Читать книгу Der Goldvogel - Werner Gerl - Страница 12

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08 Walker lag auf der Couch und versuchte, jede Bewegung, und sei es auch nur das geringste Zittern, zu vermeiden. Ebenso versuchte er, dem Schmerz eine Farbe und eine Gestalt zu geben. Das war eine Meditationsübung, die er schon des Öfteren erfolgreich angewandt hatte, beispielsweise als ihn ein chronisches Magengeschwür plagte. Dann musste man den visualisierten Schmerz in einen Käfig sperren. Idealerweise würde er so, wenn nicht verschwinden, zumindest erträglich werden.

Doch diesmal half alle Autosuggestion nichts. Das Kopfweh war übermenschlich und ließ sich nicht zähmen, eine Bestie, die den ganzen Menschen terrorisierte.

Aber auch Walkers Seele fand keinen Frieden. Er ärgerte sich maßlos über sich selbst. Zweifellos hatte er seinen Widersacher unterschätzt, ihn für einen Naivling gehalten, den man leicht übers Ohr hauen konnte. Die alte Masche aber hatte nicht gezogen. Oder doch. Im Prinzip war sie erfolgreich. Der Vogel wurde ausgelagert und an einem vermeintlich sicheren Ort versteckt.

Adler, flieg zu deinem neuen Horst, auf dass ich dich abhole, hatte sich Walker gedacht. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass der Horst bewacht würde. Wie oft hatte er diesen Trick schon erfolgreich angewandt? John Bearns, einem Sammler in Los Angeles, hatte er einmal im Auftrag eines japanischen Multimillionärs, eines völlig Verrückten, mit dem er aber mehrere einträgliche Geschäfte machte, ein überaus großzügiges Angebot für ein Samurai-Schwert aus dem 17. Jahrhundert unterbreitet, das dieser nicht ablehnen konnte.

Mithilfe all seiner rhetorischen Künste hatte er Bearns allerdings den Floh ins Ohr gesetzt, dass Yakuzas hinter dem Objekt her seien und ihn überfallen wollten, deshalb müsse er das wertvolle Stück an einem unscheinbaren Ort deponieren, wo es niemand vermuten und deshalb niemand finden würde. Das war Bearns’ Blockhaus am Rande der Mojavewüste gewesen, das er, Walker, selbstverständlich kannte.

Der routinierte Kunstdieb hatte lediglich abzuwarten, bis die Hütte für kurze Zeit leer stand, weil sich der Besitzer ein paar Cheeseburger bei McDonald’s besorgte, und schon schlug er zu. Er hatte sogar noch die Chuzpe besessen, Bearns in Los Angeles aufzusuchen und das Schwert zu verlangen. Mit gespielter Wut und Enttäuschung, ja anklagender Verbitterung hatte er auf die Nachricht reagiert, das Prachtstück sei gestohlen.

Aber auch in seiner goldenen Zeit in den Staaten hatte er sich einmal verspekuliert. Es war ein glatter Einbruch. Alles hatte funktioniert wie am Schnürchen. Das Kaufgespräch mit dem Scheinangebot, die Überlistung der Alarmanlage und die Flucht auf leisesten Sohlen. Bedauerlicherweise hatte die Münzsammlung aus dem 18. Jahrhundert einem Mafia-Paten gehört, der eins und eins zusammenzählen konnte. Plötzlich fand sich Walker auf der Abschussliste wieder.

Und nun lag er mit zertrümmertem Schädel in einem miefigen Keller, starrte die Decke an und ärgerte sich. Wie konnte er nur übersehen, dass der Besitzer des Adlers in seiner Hütte war? Und wie konnte er diesem ohne Not seinen Schlüsselbund zeigen? So war er seiner Dietriche beraubt, der einzigen Möglichkeit, dieses Gefängnis zu verlassen.

Aber sein Widersacher würde den Chevrolet finden und ihn in ein Krankenhaus fahren. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln. Walker versuchte, sich bis dahin abzulenken. Er dachte an einen Tauchurlaub in der Karibik, glitt durch das klare türkisfarbene Meer und sah Papageienfische, Adlerrochen, Riesenschildkröten. Der Schmerz war plötzlich wie verschwunden und sein Bewusstsein löste sich in dem Erinnerungstraum auf. Doch das Klicken des Türschlosses holte ihn schnell in die Gegenwart zurück. Walker öffnete die Augen, versuchte aber ansonsten, sich möglichst nicht zu bewegen.

»Und? Hast du den Wagen und den Vogel gefunden?«, fragte er mit gepresster Stimme.

»Nichts«, lautete die niederschmetternde Antwort. »Du Drecksack. Glaubst du, du kannst mich hier verarschen? In deinem Zustand?« Der Hausherr war sauer, um nicht zu sagen wütend.

»Mann, reg dich ab. Das kann nicht sein, ich …«

»Es ist aber so. Zum letzten Mal: Wo ist mein Vogel?« Der Mann ging zu Walker und packte ihn an der Schulter.

»Im Auto«, schrieb Walker unter höllischen Schmerzen. Daraufhin packte ihn der Mann an den Haaren und zog Walkers Kopf nach oben, dass diesem schlecht wurde und er sich übergab.

»Kerl, mach nicht auch noch eine Sauerei. Ich hab dir gesagt, du kommst nicht eher in ein Krankenhaus, bis ich meinen Vogel wieder habe.«

»Der Türke gestern. Ich hab ihn dem Türken gegeben. Der hat ihn versteckt.«

»Scheiße. Ausgerechnet diesem Kerl. Der ist gefährlich und verdammt schlagkräftig.« Der Mann dachte nach.

»Und was ist mit mir? Ich brauche ein Krankenhaus. So schnell wie möglich, sonst gehe ich drauf.«

»Hör mal, ich mache keine Witzchen. Ich habe dir gesagt, erst den Vogel, dann die Operation. Und sei mir nicht böse, was bist du für ein Meisterdieb? Erst klaust du so etwas Wertvolles und dann lässt du es dir von einem dahergelaufenen Schläger mopsen. Das ist erbärmlich, ehrlich.«

Alles Bitten und Flehen von Walker half nichts. Die Unterredung war beendet. Walker hörte noch, wie sich die Tür schloss, dann fiel er in ein tiefes schwarzes Loch.

Mit einem Block in der Hand kam Mangel in Tischlers Büro. Er hatte seine Fleißaufgaben gemacht und musste seiner Chefin Bericht erstatten.

»Also, es sind heute zwei Vermisstenanzeigen eingegangen. Lisa-Marie Gröblinger, eine sechzehnjährige Schülerin, ist seit letzter Nacht nicht von einer Party nach Hause gekommen.«

»Woher?«, fragte Tischler nach.

»München.«

»Ralf, das ist mir auch klar, dass die nicht aus Castrop-Rauxel kommt, aus welchem Stadtteil?«, entgegnete die Kommissarin unbeherrscht.

»Tschuldigung, dass ich lebe, du hast ja heute eine Stimmung!«

»Welcher Stadtteil?«

»Pasing.«

»Dann scheidet sie wohl als mögliches Opfer aus. Die wird zu irgendeinem Typen nach der Party gefahren sein, aber kaum in eine Kleingartensiedlung am anderen Ende der Stadt. Zweite Vermisstenanzeige?« Tischler war ungeduldig. Sie wollte keine Zeit mit unnützem Geplänkel vergeuden und sie kannte Mangel, der sich gern in abstruse Theorien verwickelte oder sich in Nebensächlichkeiten verbiss.

»Manfred Jordan.«

»Ist hoffentlich letzte Nacht nicht über selbigen gegangen.«

»Was meinst du?«, fragte Mangel nach.

»Nichts. Nur ein Späßchen am Rande. Mach weiter, Ralf«, entgegnete Tischler in versöhnlichem Ton.

»Also, Manfred Jordan, wohnhaft in Berg am Laim.«

»Schau an. Das könnte unser Mann sein.«

»Möglich. Er ist allerdings aus dem Seniorenheim Sankt Michael ausgebüxt.«

»Oh«, bemerkte Tischler, »dement oder hat er die Feinschmeckerküche im Altersheim nicht mehr ausgehalten?«

»Hochgradig dement, aber ich glaube nicht, dass die schlecht kochen. Das sind die Barmherzigen Schwestern«

»Ist in Ordnung, Ralf. Du musst nicht alle katholischen Einrichtungen verteidigen. Wo liegt das Altersheim?«

»Da fällst du von der Kleingartensiedlung zweimal um, dann bist du dort«, erklärte Mangel.

»Wie alt ist Jordan?«

»Sechsundachtzig Lenze.«

»Ralf, hast du heute deinen poetischen? Was kommt als nächstes? Er feierte sein sechsundachtzigstes Wiegenfest?«

»Jaja, mach dich nur immer über mich lustig«, gab Mangel beleidigt zurück. »Ich will halt nicht immer dieselben abgegriffenen Wörter benutzen.«

»Kritik akzeptiert. Soll nicht wieder vorkommen – bis zum nächsten Mal. Aber sag mal, wenn der Knabe sechsundachtzig ist, dann kann ich mir schwerlich vorstellen, dass er mit Kemal in eine Schlägerei verwickelt war«, meinte Tischler skeptisch. Mangel aber grinste wissend.

»Deinem Gesichtsausdruck zufolge siehst du das anders, Ralf, stimmts?«

»Aber freilich. Schau mal, der …«

»Lass mich raten«, unterbrach ihn Tischler und hob die Hand als Bitte, sie brauche noch ein wenig Zeit. »Jordan ist Mitglied einer Bande von Alt-Nazis, die in Sankt Michael einen eingeschworenen Zirkel bilden. Alles alte SS-ler und Hitler-Jungen, die für den Führer heute noch in den Tod gingen. Jordan ist wegen seiner Demenz jedoch ein Problemfall. Denn er weiß zu viel und ist schon debil genug, auch geheimste Geheimnisse auszuplaudern. Also verfolgt man den Flüchtigen und stellt ihn. Leider kommt gerade ein kickboxender Türke, dem man eins aufs Maul geben möchte, aber anständig Prügel bezieht. Bei der ganzen Schlägerei kommt Jordan allerdings zu Tode und seine Waffenbrüder verscharren irgendwo die Leiche.«

»Du hast ja eine blühende Phantasie.« Mangel klatschte Beifall, während Tischler aufstand und sich verbeugte.

»Danke, aber ich kenne dich zu lange, als dass dein Ideenreichtum nicht auf mich abfärben würde.«

»Und wie erklärst du dir in deiner Theorie den Goldstaub auf der Autotür?«, hakte Mangel nach.

»Jordan ist mit einer Goldreliquie, was weiß ich, dem Goldnapf von Hitlers Schäferhund Blondi oder einem seltenen Goldorden ausgebüxt, den die alten SS-Männer unbedingt wiederhaben wollten. Die Reliquie war gewissermaßen ihr Baal, ihr Totem, das sie anbeteten.«

»Deine Geschichte wird immer besser. Ich würde sagen, wir führen einen dieser Entnazifizierungstests aus der Nachkriegszeit durch und schauen mal, ob wir ein paar mittlere Fische ins Netz bekommen.«

»Genau das machen wir. Wir sind schließlich Beamte und dürfen legal unsere Arbeitszeit verblödeln. Im Ernst, mir scheint die Jordan-Spur kalt wie eine Huskieschnauze im Dezember.«

»Mir nicht«, hielt Mangel dagegen. »Ich glaube, dass Jordan bei seinem Streifzug etwas gesehen hat, was er besser nicht gesehen hätte. Einen Raub oder eine Vergewaltigung oder so etwas.« Erwartungsvoll blickte er seine Chefin an.

»Möglich. Mach weiter.«

»Der oder die Täter gehen auf Jordan los und bringen ihn um. Just in dem Moment taucht Kemal auf und mischt sich ein. Er kämpft mit dem Mörder und schlägt ihn vielleicht sogar in die Flucht, verliert dabei aber seine Geldbörse.«

»So weit, so gut. Aber jetzt musst du den Goldstaub erklären.«

»Dann schließen wir die Vergewaltigung aus und beschränken uns auf den Raub. Unser Täter hat etwas Goldenes gestohlen, allerdings nicht den Goldnapf von Blondi. Und schon funktioniert die Geschichte. Und sie ist ausnahmsweise etwas glaubwürdiger als deine Verschwörungstheorie mit den Alt-Nazis.«

»Wirklich? Dabei habe ich dir noch nicht von meiner Vermutung erzählt, dass Hitler im April 1945 von Außerirdischen entführt und als Manfred Jordan ins Altenheim zurückgebracht wurde.« Tischler lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und blickte kurz zur Decke. »Im Prinzip hast du recht, völlig aus der Luft gegriffen ist deine Version nicht. Aber wo ist dann die Leiche geblieben?«

Mangel strich sich übers Kinn und legte die Stirn in Runzeln. »Daran habe ich auch schon gedacht und mir sind da ein paar Ideen gekommen, die ich aber besser noch für mich behalte.«

»Ach nein, Ralf. Ich habe dich doch nicht entmutigt, oder? Mir macht der ganze Job keinen Spaß mehr ohne deine Theorien«, alberte Tischler.

»Nein, ich mach nicht mehr den Kasper für dich. Ich werde einiges selbst recherchieren und dir dann die Ergebnisse präsentieren. Was ich vorhin sagen wollte: Das Problem mit der verschwundenen Leiche haben wir immer, egal ob Jordan am Tatort war oder nicht.«

»Stimmt. Da hast du völlig recht. Wir müssen also von einem Täter ausgehen, einem Opfer und mittendrin unser Kemal, der zu einer für ihn ungünstigen Zeit vor der Kleingartensiedlung auftauchte. Sollte es eine Leiche gegeben haben, hat sie wohl der Täter irgendwann nach der Auseinandersetzung verschwinden lassen.«

»Genau. Und sollte es keine Leiche gegeben haben, sondern nur einen Schwerverletzten, müssen wir uns mal in den Krankenhäusern umhören.«

»Ralf, du sagst es. Du bist also für die nächste halbe Stunde beschäftigt. Viel Spaß beim Telefonieren.« Dann wies sie mit einer Hand zur Tür.

»Wieso muss eigentlich immer ich die niederen Tätigkeiten ausführen?«, maulte Mangel.

»Weil ich zwei Sterne mehr auf meiner Generalsuniform habe, ganz einfach. Außerdem habe ich ein wichtiges Telefonat zu führen.«

Mürrisch verließ Mangel das Büro. Dann griff Tischler zum Telefonhörer. Nach kurzer Wartezeit hatte sie ihren Kollegen vom LKA in der Leitung.

»Barbara, ich bin unter Druck. Brutal unter Druck. Machs kurz.« Oberkommissar Bechthold klang, als würde er gerade auf dem Frankfurter Börsenparkett Aktien für Billionen durch die Welt schaufeln.

»Ist dir das Wörtchen bitte aus dem Vokabular gestrichen worden oder handelt es sich um eine Dienstanweisung, dass man fortan mit den Lokalpolizisten ein bisschen schroffer umspringt?«

»Nein. Sei nicht schon wieder so anstrengend«, seufzte Bechthold. »Bitte.«

Tischler und ihr Kollege vom LKA hatten bislang kaum etwas miteinander zu tun. Eigentlich waren sie sich zum ersten Mal begegnet, als der Fall Olga Sibowska übergeben wurde. Da es Tischler – milde ausgedrückt - gegen den Strich ging, sich von der Morduntersuchung zu verabschieden, war sie bisweilen etwas kratzbürstig, bisweilen aber auch spitzfindig und ironisch, was ihrem Kollegen gehörig auf die Nerven ging.

Er selbst hatte immer versucht, jeglichen Anflug von Arroganz oder Überheblichkeit zu vermeiden und sich zu den Leuten von der Kripo so kollegial wie möglich zu verhalten. Normalerweise wurde dies auch goutiert, bei Tischler war er sich da allerdings nicht sicher. Dennoch mochte er sie, obwohl sie anstrengend sein konnte.

»I will do my very best, Mister Bechthold«, meinte Tischler und berichtete in Kürze von dem leeren Brief und den seltsamen Fingerabdrücken. Gespannt wartete sie auf die Reaktion ihres Kollegen, die freilich ganz anders ausfiel als erwartet.

»Gut und schön. Das ist eine mysteriöse Geschichte. Der Punkt ist der, und deswegen steh ich so unter Starkstrom, wir haben heute Nachmittag einen Zugriff.«

»Bylkow?«, fragte Tischler nach.

»Genau. Er hat sich mit ein paar seiner Getreuen im Norden verschanzt. Wo genau, darf ich dir nicht sagen. Die Bude wird auf jeden Fall heute noch gestürmt.«

»Da würde ich gern mitstürmen. Die Sturmtruppen waren schon in meiner Kindheit mein Lieblingscomic.«

»Nein, Barbara. Das ist nur was für …«

»Für harte Männer, die im Stehen pinkeln? Für LKA-Fuzzies?« Tischler war gespielt aufgebracht. Sie wusste, dass sie eigentlich bei dem Einsatz nichts verloren hatte, aber ein bisschen Empörung hat noch nie geschadet, wenn man ein Ziel erreichen will.

»Nein, aber es ist einfach unser Einsatz.«

»Bitte. Ich halte mich auch brav im Hintergrund und spiele Mäuschen.«

»Nein.« Bechthold klang nicht mehr ganz so ablehnend, was Tischler aufgefallen war.

»Weißt du was, ich bringe dir sofort den Brief vorbei. Das ist schließlich euer Beweisstück. Und ich tue, als wüsste ich von nichts. Du lädst mich für meine Nettigkeit als Gast zur Verhaftungsparty ein. Ist doch eine Superidee, gelle?«

Tischler wartete die Antwort nicht ab, sondern legte sofort auf. Überrumpelungstaktik, dachte sie, klappt manchmal auch bei Polizisten.

Dieser Engel sah aus wie Scarlett Johansson, ja, sie war das Mädchen mit dem Perlenohrring in der Filmversion, also das Zitat des Zitats, wenn man so wollte, oder die Bearbeitung der Bearbeitung. Die etwas blässliche, wie keusche Schönheit mit den sinnlichen Lippen, die fast schon verboten rot leuchteten. Ähnlich wie auf dem Filmplakat, drehte sich Vermeers Muse um und blickte den Betrachter direkt an, als wolle sie ihm ein Geheimnis anvertrauen.

Und jener Engel daneben glich Emily Blunt, hatte also nicht das blütenweiße, antiseptische der klassischen Engel, sah eher aus wie ein Himmelsbote auf Dope, der nicht genau wusste, ob er zufrieden sein sollte mit seiner postmortalen Zuweisung. Vielleicht wäre es in der Hölle doch spritziger gewesen, scheint sich der Blunt-Engel zu denken.

Das Deckenfresko von Polonius’ Wohnung war ein grandioser moderner Himmel, den die Musen des Künstlers bevölkerten. Es konnten Schauspielerinnen oder Sängerinnen sein, aber auch Frauen, die er persönlich kannte, vorrangig solche, mit denen er das Bett geteilt hatte.

Irina fand sich selbst noch nicht auf dem Fresko. Sie war auch gar nicht scharf darauf, hier verewigt zu werden und als Bildtrophäe die Wand zu schmücken. Diese Ehre durfte ruhig anderen zuteil werden. Im Prinzip wusste sie nicht, was sie von dem Deckengemälde halten sollte. Es war eine Mischung aus Edelkitsch und Pop-Art, allerdings eher pubertärer Pop-Art. Die handwerkliche Genauigkeit freilich war verblüffend. Polonius hatte auch Michelangelos delphische Sibylle in seinen Himmel aufgenommen, ein ironisches Zitat, wie er meinte. Tatsächlich war das Gesicht eine nahezu fotografische Replik des Originals, obwohl der Untergrund ein völlig anderer war. Seine Decke in dem Fünfzigerjahre-Bau hatte mit der der Sixtinischen Kapelle nur wenig gemein.

Nachmachen kann er wie kein Zweiter, dachte sich Irina, als sie eine Figur nach der anderen studierte. Sie kannte sie zwar alle, schließlich lag sie nicht zum ersten Mal in Polonius’ Bett, doch entdeckte sie jedes Mal wieder neue Details.

Der Künstler selbst war, wie immer, nach dem Sex eingeschlafen. Der mit dem Samenerguss einhergehende Energieverlust führte bei ihm zu jäher Müdigkeit. Irina dagegen war nach dem Sex frisch, störte sich aber nicht daran, dass Polonius schlief. Wenn überhaupt, nervte sie sein Gegrunze. Polonius schnarchte nicht, er machte die Geräusche eines sich suhlenden Hausschweins. Allein das hinderte Irina am Einschlafen.

Nach einer knappen halben Stunde meldete sich das Handy des Künstlers. Es befand sich in der Tasche seiner schlabbrigen Hose, die neben der Matratze lag, ein Bett hielt der Künstler für überflüssig wie spießig. Er hatte »Die Moldau« aus Smetanas »Mein Vaterland« als Klingelton einprogrammiert, ein patriotischer Tribut an seine tschechische Heimat. Nach wenigen Takten beendete Polonius sein Grunzen und streckte sich.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte ihn Irina.

»Bin nicht erreichbar«, grummelte Polonius. Er machte keine Anstalten, an das Handy zu gehen. Stattdessen drehte er sich um und streichelte Irinas rechte Brust, seinen Lieblingsbusen, wie er immer betonte.

Kaum war das Handy wieder verstummt, meldete sich das Festnetztelefon. Nach fünf Klingeltönen schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Die Stimme, die nach der Ansage erklang, ließ den Künstler plötzlich hellhörig werden. Der Mann forderte Polonius auf, sofort an den Apparat zu gehen, was dieser auch tat.

Nackt stand er auf und ging zu dem Hörer. Dabei tropfte noch etwas Sperma auf den Boden.

»Mann, ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht mehr anrufen«, sagte Polonius sichtlich angefressen. Dann ging er ins Nebenzimmer, wo ihn Irina nicht mehr hören konnte. Es war auch nicht ihre Neugier, die sie aus dem Bett trieb, sondern nur ein jäher Anfall von Durst. Dennoch wurde sie hellhörig bei den Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte.

»Spinnst du? Das dauert mindestens drei Wochen. Und dann ist es vielleicht noch Pfusch. Ein Experte kennt es auf jeden Fall.« Polonius war wütend auf den Anrufer und dessen Anliegen, das spürte Irina. Aber ihr Anblick erfreute ihn auch nicht gerade.

»Wart mal kurz«, sprach er in den Hörer und wandte sich Irina zu. »Schätzchen, ich telefoniere gerade. Siehst du das? Und ich will nicht gestört werden, klar?«

Mit einer unfeinen Handbewegung bedeutete er ihr, dass sie wieder in das Schlafzimmer verschwinden sollte. Aber Irina hatte ihren Stolz und holte sich erst eine Flasche Wasser aus der Küche. Solange hielt Polonius die Sprechmuschel bedeckt. Er telefonierte erst weiter, als sie weg war. Eigentlich hatte Irina noch Lust auf eine zweite Runde gehabt, doch die war ihr nun vergangen.

Der Goldvogel

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