Читать книгу Der Goldvogel - Werner Gerl - Страница 5

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01 Als Kemal Üzli erwachte, hatte er sofort das ungute Gefühl, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Genau genommen war das bei ihm der Regelfall. Denn immer schlug der Blitz ein, dieser grelle Blitz, der die ganze bunte Welt des Traumes in ein weißes Nichts verwandelte. Seit drei Jahren, seit jenem schicksalshaften, schwülen Junitag, als sich Kemal die Laufschuhe band, um seine weite Runde im Perlacher Forst zu drehen.

Er, der Modell-Athlet, der ein Sport-Gymnasium absolviert hatte und fit wie ein ganzes Regal Turnschuhe war, kannte kein schlechtes Wetter. Er lief bei Schnee und Wind, bei Regen und brüllender Hitze. Nur vor einem Gewitter hatte auch er Respekt. Doch dieses zog so jäh und unvermutet auf, dass er es nicht einmal mehr bis zum Stadtrand schaffte.

Der Blitz schlug rund zehn Meter vor ihm ein. Ein Ausläufer traf ihn und schleuderte ihn zu Boden. Ohnmächtig lag er stundenlang auf dem regengetränkten Waldboden, bis ihn ein Jäger fand und ins Krankenhaus fuhr. Nur seiner guten Konstitution hatte er sein Überleben zu verdanken. Doch unbeschadet überlebte er diese persönliche Naturkatastrophe nicht. Er ließ sein Kurzzeitgedächtnis im Perlacher Forst. Während er sich also an jeden Schülerstreich, an seinen ersten Rausch, da war er bereits volljährig, und an die erste Nacht mit Seda erinnern konnte, war jeder vergangene Tag mit dem nächsten Sonnenaufgang ausradiert wie eine misslungene Zeichnung.

So wurde jeder Morgen zu einem neuen Abenteuer und zu einer Suche nach dem Gestern. Als Kemal Üzli an jenem Apriltag erwachte, spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Seine rechte Wange war geschwollen. Schlurfenden Schrittes ging er ins Bad und betrachtete sich eingehend im Spiegel. Er hatte zweifelsfrei einen Schlag abbekommen. Das war für einen Kickboxer nichts Ungewöhnliches, nur trug er beim Training einen Kopfschutz, es musste also in seiner Freizeit gewesen sein, vermutlich in der Nacht, da die Wunde unbehandelt war. Er schmierte ein wenig Bepanthen auf die Schwellung, nachdem er sich das Gesicht eiskalt gewaschen hatte.

Nun fühlte er sich frisch. Der Tag konnte beginnen. Doch als er energiegeladen zurück in das Schlafzimmer ging, war ihm, als würde ihn wieder ein Blitz streifen. Seine Kleidung, die er achtlos auf den Boden geworfen hatte, war blutverschmiert, zumindest die Jacke und die ausgewaschene Jeans. Aber auch auf dem blauen Adidas-Pullover befanden sich dunkle Spritzer.

Er kniete sich nieder und nahm seine Hose in die Hand. Es war zweifellos Blut. Die Kniepartie war jedoch auch voller Dreck. Offensichtlich hatte er am Boden gelegen, vermutlich hatte er gekämpft. Doch nicht das kleinste Bild wollte durch die weiße Wand, die den Morgen vom gestrigen Tag abtrennte, kommen. Die Erinnerung an einen Kampf war völlig ausgelöscht.

Schwer atmend ging er in die Wohnküche, um sich einen Kaffee zu machen. Auf dem rechteckigen Küchentisch aus Nussbaumholz lagen sein Block und ein FC Bayern-Kugelschreiber. Er notierte oft wichtige Ereignisse des Tages, bevor er zu Bett ging, um diese nicht zu vergessen. Von weitem sah er, dass er sich offensichtlich auch in der letzten Nacht noch ein paar Notizen gemacht hatte. Fast ängstlich blickte er auf den Zettel. Ein eisiger Schauer durchzuckte ihn, als er den Text las: »Habe vielleicht Mord gesehen.«

Der Goldvogel

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