Читать книгу »Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland - Werner Rosenzweig - Страница 24

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Müselüm Yilmaz war höchst verwirrt und immer noch zornig. Lange hatte er mit Akgüls Vater am Telefon gesprochen. Er hatte eine unbändige Wut auf diesen Deutschen, der ihm Akgül weggenommen hatte. Seine Akgül. Sie war ihm versprochen worden. Nun wollte sie nichts mehr von ihm wissen, hatte Ahmet gesagt. Lieber bliebe sie Jungfrau, hatte sie gesagt. Zumindest dieser Satz hatte in Müselüm eine gewisse Erleichterung hervorgerufen, denn er hatte die attraktive Akgül noch nicht aufgegeben. Er würde um sie kämpfen. Das hatte er sich vorgenommen. Aber dann erzählte ihm Ahmet Özkan, dass er mit den Gedanken spiele, seine ungehorsame Tochter gegebenenfalls in die Türkei zurückzuschicken. Nach Urfa zu ihrer Großmutter. Nach Urfa wollte Müselüm Yilmaz auf keinen Fall, das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Was sollte er denn in diesem Provinznest am Arsch der Welt? Soweit würde seine Zuneigung zu Akgül nun auch wieder nicht gehen. Vielleicht lief ja etwas mit dieser Deutschen? Mit dieser Doris Kunstmann, die sich bei ihm telefonisch gemeldet hatte. »Der Walter, der dir die Akgül ausgespannt hat, war bis vor Kurzem mein Freund«, hatte sie ihm am Telefon erklärt, »und ich bin, genauso wie du, stinksauer auf ihn und deine Akgül. Insofern sitzen wir beide im gleichen Boot, wir sind die beiden Betrogenen. Und das stinkt mir gewaltig. Ich denke, die beiden sollten für ihre Untreue bezahlen. Deshalb rufe ich dich an. Was meinst du?«

»Kenne ich dich?«, wollte Müselüm von ihr wissen.

»Ich denke nicht«, kam die Antwort, »aber ich habe dich schon mal mit ihr in Erlangen gesehen. Ich weiß, wie du aussiehst. Hast du Zeit, Lust und Interesse, dass wir beide mal darüber reden?«

»Schon.«

»Okay, dann treffen wir uns am Samstagabend um acht in Erlangen, im Bogart‘s. Keine Sorge, ich spreche dich an, wenn du da bist.«

Sie hatte eine verdammt sexy Stimme am Telefon. Etwas rauchig. Erotisch war der bessere Begriff. Alter? Schwer zu schätzen. Er hatte den Eindruck, sie wusste genau, was sie wollte. Das gefiel ihm. Er würde da sein, am Samstag.

*

Während Doris Kunstmann im Bogart‘s auf Müselüm Yilmaz wartete, schlich ein junger Mann mit Rucksack durch die Büsche an der Plauener Straße in Zirndorf. Langsam tastete er sich in der Dunkelheit bis zum Zaun vor, der die Anlage für Asylsuchende umgab. Seine Stirnlampe wollte er nicht einschalten, um sich nicht selbst zu verraten. Er stand ganz still und lauschte den Geräuschen der Nacht. Menschliche Stimmen drangen gedämpft aus den Zelten jenseits des Zauns zu ihm herüber. Ausländische Stimmen, die er nicht verstand. Manche leicht dahin murmelnd, manche kräftig und fordernd. Aus dem dreistöckigen Wohnhaus auf seiner Seite des Zauns drang aus einem offenen Balkonfenster die Eingangsmelodie der Serie Die Zwei. In dem kleinen Wohnzimmer dahinter flackerte der unruhige Lichtschein des Fernsehbildschirms. Bernd Auerbach roch den modrigen Geruch der nassen Erde, auf der er stand. Der Boden war noch mit dem Laub vom letzten Jahr übersät. Er stand weich, wie auf mehreren dünnen Teppichen. Fremdländische Essensgerüche aus den Zelten wehten herüber und vermischten sich mit dem Geruch der modrigen Erde. Das Buschwerk, in dem er sich verbarg, war noch von der Feuchtigkeit des letzten Regens benetzt. Nach weiteren fünf Minuten des stillen Wartens, und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, legte er seinen Rucksack geräuschlos und vorsichtig auf die feuchten Blätterschichten. Er öffnete ihn, griff hinein und holte die drei Transportbehälter mit den todbringenden amerikanischen M61-Splitterhandgranaten heraus. Immer wieder lauschte er in die Finsternis. Jenseits des Zauns unterhielten sich die Menschen in ihren Zelten weiterhin in ansteigenden und abflachenden Tonlagen. Ein Kleinkind begann zu weinen. Irgendwo im Gebüsch neben ihm regte sich etwas. Eine fette Kröte kroch unter einem tiefhängenden Zweig hervor und machte sich gemütlich davon. Mit Bedacht und Routine nahm er die drei Handgranaten aus ihren Behältern und legte sie vor sich auf das feuchte Blattwerk. Die Transportbehälter steckte er wieder in den Rucksack zurück. Die Sprengkörper schimmerten matt und bedrohlich im gedämpften Widerschein, der aus den drei Zelten auf der anderen Seite herüberdrang.

Bernd Auerbach hatte sich die Fotos, die seine Freundin wenige Tage zuvor gemacht hatte, ganz genau eingeprägt. Auch das Firmengelände eines Honda-Händlers ganz in der Nähe, Ecke Brandstätterstraße/Zwickauerstraße, hatte sie ausgekundschaftet. Die langgezogene Halle sah nicht so aus, als ob sie ausreichend gegen Einbrecher geschützt sei. Videokameras waren jedenfalls nicht zu erkennen. Er hatte nicht vor, nach seiner Tat das Gebiet sofort zu verlassen. Zu nah lag die Polizeiinspektion Zirndorf. Er musste damit rechnen, dass die Bullen – trotz Notbesetzung während des Wochenendes – sehr schnell am Tatort eintrafen und Straßensperren errichteten. Er hatte keine Lust, den Polizeibeamten in die Arme zu laufen. Nein, er würde ganz in der Nähe bleiben und sich bis zum Sonntagabend auf dem Gelände des Honda-Händlers verstecken. Eine Flasche Cola und vier belegte Brote steckten ebenfalls in seinem Rucksack. Das reicht bis Sonntagabend. Wer würde damit rechnen, dass der oder die Täter noch in der Nähe waren? Niemand. Sie würden hier niemals nach ihm suchen. Ein genialer Plan, den sie sich zuhause ausgedacht hatten, Anna und er. Bernd Auerbach sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Noch dreißig Minuten. Konzentriert befasste er sich in Gedanken nochmals mit dem Entsichern und Werfen der Handgranaten. Das war der Knackpunkt. Er schloss die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es musste alles sehr schnell gehen. Zwar hatten die Explosivkörper einen eingebauten Zeitstempel, aber mehr als acht bis zwölf Sekunden zwischen Zündung und Explosion blieben ihm nicht. Der Splitterradius dieser Defensivwaffen war größer als die Wurfreichweite. Um selbst nicht Opfer seiner Handgranaten zu werden, musste er spätestens nach acht Sekunden um die Ecke des nahestehenden Wohngebäudes verschwunden sein. Trotz aller Vorsicht ein heikles Unterfangen. Nachdem er den Angriff gedanklich durchgespielt hatte, warf er einen kleinen Zettel achtlos neben sich auf die Erde. Er wusste nicht wozu, aber Thomas Keller bestand unbedingt darauf, dieses Stück Papier, auf dem eine Reihe verwirrender Buchstaben notiert waren, am Tatort zu hinterlassen. Thomas Keller würde schon seine Gründe haben. Er vertraute ihm. Plötzlich veränderten sich die Geräusche. Die Äste und Zweige der hohen Laubbäume über ihm fingen zu tanzen an. Ihre Stämme ächzten. Der Wind flüsterte aus den hin und her wankenden Baumkronen zu ihm herab. Erst zart, dann rasant zunehmend. Es regnete braune, vertrocknete Blätter herab. Bernd Auerbach roch den Regen, der sich von Westen her anschlich. Das Gewebe der Wolken hatte seine Zartheit verloren. Schwere, schwarze Regentürme ritten wie eine Herde springender Delfine aus dem Westen daher und verkündeten nichts Gutes. Einige dieser Motherfucker steckten ihre Köpfe aus den Zelten, um sie sofort wieder zurückzuziehen. Diese Trottel, bald würde ihnen die Welt um die Ohren fliegen. Noch zehn Minuten.

*

»Sie sind Müselüm Yilmaz?!« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Die Stimme traf ihn von hinten und seine Gehörgänge transportierten pure Erotik in sein Gehirn. »Wollen wir uns dahinten in die Ecke setzen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und lief vor ihm durch das Lokal.

Obwohl Müselüm wusste, dass sie auf ihn wartete, war er doch von ihrem plötzlichen Erscheinen überrascht. Er folgte ihr durch das Lokal. Ob er wollte oder nicht, er musste auf ihren prallen Arsch gucken, der beim Gehen von links nach rechts und von rechts nach links hin und her schwankte. Aufreizend, wie er fand. Ihre blonde Mähne fiel ihr glatt in den Rücken und endete zwischen den Schulterblättern. Als sie ihn begrüßte, waren ihre himmelblauen Augen und die langen, gebogenen Wimpern noch auffallender als ihre üppige Oberweite und der schwarze BH, der durch das helle T-Shirt von Dolce & Gabana schimmerte. Müselüm genoss die leichte Schwellung in seiner Hose. Die Frau war ein Hammer, eine absolute Wucht. Leider konnte er ihre Beine nicht sehen, die in einer schwarzen Röhrenjeans steckten. Die roten High Heels, in denen sie vor ihm dahin schritt, hätten alleine schon eines Waffenscheins bedurft. Er rieb seine mächtige Nase, die aus seinem sonst ebenmäßigen Gesicht ragte. Im Vergleich zu ihm hatte Thomas Gottschalk ein Kindernäschen.

Sie waren an dem Tisch in der Ecke angekommen. »Setzen Sie sich doch«, forderte sie ihn auf.

»Können wir nicht besser zum Du übergehen?«, hörte er sich sagen, während er auf dem Stuhl Platz nahm. Ihm war ganz heiß. »Das Sie klingt so förmlich, so unpersönlich.«

»Von mir aus, ich bin die Doris.«

»Müselüm.«

»Wollen wir was trinken?«, schlug sie vor.

Müselüm fiel es schwer, seinen Blick von ihrer enormen Oberweite abzuwenden, welche sich bei jedem Atemzug hob und senkte. »Gerne«, krächzte er.

»Hast du was im Hals?«, wollte sie wissen.

»Nein, nein, nur ein bisschen heiser, eine leichte Erkältung.« Die Bedienung trat an den Tisch. »Wisst ihr schon, was ihr wollt?«

»Einen großen Cappuccino für mich«, antwortete Doris Kunstmann.

»Ich nehme einen grünen Tee.«

»Also«, nahm Müselüm Yilmaz das Gespräch auf, »du hast mich angerufen und mir vorgeschlagen, dass wir uns hier treffen. Wenn ich es recht verstehe, ist dein bisheriger Freund jetzt mit meiner Akgül liiert. Das stinkt dir offensichtlich so gewaltig, dass du am Telefon von Rache, Bestrafung oder zumindest von Vorschlägen gesprochen hast, welche in diese Richtung gehen. Hier bin ich, was willst du mir vorschlagen?«

Doris Kunstmann hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht, und versuchte sich ein Bild von ihrem Gegenüber zu machen. Einen ersten Eindruck. Sie hatte es bereits bereut, dass sie sich auf seinen Vorschlag zum Du eingelassen hatte. Sie versuchte zwar nicht hinzublicken, aber immer wieder wanderten ihre Augen wie magisch in sein Gesicht und blieben auf seiner riesigen Nase hängen. Was für ein Kolben! Nun roch sie auch noch diesen feinen Knoblauchgeruch, den sein Körper ausströmte und der penetrant in der Ecke des Raumes hängen blieb. Leichter Ekel kroch ihr das Rückgrat empor. Am liebsten wäre sie aus dem Lokal geflüchtet, aber nun musste sie da durch. Da half nichts, wenn sie sich nicht lächerlich machen wollte. Sie hatte sich die Suppe selbst eingebrockt. Was erhoffte sie sich eigentlich von diesem Menschen, dessen Blicke ständig zwischen ihren Augen und ihrem Busen hin und her wanderten? Sie musste gepudert gewesen sein, als sie in ihrer ersten Wut beschloss ihn anzurufen, noch dazu ihn zu treffen. Sollte sie offen mit ihm reden oder doch besser gleich verschwinden? Sie wollte ja ansonsten nichts von ihm.

»Ein großer Cappuccino und ein grüner Tee«. Die Bedienung trat an ihren Tisch und stellte die Getränke auf der Tischplatte ab.

»Können Sie mir noch ein Glas stilles Wasser zum Kaffee bringen? Entschuldigung, ich hab das vorhin vergessen.«

»Kein Problem, kommt sofort.«

»Ja«, nahm Doris Kunstmann das Gespräch wieder auf, und starrte dabei auf die Tischplatte, »das ist so …« Dann begann sie detailliert zu erzählen, wie sie von Walters Untreue erfahren, was sie sich dabei gedacht und wie verletzt sie sich gefühlt hatte und wie langsam der Wunsch nach Rache in ihre Gedanken geschlichen war und sich dort festgesetzt hatte. »Es gäbe natürlich auch die Möglichkeit, es noch einmal zu versuchen und um die eigene Liebe zu kämpfen«, erklärte sie.

»Was meinst du damit?«, wollte Müselüm wissen.

»Mann, war der Kerl doof«, dachte Doris Kunstmann und begann zögernd: »Ich meine, ich kämpfe um meine Liebe zu Walter und verzeihe ihm alles, falls er zu mir zurückkehrt. Du könntest ja die gleichen Gedanken bezüglich deiner Akgül haben, und wir beide könnten uns in unseren Bemühungen absprechen. Vielleicht könnten wir ja auch zu viert über unser Problem sprechen? Was meinst du? Wer weiß, vielleicht hast du dich mit dem Verlust deiner Freundin ja schon abgefunden? Mag sein, dass du dir eine Fortsetzung eurer Beziehungen gar nicht mehr vorstellen kannst? Das sind so die Gedanken, die mich im Moment bewegen. Ich bin einfach hin und her gerissen.«

Ihr Mobiltelefon piepste. Eine SMS. Von Walter Fuchs. »Einen Moment bitte«, forderte sie Müselüm auf. Dann las sie: Hallo Doris, ich hoffe, Du hast zwischenzeitlich selbst erkannt, warum ich Dich verlassen habe? Nein? Dann erkläre ich es Dir: Du bist eine ordinäre, selbstverliebte Frau ohne echte Gefühle für andere. Immer nur Du, Du, Du. Diese Welt, dieses Leben kann so schön sein, wenn man den richtigen Partner hat. Du bist es leider nicht. Das habe ich zwischenzeitlich erkannt. Diese Erdkugel dreht sich, und Du klebst an ihr wie ein Stück Scheiße, wie ein Popel in der Nase. Diese Welt braucht Dich eigentlich gar nicht. Ach, wie habe ich mich in der letzten Zeit vor Deinen Berührungen geekelt. Wie haben mich die Gespräche mit Dir gelangweilt. Immer standest Du im Mittelpunkt: Deine Leistungen in der Schule, Dein geplantes Studium, Dein Kleid für den Abi-Ball, Dein Projektvorhaben für Äthiopien, Dein, Dein, Dein … Als ich Akgül kennenlernte, lernte ich ein neues Leben kennen. Ich war wie von den Toten erwacht. Es gab mich noch. Sie hat mir wieder Atem eingehaucht. Ich war schon gestorben und merkte es gar nicht. Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen, nicht wahr, denn Du bist ein Egozentriker sondergleichen. Ich meine damit, dass das Leben, das Du führst, inhaltlich leer ist. Abgedroschen, eintönig, eingefahren, tot eben. Und bevor ich es vergesse, lass Dir an dieser Stelle gesagt sein, dass ich es nicht mehr tolerieren werde, wenn Du Akgül in Deinen beschissenen SMS-Nachrichten weiterhin beleidigst. Dann, und das lass Dir gesagt sein, werde ich Dir den Arsch aufreißen (groß genug ist er ja), und das meine ich wörtlich. Wenn Du willst, dass das Leben weiterhin an Dir vorbeigeht, dann mach so weiter. Lebe in Deiner Traumwelt, die sich ausschließlich um Dich dreht, liebe Dich selbst und lass andere in Ruhe. Du würdest ihnen nur schaden, sie unglücklich machen. Ich muss bekloppt gewesen sein, bis mir Akgül die Augen geöffnet hat. Werde auf Deine Art glücklich, aber ohne mich. Walter

*

Doris Kunstmann und Müselüm Yilmaz saßen immer noch im Bogart‘s. Die Blondine hatte den Inhalt von Walters SMS noch nicht verdaut. Sie war völlig durcheinander, völlig von der Rolle. Heftige Weinkrämpfe wechselten sich mit ordinären Verwünschungen ab. Ihr Make-up war verschmiert, und sie hatte bereits den zweiten doppelten Whiskey intus. Müselüm Yilmaz lernte plötzlich eine ganz andere Doris Kunstmann kennen.

Zur gleichen Zeit flogen fast gleichzeitig zwei M61 über den Zaun der Zirndorfer Aufnahmestelle für Asylsuchende. Die erste schlug gegen den schweren Stoff des mittleren Zeltes, federte etwas zurück, fiel mit einem satten Geräusch auf den Rasen und blieb dort liegen. Die zweite Granate schrammte Sekundenbruchteile später gegen die Außenwand eines der Wohnhäuser, prallte mit einem lauten metallischen Klacken, welches vom heftigen Wind verschluckt wurde, von der Mauer ab, sprang auf dem schrägen Dach des nebenstehenden Zeltes auf, rollerte von dort auf die Erde und beendete ihren Weg direkt vor dem Zelteingang. Die dritte schließlich wurde nicht geworfen. Sie kullerte an das am nächsten stehende Zelt, gleich am Zaun. Zehn Sekunden, nachdem Bernd Auerbach die drei Handgranaten auf ihren tödlichen Weg gebracht hatte, war er bereits auf der anderen Seite der Plauener Straße angelangt und setzte seinen Spurt zum nahen Gelände des Honda-Händlers fort. Die Explosionen wüteten in seinen Ohren, aber für ihn klang es wie Musik. Die scharfen Metallsplitter der Waffen zerrissen die Zeltwände wie Papier und fuhren wie brennende Furien in das Innere der behelfsmäßigen Unterkünfte. Stofffetzen und die kläglichen Überreste der Zeltstangen flogen in einer dichten Explosionswolke auseinander. Die dicken Splittermäntel der drei Wurfgeschosse zerbarsten von der Wucht der Detonationen an ihren Sollbruchstellen, und die freigesetzten, scharfkantigen Metallteile drangen mit einer immensen Gewalt in die Leiber der Männer, Frauen und Kinder, welche sich innerhalb der Zelte aufhielten. Der Tod wütete unter den Asylbewerbern und hielt reiche Ernte. Schwerverletzte, denen Gliedmaßen abgerissen wurden, begriffen im ersten Moment nicht, was geschehen war. Sie standen unter Schock, sahen verständnislos an ihren blutigen Armstümpfen herab. Überlebende trugen ausnahmslos schwere Verwundungen davon. Orientierungslos rannten sie, sofern sie dazu noch in der Lage waren, aus ihren zerstörten Unterkünften heraus. Sie stolperten über die Reste ihrer wenigen Habseligkeiten, über zerfetzte Leiber und rutschten auf den am Boden liegenden Eingeweiden aus. Ein lautes Wehklagen setzte ein, nachdem sich der erste Rauch der Explosionen verzogen hatte. Verwundete brüllten ihren Schmerz in die Nacht. Bäche von Blut breiteten sich auf dem Asphalt aus. Selbst die Wand des nahestehenden Wohnblocks war bis hinauf zum ersten Stockwerk mit Blutspritzern besprenkelt. Die Nacht hatte ihre Unschuld verloren, und das Sterben ging immer noch weiter. Für die meisten Schwerverletzten kam jede Hilfe zu spät. Endlich, nach einer knappen Minute, löste sich die Erstarrung, welche durch den Knall und die Wirkung der Explosionen ausgelöst wurde. Plötzlich setzte hektische Betriebsamkeit ein. Die ersten Bewohner des nächsten Wohnblocks stürmten nach draußen, um zu ergründen, was vorgefallen war. Sie sahen sich irritiert um. Anhaltende Schmerzensschreie und Hilferufe drangen von allen Seiten an ihre Ohren. Die meisten kapierten noch gar nicht, was geschehen war. Viele liefen wieder in ihre Wohnungen zurück und trugen schwere Stablampen herbei. Die gespenstischen Bilder und Szenen, die sich draußen abspielten, ließen ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Das blanke Grauen stieg ihnen die Kehlen hoch. Zuckende Lichtkegel fuhren unkontrolliert über riesige Blutlachen, abgerissene Körperteile, Verwundete und Tote. Sie mussten den Anblick erst verarbeiten. Viele erlitten einen Schock und standen zunächst wie gelähmt herum. Dann, allmählich, begriffen sie, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste, und einige Wenige lösten sich aus ihrer Lethargie. Andere brauchten länger, starrten lediglich auf den Ort der Verwüstung und nahmen immer noch mit entsetzten Gesichtern und zitternden Körpern das Grauen in sich auf. Noch verweigerten ihre Gehirne zu verarbeiten, was ihre Augen sahen. In ihren Köpfen fielen tausend Sperren. Lediglich aus ihren Mündern strömten bestialisch klingende, unkontrollierbare Wehlaute in die Nacht. Diejenigen, welche ihren Schock schneller überwinden konnten, griffen hektisch zu ihren Mobiltelefonen und gerieten in einen Sog konfuser Gespräche. Jeder versuchte, den anderen an Lautstärke zu überbieten. Plötzlich setzte der Regen ein. Heftig und überraschend. Dicke Regentropfen schlugen in den Blutlachen der Toten und Verletzten Blasen. Der nun orkanartige Wind trieb immer weitere tief segelnde, dicke Regenwolken von West nach Ost über Zirndorf hinweg. Alle Höllendämonen der Nacht schienen in Aufruhr geraten zu sein. Der Himmel weinte und ergoss seine kalten Tränen über das Gelände der Verwüstung und des Todes. Die Menschen dort waren in wenigen Sekunden nass bis auf die Knochen. Doch das scherte sie nicht. Zu groß waren der Schmerz und das Unheil, die über sie gekommen waren. Noch immer suchten sie nach Bekannten und Freunden, welche in den Zelten untergekommen waren.

Ganz in der Nähe jagte das erste Martinshorn sein lautes Tatüütata durch die stürmische Dunkelheit und kämpfte gegen das Gebrüll und das Tosen des Orkans an. Ein blauer Lichtschein rotierte in wilden, regelmäßigen Zuckungen und wurde von den Hauswänden gespenstisch zurückgeworfen.

Polizeihauptmeister Max Kruse stoppte den Streifenwagen, als eine schreiende, wild gestikulierende Menschenmenge auf das Polizeifahrzeug zulief. Der Geräuschpegel drang gedämpft durch die verschlossenen Pkw-Türen und vermischte sich mit den jaulenden Tönen des eigenen Martinhorns. Die ersten Blitze zuckten bereits ganz in der Nähe, und der unmittelbar einsetzende Donner hörte sich an, als spielte Petrus im Himmel Bowling. Die Erde schien aus ihren Fugen geraten zu sein. Kruses Kollege Gerhard Dillich schnallte sich ab, zog den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Halsansatz hoch, öffnete die Beifahrertür und stürzte murrend ins Freie. Sofort war er von der aufgeregten Menschenmenge umstellt, die ihm in einem Wirrwarr an Fremdsprachen – so zumindest empfand es der Polizeibeamte – versuchte, etwas mitzuteilen. Weinende, triefnasse Menschen schrien ihren Schmerz in die Dunkelheit. »Gucken, hinter Haus, viele Tote«, schrie ein in seiner Nähe stehender Dunkelhäutiger. »Viel Blut, Kinder auch tot.« Er deutete in Richtung der Umzäunung. Ein heulender, in blaue Zuckungen getauchter Sanka des Bayerischen Roten Kreuzes fuhr um die Ecke und kam hinter dem Polizeifahrzeug zum Stehen. Sofort stürzten sich die verzweifelten und schockierten Asylbewerber auch auf das zweite Fahrzeug.

»Platz machen! Auf die Seite«, bemühte sich Gerhard Dillich wild gestikulierend um ein Durchkommen. Die dicken Regentropfen sausten wie wild gewordene Hummeln auf seinen ungeschützten Hals und liefen ihm in kleinen Bächen den Körper hinab. Seine olivfarbene Hose war bereits bis zu den Knien hinauf patschnass. Ein Sanitäter leistete ihm Hilfestellung. Gemeinsam gelang es den beiden, die wilde Horde so von den beiden Einsatzfahrzeugen abzudrängen, dass ein schmaler Weg zur Weiterfahrt frei wurde. Vorsichtig steuerte Max Kruse den Streifenwagen durch die Menschenansammlung. Der Sanitätskrankenwagen folgte ihm. Die Reifen der Fahrzeuge krochen knirschend über Glasscherben – Reste von Fensterscheiben, die durch den Druck der Detonationen aus ihren Rahmen geplatzt waren und nun über einem Teil des Hofes verstreut im Regenwasser herumlagen. Der Regen hämmerte weiter in die riesigen Pfützen auf dem welligen Asphalt.

Auch drüben, jenseits des Maschendrahtzaunes der Asylantenaufnahmestelle – dort, wo noch vor Kurzem der Attentäter seine Handgranaten gezündet hatte –, herrschte trotz des heftigen Regens ebenfalls eine rege Betriebsamkeit. Die Anrainer und Bewohner des nächstgelegenen Wohnhauses, deren nach Westen gelegene Fenster nur noch aus dunkel gähnenden, offenen Löchern bestanden, hatten sich dicht gedrängt am Zaun versammelt und glotzten unter einem Meer von bunten Regenschirmen heftig diskutierend auf das Gelände des Asylantenheims hinüber. Oben auf einigen der Balkone standen andere Hausbewohner mit schweren Taschenlampen bewaffnet und bemühten sich verzweifelt, mit ihren Lichtquellen den nächtlichen Regen zu durchdringen. Immer mehr Nachbarn aus der näheren Umgebung trafen ein, gesellten sich zu den Schaulustigen am Zaun und wollten aufgeregt wissen, was da drüben bei den Asozialen passiert war. Ein weiteres Einsatzfahrzeug fuhr auf den Hof. Wenig später begannen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks drei starke Halogenscheinwerfer in Betrieb zu nehmen, welche kurz darauf die Szene gespenstisch ausleuchteten. Nun sah man den Regen, der in langen, schrägen Strichen auf die Erde prasselte, sich mit den Blutlachen vermischte und diese in den nächsten Gully spülte. Sanitäter in schweren Regenjacken trugen hastig Bahren und Leichensäcke über das Gelände und suchten verzweifelt nach Verwundeten und Überlebenden.

»Jetzt sehen wir wenigstens etwas. Das hat vielleicht einen Schlag gegeben«, erklärte Illona Seitz den Herumstehenden, »drei Mal kurz hintereinander. Ich war grad auf dem Abort gsessen, als die Fensterscheibe in meinem Bad in tausend Stücke zerscheppert ist. Da, schaut nur her, da am Hals hat mich eine Scherbe getroffen. Geblutet hab ich wie eine Sau.” Illona Seitz deutete auf die Stelle ihres Halses, wo nun ein kleines Wundpflaster klebte. »Da denkst du an nix Böses, sitzt am Abort und plötzlich fliegt dir das halbe Haus um die Ohren. Da machst du was mit, bis du alt und grau wirst. Was ist denn überhaupt passiert?«, wollte sie schließlich wissen.

»Ein Attentat auf das Asylantenheim! Bestimmt!«, mutmaßte ihr Nachbar, Beppo Brehm. »Bei mir sind auch die Fenster kaputt gegangen. Das schaut ja schlimm aus, da drüben! Da soll angeblich einer mit Handgranaten rumhantiert haben. Hab ich so übern Zaun vernommen. Ein Polizist hat so etwas Ähnliches gesagt.«

»Wer?«, wollte Illona Seitz wissen.

»Weiß ich doch nicht, ich kenn doch nicht alle Polizisten.«

»Nein, ich mein, wer hat mit Handgranaten rumhantiert?«

»Das weiß ich doch schon gleich gar nicht«, entsetzte sich Beppo Brehm, »bin doch kein Hellseher!«

»Das wundert mich nicht, dass die Handgranatn ham«, meinte eine Nachbarin von der gegenüberliegenden Straßenseite, »schaut euch doch des Gschwerdl da drüben an. Wo sie nur alle herkommen? Die meinen, bei uns da ist das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen. Wo man nix ärwern muss! Wo einem der Staat das Geld hinten und vorn nur so reinstopft! Das Gschwerdl kennt doch seine Rechte viel besser als unsereins. Da siehst du mal wieder, was die alles ham: sogar Handgranaten! Wos ner die klaut ham? Da musst du ja Angst kriegn, dass die dich nicht auch noch in die Luft sprengen.«

»Genau«, stimmte eine Nachbarin mit einem gelben Regenschirm in die Diskussion ein. »Sogar die Kirchen, allen voran die katholische, sprechen von Demut und Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen. Die redn sich leicht daher. Soll doch der Vatikan seine Pforten aufmachen und die Asylanten aufnehma. Platz genug hams doch.«

»Und Geld und Reichtümer hams a«, ergänzte Beppo Brehm. »Was allans ich jährlich an Kirchensteuer zahl. Da derf ich goar net dran denkn, sonst überkommt mich gleich die kalte Wut.«

»Der Meinung bin ich auch«, warf die gelb Beschirmte erneut ein, »soll doch der Papst seine Schatztruhen mal öffnen und seine Reichtümer an die armen Flüchtlinge verteilen. Der hat doch keine Ahnung, dass die meisten von denen hochkriminell sind und sogar mit Handgranaten werfen. Wer zahlt etz eigentlich für eure kaputten Fenster und ein Schmerzensgeld für deine lebensgefährliche Verletzung am Hals, Illona? Das kannst fei beantragen. Hoffentlich kriegst keine Blutvergiftung. Na, dann aber! Dann gehst aber nüber zu dem Ausländerpack! Dann können die was erleben, gell. Denen tät ich schon den Marsch blasen! Mein lieber Gott, wenn ich die Merkel wär, die tät ich alle rausschmeißen aus Deutschland. Die tät ich wieder zurückschicken in ihre Negerhütten nach Afrika. Alle! Auf einen Schlag! Armes Deutschland. In was für einer Zeit leben wir denn?«

Illona Seitz und Beppo Brehm sahen sich an und verdrehten die Augen. Sie standen genau an der Stelle, an der der Attentäter sich ebenfalls aufgehalten hatte. Doch das wussten sie natürlich nicht. Der eh schon weiche Blätterboden war durch das Herumgetrampel der Schaulustigen und dem heftigen Regen zwischenzeitlich völlig aufgeweicht. Auch die Temperaturen waren innerhalb der letzten halben Stunde deutlich gefallen. Illona Seitz fror. Die Kälte kroch ihr die Beine empor und sie stapfte von einem auf den anderen Fuß. Zurück ins Haus wollte sie aber noch nicht. Noch tat sich etwas auf der gegenüberliegenden Seite, und sie wusste noch nicht einmal, was ganz genau dort drüben überhaupt passiert war. »Außerdem«, dachte sie sich, »könnte das Technische Hilfswerk doch gleich mein Badfenster abdichten, wenn die schon da sind.« Weder sie noch Beppo Brehm registrierten, dass sie beide schon die ganze Zeit auf einem Stück Papier herumtrampelten, welches dadurch immer tiefer in die weiche Erde gedrückt wurde.

Jenseits des Zauns, kaum zwanzig Meter entfernt, herrschte immer noch das absolute Chaos. Die vorläufige Zahl der geborgenen Toten lag aktuell bei dreiundzwanzig Asylsuchenden. Den Ermittlern war zwischenzeitlich bewusst geworden, dass die Handgranaten – und nur um solche Explosivkörper konnte es sich bei dem Anschlag handeln – von jenseits des Zaunes geworfen wurden. Sie rückten mit fünfundzwanzig Beamten an, vertrieben die Schaulustigen um Beppo Brehm und Illona Seitz und geleiteten sie unter Protest in ihre Häuser. »Ich wart aufs Technische Hilfswerk«, versuchte Illona Seitz zu argumentieren, »die solln gleich mei kaputtes Badfenster repariern. Auch wir sind Betroffene und ham ebenfalls ein Anrecht auf Hilfeleistung. Wozu zahln wir unsere Steuern? Die da drübn zahln keine Steuern, die kosten nur Geld. Was is eigentlich genau passiert?« Es half nichts. Drinnen im Haus nahmen die Beamten ihre Personalien auf und spannten draußen am Zaun ein weiteres rot-weißes Absperrband. Dann sicherten die Polizeibeamten zusätzlich das Areal und warteten ungeduldig auf ihre Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung. Doch die waren mit ihrer Arbeit auf der anderen Seite noch längst nicht fertig. »Ist das Technische Hilfswerk auch noch da?«, wollte Illona Seitz von ihnen wissen.

»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland

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