sang es mit einer hauchzarten, sehr feinen und innigen Koloratur. Die Ewigkeit ... ja Ewigkeit ... o Ewigkeit ... in Ewigkeit.

Renate starrte das Notenblatt an. Zylvercamp sah, daß ihre Augen voll Tränen waren.

So begann dieser Oktober.

Oktober

Подняться наверх