Читать книгу Der Goldvogel - Werner Gerl - Страница 7

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03 Und jetzt ran an die Hakenkreuze, dachte sich Georg von Taubenberg, als er vor der altehrwürdigen Villa Harrt stand. Er hatte seinen maßgeschneiderten 1200-Euro-Anzug als passende Hülle für das Treffen mit Albert Harrt erachtet. Man musste bereits durch das Auftreten beeindrucken, so lautete sein nicht sonderlich originelles Geschäftscredo. Doch reich wurde man nicht unbedingt mit Innovationen, sondern indem man bewährte Methoden perfektionierte. Das war sein zweites Geschäftscredo. Und dass es in der Villa Harrt einiges zu holen gab, davon war er überzeugt.

Der Antiquitätenhändler, der sich auf Militaria und die Zeit des Nationalsozialismus spezialisiert hatte, war perfekt auf den Termin vorbereitet. Sein Haar war frisch nachgeschnitten, ein Scheitel, aber mit Schwung, so dass er seriös, doch nicht spießig wirkte, aber jede Spitze an ihrem angestammten Platz saß. Eine Seidenkrawatte, Mundwasser, dezentes Eau de Toilette und er fühlte sich selbst frisch und unternehmungslustig, als er vor der alten Villa die Klingel drückte. Er sollte diese kleine Aktion mehrfach wiederholen, bis er endlich auf Gehör stieß und sich das eiserne Tor mit einem Summen öffnete.

Der Weg hin zur Villa war mit Steinplatten gesäumt, der Garten noch welk in dieser Jahreszeit. Vermutlich hatte sich seit dem Tod des alten Harrt auch keiner darum gekümmert. Das Gras dagegen war bereits saftig grün, hatte es allerdings dringend nötig, endlich gemäht zu werden. Georg von Taubenberg achtete auf all diese Details. Sie sagten ihm, dass der Enkel des »Todeshammers» ein nachlässiger Mensch war, der sich nicht mit der nötigen Akribie und Liebe um das Erbe kümmerte. All das bestätigte ihn in seiner Meinung, er könne Albert Harrt ausnehmen wie eine Weihnachtsgans.

Wer den Garten verlottern lässt, kann kein akkurater Mensch sein, da war sich der Antiquitätenhändler sicher. Dass der Hausherr freilich einen derart derangierten Eindruck machte, erstaunte ihn dann doch. Albert Harrt sah ein wenig wie sein eigenes Gespenst aus, ein Avatar auf einem defekten Monitor. Er hatte ein Veilchen unter dem rechten Auge, das erst in den nächsten Tagen seine ganze Blütenpracht entfalten würde, dazu eine Nase, die aufgrund ihrer Schwellung fast schon einem Schweinerüssel glich. Ferner war er ungeduscht und unrasiert. Offensichtlich hatte Albert Harrt eine kurze Nacht hinter sich und noch keine Zeit gefunden, sein Äußeres dem zivilisierten Standard anzupassen.

»Komme ich ungelegen?«, fragte Georg von Taubenberg und zog distinguiert die Augenbrauen hoch. Er hatte keinesfalls vor, seinen Besuch zu verschieben, ganz im Gegenteil, die schlechte Konstitution seines Geschäftspartners konnte ihm gerade recht sein, aber er fand, die Frage war ein Zeichen des Anstands.

»Nein«, antwortete der Hausherr matt. Seine Stimme klang rau und verschleimt, offensichtlich war er Kettenraucher. »Kommen Sie.«

Mit einer einladenden Geste bat Harrt seinen Gast herein. Bei jedem Schritt von Harrt fiel auf, dass ihm offensichtlich auch andere Knochen als die im Gesicht schmerzten. Selbstverständlich brannte es Georg von Taubenberg unter den Nägeln, den Grund für diese Verletzungen zu erfahren, doch solche Indiskretionen vermied er. Aristokratisches Auftreten war ihm wichtig, wenngleich er wusste, dass man dies nicht übertreiben durfte. Jeder Anschein von Snobismus würde von den Geschäftspartnern nicht goutiert werden und ein Unterlegenheitsgefühl durfte man ebenfalls nicht vermitteln. Doch von Taubenberg hatte kein Problem mit seiner Rolle, schließlich hieß er mit bürgerlichem Namen Georg Hintermeier und sein Vater war kein Blaublütler, sondern Metzgermeister.

Allerdings war bei ihm der Schein dem Sein gleichwertig. Denn natürlich kannte sich der Händler auch mit den historischen Details aus, mit jedem Dienstgrad und Orden, jeder Waffe und jedem Abzeichen. Und er kannte die Preise. Georg von Taubenberg war ein wandelnder Katalog, der einem Gesamtverzeichnis nahe kam.

Der Gang und die Diele enttäuschten von Taubenberg. Das war nichts als der Muff der Adenauerzeit, stehengebliebene Fünfzigerjahre. Der alte Harrt hatte vor keiner Scheußlichkeit zurückgeschreckt. Braune Wandtapeten mit Glöckchenmuster, wuchtige Polstermöbel, die man nicht einmal den Holzwürmern zum Fraße vorwerfen wollte, und Vorhänge, die wohl einst dottergelb waren, eine Farbe, die auch eine Überdosis des besten Waschmittels nicht mehr zu restaurieren vermochte.

Hier hatte also Karl Friedrich Harrt gelebt, genannt der Todeshammer, weil er mit seinen Faustschlägen töten konnte. In Lettland, bei einem seiner seltenen Auslandseinsätze, soll er an einem Tag fünf Juden erschlagen haben. Und das auf dem Marktplatz unter dem Gejohle der Menge. Es waren nicht nur SS-Kameraden, die ihm zujubelten. Auch die Einheimischen verbargen ihren Antisemitismus keineswegs und sorgten für Stimmung wie bei einem Boxkampf. Ja, die Deutschen wurden im Baltikum zunächst als Befreier begrüßt. Der Hass auf Russen und Juden einte die Slawen und die Deutschen, zumindest in den ersten Jahren der Besetzung.

»Möchten Sie Tee oder Kaffee?«, fragte Harrt seinen Gast. Jedes Wort wirkte bei ihm wie ein Stöhnen.

»Danke«, lehnte dieser ab. »Sie verzeihen mir meine berufliche Neugier, aber ich würde doch zu gern gleich den Nachlass Ihres Großvaters inspizieren.«

»Der gesamte Nazi-Kram ist in einem Zimmer im ersten Stock«, erklärte Harrt und wies den Weg zur Treppe. Schwerfällig ging der Enkel des SS-Obersturmbannführers voran.

»Ich kaufe und verkaufe keinen Nazi-Kram, Herr Harrt.« Den Seitenhieb konnte sich von Taubenberg nicht verkneifen.

»Wie sagen Sie dann zu dem alten Zeug?«

»Ich bevorzuge die Begriffe Militaria und historische Gegenstände aus der Zeit des Nationalsozialismus. Mein Kundenstamm rekrutiert sich auch keineswegs aus Anhängern rechtsradikalen Gedankenguts. An die braune Horde würde ich nicht das verbogenste Eiserne Kreuz verkaufen.«

Tatsächlich war diese Aussage nur halb gelogen. Die politische Gesinnung seiner Kunden war von Taubenberg so egal wie der berühmte Reissack, der so oft in Peking umfällt, allerdings kamen die Käufer für seine NS-Devotionalien aus aller Herren Länder. Zumeist waren sie äußerst finanzstarke Sammler.

»Sie glauben nicht, wie viele Scheichs ganz wild beispielsweise auf das Porzellan aus Hitlers Teehaus sind. Aber auch die Amerikaner kommen in Scharen. Reiche Amerikaner.«

»Und die wollen Tassen, in die Hitler seinen Deppenbart getaucht hat?«

»Oh ja. Und bei mir zu Hause in Berchtesgaden sitze ich gewissermaßen an der Quelle, was die Überbleibsel aus dem ganzen Führerkosmos Obersalzberg anbelangt. Tischdeckchen, Teller, Flaschen, alles findet seine Käufer, wenn es nur einmal in der Nähe Hitlers war.«

»Zum Kotzen«, lautete der einzige Kommentar von Harrt.

»Ich selbst empfinde größte Abscheu vor diesem schlimmsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte, bitte, nicht dass Sie mich falsch verstehen.« Ein kleines ethisch-moralisches Feigenblatt konnte von Taubenberg nicht schaden, zumal es stimmte, dass er keinerlei Sympathie für den Weltkriegsgefreiten und selbsternannten Gröfaz hegte. »Ich handle mit historischen Gegenständen, nichts weiter.«

Harrt antwortete nichts mehr darauf. Er machte immer noch den Eindruck, als würde ihn nicht nur jede Bewegung, sondern auch jedes Wort schmerzen. Vor der letzten Tür im Gang des ersten Stocks blieb er stehen, zog einen Schlüssel heraus und sperrte auf.

»Das Führerzimmer, so hat es mein Opa immer genannt.«

Von Taubenberg konnte seine Vorfreude kaum mehr verbergen. In solchen Momenten fühlte er sich wie einst als kleiner Bub bei der weihnachtlichen Bescherung. Welche Geschenke, welche Schätze mochten auf ihn warten? Diese waren freilich nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Woher das Zimmer seinen Namen hatte, allerdings schon. An den Wänden hingen Hakenkreuzfahnen, mehrere vergilbte Hitler-Fotografien und eine Standarte der Waffen-SS. Das waren Originale, keine billigen Nachdrucke oder Kopien aus England, wie von Taubenberg natürlich sofort erkannte. Er versuchte seine Erregung zu verbergen, sie war schlecht fürs Geschäft, denn sie trieb im schlimmsten Fall die Preise nach oben. Er setzte nun sein Pokerface auf.

»Dann wollen wir uns doch einmal alle Stücke einzeln anschauen«, sagte von Taubenberg und trat in das Zimmer. Es roch stickig und abgestanden. Wahrscheinlich war seit dem Tod des alten Harrt vor rund drei Monaten nicht mehr gelüftet worden. Der Enkel öffnete deshalb ein Fenster.

»Beginnen wir mit dem SS-Zeug«, schlug Harrt vor und ging auf einen Kleiderschrank zu. In ihm hingen diverse SS-Uniformen und Mäntel. Sie machten einen gepflegten Eindruck, die Motten hatten sich offensichtlich noch nicht an ihnen gütlich getan.

Der schwere Feldmantel, zweireihig geknöpft, war kaum getragen. Nur der Kragen war ein wenig abgewetzt. Er hing neben einer Uniform für das Lagerpersonal. Der Todeshammer war nämlich zwei Jahre in Dachau stationiert und gefürchtet gewesen. Auch diese Uniform war in bestem Zustand. Sie wies die originalen Schulterklappen der SS auf, im Kragenspiegel befanden sich SS-Runen und am Ärmel der Adler. Und der Totenkopf vorne durfte natürlich nicht fehlen.

Vorsichtig schlug von Taubenberg das Revers auf. Das Innenfutter war im Fischgrätenmuster. Aufgenäht war der SS-Bekleidungsstempel, das Gütesiegel schlechthin. Zumindest für den Sammler.

Von Taubenberg schätzte, dass ihm die drei Uniformen und die beiden Mäntel gut und gern 20.000 Euro einbrachten. Bis auf eine Jacke waren alle in tadellosem Zustand. Selbstverständlich nahm er vorsichtig das eine leicht verschlissene Stück und mäkelte daran herum.

»Die Note eins kann ich für diese Stücke natürlich nicht erteilen, sehen Sie hier, die Naht ist notdürftig repariert worden, der Stoff insgesamt schon arg abgewetzt.« Von Taubenberg verzog das Gesicht und wippte mit dem Kopf hin und her. »5.000 Euro für alle Stücke, mehr fürchte ich, kann ich Ihnen nicht bieten.«

»Dann fürchte ich, kann ich Ihnen nur anbieten, das Haus schnellstens wieder zu verlassen«, entgegnete Harrt schroff. »Ich bin zwar kein Experte wie Sie, aber ich habe Internet. 15.000 Euro und keinen Cent weniger.«

Von Taubenberg verdammte innerlich die Segnungen der modernen Technik. Seit die kleinste Kleinigkeit über jeden und alles online nachzulesen war, konnte er eigentlich nur noch Leute über fünfundsechzig übers Ohr hauen. Man einigte sich schließlich auf 11.500 Euro und ging über zu den kleineren Stücken.

Der alte Harrt hatte selbstverständlich mehrere Auszeichnungen und Orden verliehen bekommen, darunter die germanische Leistungsrune in Bronze. Das war ein geschwungenes, gerilltes Hakenkreuz, auf dem die Siegrune der SS prangte. Die Auszeichnung, die 1943 von Himmler eingeführt worden war, war nur Mitgliedern der Waffen-SS verliehen worden. Nicht nur deshalb erfreute sie sich bei Sammlern äußerster Beliebtheit, sondern auch weil die Siegrune in Deutschland verboten war.

Von Taubenberg spürte immer ein Kribbeln, so etwas wie die Magie der Geschichte, wenn er solche Originalgegenstände in der Hand hielt. Das Leuchten in seinen Augen intensivierte sich, als er die Alben mit Postkarten und Fotografien durchblätterte. Beliebte Motive waren rauchende SS-Männer mit Schäferhunden und Gefangenen, oft in heroischen Posen oder Kameradschaft und Zusammenhalt demonstrierend. Die Sammlung sparte nicht mit brutalen Bildern des Krieges. Erhängte Partisanen, erschlagene Juden, gefolterte Kommunisten. Und immer grinsten die SS-Männer.

Der Handel mit solchen Fotos war allerdings auch sechsundsechzig Jahre nach dem Krieg immer noch nicht unproblematisch, da die Abgebildeten – und nicht selten auch deren Nachkommen – wenig Wert darauf legten, dass von ihren Verbrechen etwas bekannt wurde. Man hatte sich die Weltkriegszeit schön gelogen, viele hatten es nach geraumer Zeit sogar selbst geglaubt, dass sie lediglich Mitläufer waren und niemandem etwas Böses angetan hatten. Nur unter vorgehaltener Hand kam der Zusatz, zumindest niemandem, der es nicht verdient gehabt hätte.

Die Schmuckstücke der Sammlung aber waren die Fotos vom Obersalzberg. Der alte Harrt war nämlich in den letzten beiden Jahren zur Leibwache Hitlers abkommandiert worden. Rund ein Dutzend Bilder zeigten den Führer in der idyllischen Alpenlandschaft.

»Hitler hat rund ein Drittel seiner Zeit als Diktator auf dem Obersalzberg verbracht«, dozierte von Taubenberg. »Das muss man sich vorstellen. Ein Mann erklärt der Welt den Krieg und spaziert über blühende Almwiesen.«

»Während seine Leute in Russland verrecken«, ergänze Harrt. »Ich war selbst mal dort, hab mir alles angeschaut. Dieser Dreckskerl schlief bis Mittag, aß gemütlich seine Gemüsepfannen und dann ging er mit seinem Schäferhund Blondi und seiner Eva spazieren. Unglaublich, der selbst ernannte größte Feldherr aller Zeiten war die größte Schnarchnase aller Zeiten.«

»Wahr, wahr. Andere Welteroberer waren da aus ganz anderem Holz geschnitzt. Napoleon wurde einmal bei einer Schlacht der Zeh weggeschossen und er verlangte nur nach einem neuen Stiefel. Oder nehmen Sie Alexander den Großen. Der kämpfte immer an vorderster Front. Einmal übersprang er sogar eine Stadtmauer, ohne auf seine Mitstreiter zu warten und sah sich einer Übermacht von Feinden gegenüber. Aber …«

»Bitte keine Geschichtsstunde«, unterbrach Harrt die Ausführungen des Militariahändlers. »Lassen Sie uns beim Geschäftlichen bleiben.«

Dann feilschten die Männer über den restlichen Nachlass des Obersturmbannführers Karl Friedrich Harrt. Man einigte sich auf 22.000 Euro und regelte die Zahlungsmodalitäten.

»Aber eine Frage hätte ich da noch, Herr Harrt«, hob von Taubenberg an, als der Deal bereits beschlossen war. »Wie ich aus gut unterrichteten Kreisen erfahren habe, besitzen Sie noch ein besonderes Stück, ein Stück, das Sie mir vorenthalten haben.«

Albert Harrt stutzte. Er wirkte irritiert, tat aber so, als wüsste er von nichts.

»Ich habe Ihnen alles gezeigt«, behauptete er. »Was für ein Stück soll ich denn noch besitzen?«

»Ein besonderes. Ein Stück, das Ihr Großvater von Hitler kurz vor Kriegsende bekommen haben soll, ein Stück, um das sich viele Legenden ranken.«

»Tut mir leid«, Harrt zuckte mit den Achseln, »davon weiß ich nichts.«

Du Bastard lügst doch wie gedruckt, aber dir werde ich die Würmer schon noch aus der Nase ziehen, dachte sich von Taubenberg, als er das Führerzimmer verließ. Von dem Braten schneide ich mir eine Scheibe ab.

Jens Neureuther war ein Gemütsmensch. Nichts konnte ihn leicht aus der Ruhe bringen. Geduld, diese bisweilen fast unmenschliche, weil den Affekten und Leidenschaften widerstrebende Tugend, hatte er im Überfluss. Sicher, für seinen Beruf war sie unabdingbar. Denn Jens Neureuther war Logopäde. Und die Heilung von Sprachstörungen aller Art verlief meist langsam und zäh. Als Weinbergschnecke, die sich zu einem Marathon aufmachte, so sah Neureuther viele Patienten und ihren langen Weg, wenngleich er sehr wohl wusste, dass die schlimmsten Fälle nie ihr Ziel erreichen würden, die Schlaganfallpatienten beispielsweise, die unter völliger Aphasie litten.

Kemal Üzli dagegen machte Fortschritte. Er hatte seine Sprachstörungen bereits mehr oder weniger überwunden. Nebensätze kamen ihm wieder problemlos über die Lippen, auch einmal etwas verschachtelte Sätze und das eine oder andere Bonmot. Nur Geduld musste man mit ihm haben und ein gutes Ohr, denn Kemal sprach ausgesprochen langsam und leise. Hier setzte Neureuther an.

Insgesamt war Kemal freilich ein Musterpatient, der dem Logopäden zeigte, wie sinnvoll und fruchtbar seine bisweilen so mühselige Arbeit sein konnte. Doch an diesem Vormittag stutzte Neureuther, als er Kemal sah. Es waren nicht nur die offensichtlichen Hinterlassenschaften einer Schlägerei, die ihn beunruhigten. Sein Patient wirkte fahrig und nervös, so nervös, dass er das Verb an die falsche Stelle setzte oder nach Wörtern rang, was ihm lange schon nicht mehr passiert war.

»Kemal, was ist los mit dir?«, fragte Neureuther mit seiner sonoren, beruhigenden Stimme.

Der leidenschaftliche Kickboxer schluckte. Man sah ihm an, wie er sich die Worte zurechtlegte, bevor er sie aussprach, genauer genommen aushauchte, so leise war er an diesem Vormittag. Er berichtete dem Therapeuten von der Nachricht, er habe einen Mord gesehen, und der blutverschmierten Kleidung.

»Du musst zur Polizei gehen«, forderte ihn Neureuther auf. Er wusste, wie gewissenhaft Kemal war und dass dieser nicht leichtfertig oder gar, um anzugeben von einem möglichen Mord sprach.

»Traue ich mich nicht«, flüsterte Kemal und blickte zu Boden. »Kann rede nichts.«

»Das ist falsche Scham. Du kannst doch sprechen. Mit mir geht es doch auch.«

»Polizist aber …« Kemal schüttelte nur den Kopf.

Neureuther versuchte, seinem Patienten Mut zuzusprechen, doch es half nichts.

»Sie …«, Kemal richtete seinen Blick wieder auf, »Sie kommen Polizei.«

»Ich?« Neureuther blickte ihn erstaunt an. Dann nahm er seinen Terminkalender zur Hand und zeigte ihn Kemal. »Ich fürchte, ich habe keine Zeit. Siehst du? Ich bin den ganzen Tag verplant.«

»Noch ein Problem«, flüsterte Kemal, dem man anmerkte, wie schwer er sich jedes Worte aus den Rippen schneiden musste. »Hab bei Kampf verloren …«

»Na, das macht doch nichts. Ich weiß, du bist ein stolzer Kickboxer, aber trotzdem nicht unbesiegbar.«

»Nein. Habe verloren Geldbeutel. Mit Ausweis und alles.«

Neureuther dachte kurz nach und pfiff leise aus. Das veränderte die Situation natürlich. »Das heißt, dass der Mörder, wenn es denn einen gibt, vielleicht weiß, wer du bist.«

Kemal nickte.

»Und er hält dich für einen Augenzeugen?«

Kemal nickte wiederum.

»Dann lass uns gehen. Den nächsten Termin muss ich eben verschieben«, sagte Neureuther kurz entschlossen, stand auf und holte seine Jacke.

»Danke«, hauchte Kemal kaum vernehmbar.

Wer bei Föhn auf den Besucherhügel des Ostparks geht, dem bietet sich ein bizarrer Anblick. Einerseits genießt er ein grandioses, nachgerade erhabenes Alpenpanorama. Mit den Beinen noch in der Großstadt verwurzelt, sieht er von der Ferne, wie sich Berg an Berg reiht. Jedem Naturfreund wärmt dieser Anblick, auch wenn noch Schnee die Gipfel bedeckt, das Herz. Es erkaltet jedoch schnell, sobald er seinen Fokus auf den Vordergrund richtet. Dort reiht sich ein kahles, an Hässlichkeit kaum zu überbietendes Hochhaus an das andere und verbindet sich zur schlimmsten Betonwüste Münchens.

Neuperlach, in den Sechzigerjahren als größte Satellitenstadt der Bundesrepublik geplant, ist heute eine Stadt in der Stadt, die für rund 55.000 Menschen Platz bietet und als einer der größten sozialen Brennpunkte der bayerischen Landeshauptstadt gilt. So wenig erinnert hier an alle weißblauen Klischees, dass man den Stadtteil jederzeit in eine x-beliebige Großstadt verpflanzen könnte.

Hier wohnte auch Kemal Üzli. Er hatte ein kleines Ein-Zimmer-Appartement in der Nähe des Karl-Marx-Rings, nachdem er mit neunzehn, kaum hatte er sein Abitur in der Tasche, ausgezogen war. Parkplätze, das unterschied das Viertel auch stark vom Zentrum Münchens, gab es in weiten Teilen Neuperlachs genügend, so auch vor Kemals Mietshaus. In einer breiten Lücke konnte Jens Neureuther seinen roten und bereits ziemlich betagten Ford Fiesta bequem parken. Dann begleitete er Kemal in dessen Wohnung.

Auf den Steinfliesen hallten ihre Schritte, obwohl beide Turnschuhe trugen. Eigentlich quietschten sie vielmehr, doch jedes Geräusch in diesem dumpf ausgeleuchteten Gang hallte unweigerlich. Als die beiden vor Kemals brauner Holztür mit dem üblichen Spion in der Mitte standen, meinte Neureuther so etwas wie Angst bei seinem Patienten zu spüren. Wortlos legte er ihm kurz die Hand auf die Schulter, um ihm Mut zu machen.

Kemal spannte seinen Körper. Er war darauf gefasst, dass jemand hinter der Tür auf ihn lauerte. Das würde ihm einen Vorteil verschaffen. Seine Geistesgegenwart, seine hundertprozentige Konzentration im Kampf, das hatte ihm schon viele Siege eingebracht und dieses Talent vermochte auch sein Unfall nicht zu schmälern.

Vorsichtig betraten sie das Appartement. In dem kleinen Flur war alles wie gehabt. Ein paar Jacken, zumeist aus Jeans und billigem Leder, hingen an einem wackeligen Kleiderständer. Es roch ein wenig muffig, abgestanden, aber das lag daran, dass es bis zum Eingang so schlecht durchzog.

Dann gingen sie wortlos in das Zimmer, das gleichzeitig Schlaf-, Wohnund Essraum war. Auf den ersten Blick war auch hier alles unverändert. Auf dem Bett, das genau genommen lediglich aus einer Matratze auf dem Boden bestand, lag noch die zusammengeknüllte Decke mit der FC Bayern-Wäsche und ein zerknautschtes Kissen, Zeugen eines unruhigen Schlafes.

Die Wohnung war nicht in penibler Ordnung, aber auch nicht verlottert. Es war eine ganz normale Single-Bude eines jungen Mannes. Seine Beziehung zu Seda hatte sich in den Monaten nach dem Unfall verschlechtert und war schließlich in die Brüche gegangen. Und seine Mutter, die sich um die jüngeren Geschwister kümmern musste und noch halbtags arbeiten ging, wollte er nicht überstrapazieren. Aber die nötigsten Hausarbeiten erledigte Kemal selbst.

»Alles in Ordnung?«, fragte Neureuther, dem die Anspannung seines Schützlings nicht entgangen war. Doch Kemal wies ihn mit einer Handbewegung an, nichts zu sagen. Leise ging er auf das Bad zu und öffnete vorsichtig die Tür. Mit einer schnellen Bewegung sprang er dann hinein und ging sofort in Kampfstellung. Doch umsonst. Niemand hatte sich in seinem Bad versteckt. Kemal atmete auf und ging wieder zurück.

»Du hast Angst?« Neureuther wusste, dass er einen wunden Punkt bei dem stolzen Kämpfer ansprach.

»Nicht Angst, aber du musst gefasst sein. Immer. Auf alles.« Das kaum hörbare Flüstern stand in krassem Gegensatz zu dem entschlossenen Gesichtsausdruck des erfahrenen Kickboxers.

»Hat sich etwas verändert? Ich meine, glaubst du, dass jemand hier war?«

Kemal schüttelte nur den Kopf. Neureuther sah den kleinen Haufen blutverschmierter Kleidung am Boden und ging darauf zu.

»Das ist Beweismaterial. Unter Umständen zumindest. Wir sollten die Klamotten in eine Plastiktüte packen und am besten nur mit Handschuhen anfassen.«

Wortlos ging Kemal zu seinem Küchenschrank, holte eine große Kaufhof-Tüte hervor und Plastikhandschuhe. Er streifte sie über und packte die Kleidungsstücke vorsichtig in die Tüte. Die schmutzverkrustete Jeans, die abgewetzte Lederjacke, den blauen Pullover.

»Unterwäsche auch?«, fragte Kemal verlegen.

»Ich bin kein Polizist, aber sicher ist sicher. Vielleicht finden sich ja an den Socken noch Spuren.«

Wortlos stopfte Kemal auch noch seine Boxershorts und seine Socken in die Tüte.

»Dann fahren wir mal«, meinte Neureuther und wandte sich zum Gehen. In diesem Moment klingelte das Telefon. Die beiden Männer verharrten kurz in ihrer Position und blickten sich an.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte Neureuther, wenngleich ihm die Antwort im Prinzip klar war.

»Machen Sie, bitte«, antwortete Kemal.

Der Logotherapeut schaute sich das Display an und prägte sich die Nummer ein. Es war eine Münchner Nummer.

»Ja hallo«, meldete er sich mit fester Stimme.

Es kam zunächst keine Antwort. Man hörte nur Hintergrundgeräusche, vor allem das Rauschen des Straßenverkehrs.

»Hallo«, sagte Neureuther bereits wesentlich lauter. »Ist da jemand?« Dann vernahm er ein leises Atmen.

»Bin ich dort bei Üzli? Kemal Üzli?«

Der Mann sprach mit verzerrter Stimme, das war eindeutig. Er versuchte, ein wenig wie Charles Bronson nach einer durchsoffenen Nacht zu klingen, rau und heiser.

Neureuther hatte die Lautsprechfunktion aktiviert, sodass Kemal mithören konnte. Fragend blickte er seinen Patienten an. Dieser nickte wiederum.

»Ja, hier ist Kemal. Was gibts?« Neureuther versuchte, so leger wie möglich zu reden, um glaubwürdig zu klingen.

»Du bist nicht Kemal, Arschloch.« Dann klickte es in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt.

Der Goldvogel

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