Читать книгу Der Goldvogel - Werner Gerl - Страница 11

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07 Auf dem Weg durch den Ostpark entdeckten die Polizisten keine weiteren Blut- oder Kampfspuren. Tischler kam lediglich zur Erkenntnis, dass Kemal einen verdammt weiten Nachhauseweg hatte. Selbst wenn er schnell ging, war er eine dreiviertel Stunde unterwegs. Sie hatte Respekt vor dem Jungen, aber auch ein wenig Mitleid.

Bis zu seinem Unfall war Kemal ein mustergültiger Sportler und ein guter Schüler gewesen. Der Blitzeinschlag hatte ihn jedoch aus der Bahn geworfen. Langsam erst fing er sich wieder. Und ein Silberstreif am Horizont war sichtbar. Da er mit dem Sprechen Fortschritte machte, wollte er sich im Wintersemester an der Universität für Sportwissenschaften einschreiben. Die mysteriösen Vorkommnisse der letzten Nacht und vor allem die Folgen, nämlich sein Rückfall in die Sprachlosigkeit, machten ihm allerdings schwer zu schaffen. Was würde er tun, wenn er ein Referat an der Uni zu halten hatte? Solche Fragen gingen ihm durch den Kopf, als er seine Wohnung in Neuperlach erreichte.

»Respekt, Kemal. Die Strecke gehen Sie in der Nacht und das auch noch mit ein paar Bierchen im Leib«, meinte Tischler anerkennend. »Das wäre nichts für mich. Bevor ich Sie entlasse, möchte ich noch ein paar Dinge mit Ihnen abklären.«

Kemal blickte die Kommissarin erwartungsvoll an.

»Gehen Sie in der nächsten Zeit ans Telefon?«

Der Kickboxer schüttelte vehement den Kopf. »Nur Handy«, flüsterte er ergänzend.

»Gut, die Nummer haben wir ja. Dann erübrigt es sich, dass wir Ihren Anschluss abhören lassen. Wünschen Sie Polizeischutz?«

Wiederum schüttelte Kemal den Kopf.

»Nein? Dann bedenken Sie aber bitte, dass Sie in Gefahr sind. Sollten Sie wirklich einen Mord gesehen haben, haben Sie den Mörder gesehen, es jedoch vergessen! Der Mörder aber kennt Sie, weiß nichts von Ihrer Krankheit und muss davon ausgehen, dass Sie ihn wiedererkennen.«

Kemal wedelte mit den Händen, was seine Ablehnung des Polizeischutzes verstärken sollte.

»Ich möchte aber nicht, dass Sie hier allein leben. Das ist zu gefährlich. Sie sind möglicherweise Zeuge in einem Mordfall und ich muss Sie schützen. Haben Sie eine Vertrauensperson, die bei Ihnen schlafen kann oder – was mir noch lieber wäre – bei der Sie schlafen können.«

Kemal überlegte kurz und nickte dann. »Meine Schwester Aische«, hauchte er.

»Wollen Sie bei Ihr wohnen?«

Wiederum bejahte der Kickboxer die Antwort.

»Ralf, gib ihm bitte deinen Block. Kemal soll Adresse und Telefonnummer der Schwester notieren.«

Kemal schrieb mit krakeligen Buchstaben, was man von ihm wollte. Dann verabschiedete er sich. Die Kommissarin bestand allerdings darauf, noch mit in seine Wohnung zu kommen. Man wusste ja nicht, ob nicht ein Killer wartete. Doch die Wohnung war leer, auf dem Anrufbeantworter keine Nachricht. Beruhigt gingen die Polizisten wieder hinunter.

»Und nun?«, fragte Mangel unentschlossen.

»Nun rufen wir uns erst mal ein Taxi. Ich geh die Strecke auf jeden Fall nicht zurück.«

»Denk an unsere Spesenrechnung.«

»Ich denke Tag und Nacht an nichts anderes«, meinte Tischler.

»Vor zwei Monaten hast du einen Anschiss bekommen, weil sie so hoch war.«

»Da musste ich aber auch undercover in einem Zwei-Sterne-Restaurant ermitteln und in so einem noblen Futter-Trog kann ich mir ja wohl keinen Cheeseburger bestellen«, entgegnete Tischler und zückte ihr Handy.

»Ich habs ja nicht mit Scampi im Trüffelsabayon«, gestand Mangel.

»Ich weiß, Ralf. Du bist ein Schweinsbraten-Jünger und Weißwurst-Guru.«

»Meine Mama hat den besten Krustenbraten der ganzen Hallertau gezaubert. Nach dem hätte sich dein Sterne-Koch die Finger geleckt.«

»Ganz sicher. Aber wie du dich vielleicht erinnern kannst, wurde meinem Mordopfer, diesem Spitzenkoch, ein Küchenbeil in den Kopf gerammt. Der schleckt vielleicht noch die Radieschen von unten ab. Ganz ohne Salz, also ganz unbayrisch.«

»Barbara, du redest oft wie eine Zuagroaste«, beschwerte sich Mangel.

»Nein, ich bin in München geboren, du in Niederbayern, das ist der ganze Unterschied.«

»Einigen wir uns darauf: du bist in München aufgewachsen, ich in Bayern.«

»In Ordnung.«

In diesem Moment fuhr das Taxi heran und beendete das weißblaue Streitgespräch.

»Wo solls denn hingehen?«, fragte der Fahrer, ein Mittvierziger mit schütterem Haar und Pferdeschwanz, der sie wenige Minuten später am Kampfsportzentrum in der Schlüsselbergstraße wieder aussteigen ließ.

»Ich hab da eine Theorie«, hob Mangel an, als er in den Dienstwagen einstieg.

»Ich brenne darauf, sie zu erfahren.«

»Die Russen, mit denen dieser Leo im Clinch liegt, die hab ich im Visier.«

»Weil sie Russen sind?«

»Nein.«

»Weil sie Wodka trinken und für sündteures Geld Fischeier verkaufen?«

»Nein«, antwortete Mangel mit einem Anflug von Ärger. »Lass mich halt ausreden. Diese Gangs halten zusammen, egal, was passiert. Die lauern Kemal auf, folgen ihm bis zu den Kleingärtnern und fallen über ihn her.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber woher kommen die Goldspuren in der Fahrertür?«

Fast mitleidig grinste Mangel. »Barbara, diese Russen tragen doch alle Goldkettchen und Goldringe. Einer von denen bekommt einen Tritt von Kemal und saust gegen den Wagen. Bumms. Schon haben wir die schönste Delle mit Goldstaub.«

»Verwechselst du die Russen nicht mit den Zuhältern aus den Achtzigerjahren?«, fragte Tischler nach. »Und dann wäre die Sache mit dem beobachteten Mord. Kemal hätte diese Nachricht an sich selbst auf keinen Fall geschrieben, wenn er in eine Schlägerei verwickelt worden wäre.«

»Stimmt. Daran habe ich schon auch gedacht. Ich glaube, dass Leo von seinem Balkon aus beobachtet hat, wie seinem Freund ein paar Russen nachgestiegen sind. Er macht sich auf die Socken, stößt später hinzu und macht einen Russen platt.«

»Dann hätte sich Kemal niemals die Notiz ›Habe vielleicht Mord gesehen‹ geschrieben. Außerdem: Wo steckt die Leiche? Die Russen-Gang hätte keinen Grund, Leo nicht anzuzeigen oder ihn zu attackieren.«

»Bandenehre: Gehe niemals zur Polizei.«

»Ach komm, Ralf. Das ist kein Rockerkrieg wie ihn die Desperados und die Hells Angels ausfechten. Das sind Jugendliche, die gelegentlich ihr überschüssiges Testosteron abbauen müssen.«

»Ist ja recht. Ich rede ja immer nur Schmarrn daher, wie?«, antwortete Mangel beleidigt.

»Nein, Ralf, Gott sei Dank nicht immer, aber seltener ist es in den letzten Jahren auch nicht geworden.«

»Was meint dann Fräulein Allwissend, was passiert ist?«

»Das weiß ich nicht. Ich meine, wir sollten erst die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, dann zimmere ich mir die eine oder andere Theorie. Und du läufst bis dahin nicht den Russen hinterher, klar?«

Mangel brummte wie ein Schwarm Hornissen. Er hätte zu gern in Neuperlach weiter recherchiert.

Das Atelier von Polonius bot dem Betrachter nur teilweise das kreative Chaos, das viele Leute von Künstlerbehausungen erwarten. Küche und Schlafzimmer waren durchaus spartanisch eingerichtet. Polonius selbst würde freilich den Ausdruck minimalistisch bevorzugen. Sehr funktional eben unter Verzicht auf überflüssige Dinge.

Polonius hatte Geschmack und wollte zu jedem seiner Einrichtungsgegenstände gewissermaßen eine Beziehung haben. Die Dinge sind ein Spiegelbild der Seele, meinte er. Und wer seine Wohnung mit Müll vollstopfe oder mit Dutzendware, der beweise, welch verwechselbaren Charakter er habe, so sein Credo.

Individualität beginne bei der Zuckerdose. Und die war bei Polonius aus dem 19. Jahrhundert, ein Sammlerstück aus dem Biedermeier, das er auf einem seiner zahlreichen Flohmarktbesuche ergattert hatte. Zwölf-lötiges Silber mit Blumengravur, eine Zierde für jede Küche, allerdings nicht gerade billig. Für jeden Gast hätte er das Schmuckstück auch nicht auf seinen marmorierten Pariser Bistrotisch gestellt, aber für seine beste Freundin Irina war ihm nichts zu schade.

»Und du willst sicher nicht zur Polizei gehen?«, fragte Irina, selbst Künstlerin, allerdings hatte sie ihre kreative Seele der Malerei verschrieben.

»Zu diesen Ignoranten? Den Herren und Damen habe ich heute schon einen Besuch abgestattet. Das ist verlorene Lebenszeit, nichts weiter«, entgegnete Polonius und unterstrich seine Abneigung mit einer abfälligen Handbewegung. »Und Zeit ist unser wichtigstes Gut. Also lass es uns genießen, zum Beispiel mit diesem köstlichen Espresso.«

Der Künstler stellte zwei Art-Deco-Tassen auf seinen glatt polierten Tisch, auf den angeblich schon Sartre und Camus ihre Croissants gebröselt hatten.

»Die Crema meiner neuen Maschine ist umwerfend. Du wirst begeistert sein«, lobte Polonius seine anthrazitfarbene Butterfly von La Scala, die einen traumhaften Espresso zauberte.

»Du hast recht, der Kaffee ist ein Gedicht«, stimmte Irina in die Lobrede ein. Die Künstlerin war eine Rubensschönheit. Griffig und üppig. Sie trug gern die alten olivgrünen Bundeswehrunterhemden ihres Vaters und eine abgewetzte Jeans, dazu zierte ihre Stupsnase eine mit Fensterglas gefüllte schwarze Hornbrille.

»Doch was diesen Einbruch anbelangt, muss ich dir widersprechen. Du solltest das nicht so auf die leichte Schulter nehmen.«

»Aber die haben nichts gestohlen. Es fehlt keine Antiquität, kein Kunstwerk. Nicht einmal ein Stück Würfelzucker haben sie mir gestohlen«, entgegnete Polonius und süßte demonstrativ seinen Espresso.

»Aus Jux und Dollerei hat dir freilich keiner die Tür aufgebrochen. Die haben was gesucht, Polly.«

»Aber nicht gefunden.«

»Weil es nicht hier ist, stimmts?«

»Stimmt«, gab Polonius zu.

»Das heißt, die werden weiter suchen, bis sie es gefunden haben.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Übrigens ist mir nicht klar, was diese Leute suchten. Da gäbe es durchaus mehrere Stücke zur Auswahl.« Zum ersten Mal an diesem Tag huschte ein diebisches Lächeln über das ernste Gesicht des Künstlers. »Eine Schutzmantelmadonna aus dem Spätmittelalter zum Beispiel. Welch Anmut und Grazie in der Haltung, so unfasslich in ihrer Entrückung und doch beherbergt sie in ihrem Mantel, der von ausgesuchtem Blau ist, eine ganze Schar an Bürgern. Allein der Faltenwurf der Kopfbedeckung ist eine unglaubliche Herausforderung.«

»Woher hast du das Schmuckstück?«

»Das, meine liebe Irina, darf ich nicht einmal dir anvertrauen. Auch nicht den Ort, an dem sich die Madonna befindet und auf ihren Klon wartet. Den kenne nur ich. Und so soll es bleiben.«

Polonius nahm die beiden Kaffeetassen zur Hand und räumte sie in die Küche. Von dort holte er eine Flasche Bordeaux und zwei Kristallgläser aus dem Wien zur Zeit Sisis und Franz Josephs.

»Lass uns ein Glas trinken auf die Kunst. Auf dass sie uns weiter gut ernähre und für unser täglich Brot und Wein sorge«, sagte Polonius mit spöttischem Unterton.

»Wenns danach geht, sorgt sie bei mir nur für mein täglich Leitungswasser, aber das ist bekanntlich auch recht gut.«

Mit einem dumpfen Plopp entkorkte Polonius die Flasche und schenkte Irina und dann sich selbst vorsichtig ein.

»Du musst einfach pragmatischer werden, meine Liebste. Die Welt ist noch nicht bereit für deine Farbattacken, sie liebt das Immergleiche. Die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Schalte das Radio an und höre dir dieses immergleiche Gewinsel an. Immer dieselben einfachen Phrasen, immer dieselben Rhythmen und Tonfolgen. Warum? Weil der Massenmensch konditionierte Sinne hat. Ein einfacher Hund, der auf ein Signal mit Sabbern reagiert. Du musst den Leuten dieses Signal geben.«

»Oder ich suche mir endlich einen vernünftigen Galeristen. Harry ist ein lieber Kerl, aber er hat einfach keine Connections.« Irina nahm einen tiefen Schluck auf diese Erkenntnis und hielt Polonius ihr Glas hin. Sie war durstig und in der Stimmung, sich zu betrinken.

»Aber, aber, du Undankbare.« Theatralisch gab Polonius Irina einen Knuff auf die Schulter. »Hat er dir nicht bei sämtlichen Volkshochschulen in der Münchner Prärie Kurse und Ausstellungen verschafft?«

»Nein, die in Ebersberg hat er ausgelassen. Aber im Ernst, manchmal denke ich mir, diese ganze Künstlerscheiße ist ein einziger Irrweg. Ein großes Missverständnis.« Dann leerte sie abermals ihr Glas, schenkte sich diesmal aber selbst nach.

»Nein, nein«, widersprach Polonius ernst. »Du bist gut, Irina, sehr gut. Du hast Kraft im Pinsel wie nicht viele Leute. Dir ist die Gabe verliehen, Farben neu zu sehen. Du darfst dein Talent nicht verschwenden. Das wäre Verrat an der Kunst und damit Verrat am Leben.«

»Vielleicht. Aber wie mich die Kunst behandelt, ist Verrat an meinem Bankkonto.«

»Das ist Bockmist, oberflächlicher, kleinbürgerlicher, defätistischer Bockmist.«

»Sag das meinem Vermieter. Der Drecksack hat mir schon mit Kündigung gedroht, nur weil ich mit der Miete zwei Monate im Rückstand bin.«

»Irina, bevor du in der Gosse landest oder gar van Goghs Schicksal teilst, pumpst du mich an. Und du weißt, ich will kein Geld zurück. Außerdem war der letzte Auftrag durchaus lukrativ.«

»Der, wegen dem du in nach Tschechien gefahren bist?«

»Genau der.« Polonius nahm einen Schluck und badete genüsslich damit seine Zunge, auf dass jede Geschmacksknospe getränkt wurde. »Der Wein ist flüssiges Balsam, fast schon ein Aphrodisiakum. In jedem Fall aber ein Geschenk von Dionysos.«

Dann fasste Polonius Irina an den Bauch, streichelte sie und glitt mit der Hand unter ihr T-Shirt. Die Künstlerin hatte üppige Brüste, die sie nicht selten deutlich zur Schau stellte, da sie trotz ihrer Oberweite eine angeborene Abneigung gegen BHs hatte.

»Warte mal noch ein bisschen«, sagte Irina und schob die Hand wieder weg. »Ich bin noch nicht so weit für Eros. Erst noch ein bisschen Dionysos, sei mir nicht böse.«

Wiederum füllte sie ihr Glas. Sie musste nicht betrunken sein, um mit Polonius zu schlafen. Aber sie war einfach zu verspannt, innerlich verspannt, um an Sex zu denken. Und da konnte der Wein einiges beitragen, damit sich ihre Verspannungen lösten.

Der Goldvogel

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