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ОглавлениеIm Mai 1795 begann für Samuel ein neues Leben. Wie schon in den vergangenen zwei Jahren ging er täglich eine halbe Stunde zu Fuss hinunter nach Waldenburg. Mit einem Gefühl der Erleichterung liess er am ersten Tag die in den Sommermonaten geschlossene Gemeindeschule links liegen und klopfte ans Portal des Schönthaler Hofs. Die Pfarrmagd liess ihn ein.
Der Unterricht fand in einem eigens dafür bestimmten Raum statt. Der Kandidat Hoffmann verlangte von den drei Grynäus-Kindern (der Älteste war bei Verwandten in Basel untergebracht und besuchte bereits das Pädagogium), einen Aufsatz über die Anfangsworte des Gedichts Das Göttliche des deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe zu schreiben. An der Wandtafel stand: «Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!» Und während die Federn von Johanna, Amalie und August Grynäus leise über das Papier kratzten, prüfte er Samuel, um sich einen Überblick über dessen Wissensstand zu verschaffen.
Sebastian Hoffmann war ein ernsthafter, hagerer Mensch mit dünnem, aus der Stirn gekämmtem Haar. Er war einundzwanzig Jahre alt und stammte aus einer nicht unvermögenden Basler Familie. Auf Wunsch des Vaters hatte er Theologie studiert. Nach fünf Semestern hatte er sein Studium aber unterbrochen und eine Stelle als Hauslehrer angenommen. Wohl aufgrund der Lektüre aufklärerischer Literatur zweifelte er an der Existenz eines Gottes, wie ihn sich die christliche Lehre vorstellte. Darüber sprach er freilich mit niemandem.
Seinem Stand entsprechend war er schwarz gekleidet. Selbst das sorgfältig geknüpfte Halstuch zwischen dem bis zu den Ohren reichenden Kragen seines Rocks war schwarz. Anders als sein Dienstherr, der altfränkische Kniebundhosen und Seidenstrümpfe trug, zog er lange enge Beinkleider vor, die der revolutionären Mode entsprachen. Er sei eben ein Sansculotte, pflegte er zu sagen, wenn man ihn darauf ansprach.
Als Hoffmann die Befragung Samuels abgeschlossen hatte, erklärte er ihm, dass er noch viel zu lernen habe, wenn er einmal, wie das der Pfarrer hoffe, ins Pädagogium eintreten wolle. Flüssiges Lesen und fehlerfreies Schreiben gehörten, ebenso wie die vier Grundoperationen des Rechnens, lediglich zur Basis einer gepflegten Bildung. Es werde nun darum gehen, ihn auch ins Bruchrechnen und in weitere Geheimnisse der Mathematik, insbesondere auch in die Geometrie einzuführen. Ob er überhaupt wisse, wer Pythagoras und wer Euklid gewesen seien? Und ohne eine Antwort abzuwarten, stellte der Kandidat fest, dass Geschichte, Geographie und mindestens die einfachsten Kenntnisse von Biologie, Physik und Chemie zum unverzichtbaren Bestandteil seines Unterrichts gehörten. Und natürlich die Sprachen. Zuallererst Französisch. Denn nur wer Französisch beherrsche, könne sich in der heutigen Zeit guten Gewissens als Mitglied einer Gesellschaft bezeichnen, welche die Vernunft und den Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben habe. Dann natürlich Latein. Griechisch und Hebräisch würden auf dem Pädagogium folgen.
Bis dahin hatte Hoffmann ohne Punkt und Komma gesprochen. Ob er sich klar genug ausgedrückt habe, wollte er jetzt wissen. Streng blickte er durch seine Brillengläser auf den völlig verdatterten Samuel, der von diesem Vortrag kaum etwas begriffen hatte.
Um die schmalen Lippen des Hauslehrers spielte ein Lächeln. Nun, man werde sehen, meinte er versöhnlich.
In der Pause nahm der um ein Jahr ältere August Grynäus Samuel beiseite. «Du musst keine Angst haben vor Hoffmann», beruhigte er ihn. «Er spielt sich gerne auf, aber im Grunde ist er ein patenter Kerl.»
Tatsächlich erwies sich Sebastian Hoffmann als idealer Lehrer. Er forderte viel, blieb aber stets geduldig und verstand es, seine Schüler zu begeistern. Pfarrer Grynäus hatte dafür gesorgt, dass Samuel an den Schultagen Kleider trug, aus denen sein Sohn August herausgewachsen war. Es liege ihm daran, erklärte er dem Kandidaten, dass er den Schützling von Madame Staehelin, der aus einfachen Verhältnissen stamme, genau gleich behandle wie seine eigenen Kinder.
Der Hinweis wäre nicht nötig gewesen, meinte Hoffmann. Selbstverständlich beurteile er seine Schüler allein nach dem Mass ihres Fleisses und ihrer Leistungen. «Auch im Freistaat Basel», fuhr er fort, «wird man lernen müssen, dass gesellschaftliche Unterschiede nur im allgemeinen Nutzen begründet sein dürfen.»
Theophil Grynäus hüstelte. Es war nicht das erste Mal, dass ihm der Kandidat mit den Menschenrechten kam, die er durchaus kannte und im Prinzip für richtig hielt. Im Prinzip.
Ab und zu unternahm Sebastian Hoffmann mit seinen Schülern einen Ausflug in die Umgebung. Es liege ihm daran, erklärte er dem Pfarrer, der ihn nach dem Sinn seiner Exkursionen befragte, den Kindern eine Vorstellung vom Wirken der Natur zu vermitteln, davon, dass in dieser Welt alles mit allem zusammenhänge.
«Vom göttlichen Wirken», fühlte sich Theophil Grynäus bemüssigt zu bemerken.
«Selbstverständlich ist das Wirken der Natur ein Gesetz des Être suprême», bestätigte Hoffmann.
Der Pfarrer schwieg verstimmt. Bei aller Sympathie für die Aufklärung und den Fortschritt hielt er den «Kult des höchsten Wesens», den der im vergangenen Jahr hingerichtete Robespierre eingeführt hatte, für blasphemisch. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob der junge Mann, bei all seiner Gelehrtheit, den Seelen der ihm anvertrauten Kinder nicht Schaden zufüge.
An einem Juliabend des Jahres 1795 sassen die Leute von Sankt Wendelin am grossen Tisch in der niedrigen Stube beim Abendbrot, das Hanna zubereitet hatte. Alle, auch Madame Staehelin und Salome, waren todmüde, denn die beiden städtischen Frauenzimmer hatten es sich nicht nehmen lassen mitzuhelfen, als es darum ging, an diesem heissen Hochsommertag das Heu einzubringen. Ein paar Tage zuvor hatten Mathis und seine beiden älteren Söhne, zum zweiten Mal in diesem Jahr, das Gras geschnitten und gezettet. Seither war es mehrmals gewendet worden, damit es an der Luft trocknete. Bei Tagesanbruch hatte man es zu Schwaden zusammengerecht und auf den Wagen geladen, dem die beiden Pferde vorgespannt waren. Fuhre um Fuhre war es zur Scheune gebracht worden. Mit Rechen und Gabel waren Salome und Samuel daneben hergelaufen und hatten das Heu, das hinunterfiel, wieder auf den Wagen gepackt. Jetzt lag es auf dem Boden des Tenns. Für den dritten Schnitt, der, wenn das Wetter günstig war, im Frühherbst anstand, blieb nur noch wenig Raum. Mathis Jacob war zufrieden. Im kommenden Winter würde sein Vieh nicht unter Futtermangel leiden müssen.
Hanna brachte aus der Küche eine weitere Schüssel Kraut, auf dem ein grosses Stück Speck lag. Vor dem offenen Fenster blieb sie kurz stehen. «Schaut euch den schönen Sonnenuntergang an!», rief sie.
Die anderen hoben die Köpfe.
«Die Sonne geht nicht unter», behauptete Samuel. «Die Erde dreht sich von ihr weg.»
«Wer erzählt solchen Unsinn, Sämi?», wollte die Mutter wissen.
«Das ist kein Unsinn.» Der Junge war beleidigt. «Herr Hoffmann hat uns erklärt, dass die Erde eine Kugel ist, die in einem Jahr die Sonne umkreist und sich täglich um sich selbst dreht. Deshalb wird es bei uns Nacht, und jene, die auf der anderen Seite der Welt leben, haben Tag.»
«Und weshalb fallen wir nicht in den Himmel hinauf, ich meine hinunter, wenn die Erde eine Kugel ist und sich dreht?», fragte Martha. «Kannst du mir das erklären, Magisterlein?»
Die Geschwister lachten.
«Das weiss ich nicht.» Samuel liess sich nicht beirren. «Aber ich werde Herrn Hoffmann fragen.»
«Iss jetzt», sagte die Mutter streng, «und hör auf mit deinen albernen Geschichten!»
«Das ist keine alberne Geschichte», bemerkte Dorothe Staehelin. «Der kleine Bursche hat recht. Dass die Erde die Sonne umkreist und sich jeden Tag um die eigene Achse dreht, hat vor bald dreihundert Jahren Nikolaus Kopernikus entdeckt, ein grosser Gelehrter. Ihr solltet stolz sein auf Euren Jüngsten …» Sie verstummte, als sie realisierte, dass Barbara Jacob die Lippen zusammenkniff und ihr einen feindseligen Blick zuwarf.
Barbara stand auf. «Ich habe in der Küche zu tun.» Abrupt drehte sie sich um und verliess die Stube.
Mathis Jacob konnte in dieser Nacht nicht einschlafen. Barbara hatte ihm im Bett den Rücken zugekehrt und beleidigt geschwiegen. Offenbar nahm sie es ihm übel, dass er bei Tisch nicht für sie Partei ergriffen hatte. Sicher fand sie, dass Dorothea sie belehrt hatte, um deutlich zu machen, dass sie nur eine dumme Bauernfrau sei. Als er glaubte, sie schlafe, verliess er leise die Kammer und ging in die Stube.
Dort sass er jetzt, den Kopf in die Hände gestützt, am Stubentisch und grübelte beim Schein einer Kerze über einem Buch, das ihm Dorothea Staehelin vor ein paar Tagen ausgeliehen hatte. Die Wirthschaft eines philosophischen Bauern, hiess es. Ein Arzt, Hans Caspar Hirzel, hatte es verfasst. Er beschrieb darin Hans Jakob Gujer, bekannt als Kleinjogg, der im zürcherischen Rümlang einen Musterbetrieb geführt hatte. Der Mann hatte unter anderem Klee anstelle von Gras angebaut und konnte damit mehr Kühe füttern. Dadurch fiel mehr Mist und Gülle für die Düngung an, die er mit Kompost und Torfasche anreicherte. Und dies wirkte sich positiv auf die Ernte aus.
Mathis seufzte. Es gab sie immer wieder, diese hellen Köpfe, die zwar nicht an Schulen gebildet worden waren, die aber durch Beobachtung und Experimentierlust neuen, nutzbringenden Ideen zum Durchbruch verhalfen.
Er selber war kein Gujer. Wie seine Frau hatte auch er in der Gemeindeschule nicht viel mehr gelernt, als notdürftig zu lesen und zu schreiben und natürlich jene frommen Sprüche herzusagen, deren Kenntnis der Pfarrer für das Seelenheil seiner Schäfchen für unverzichtbar hielt. Aber anders als Barbara hatte er, wohl dank seines taufgesinnten Vaters, der darauf bestanden hatte, dass er täglich die Bibel zur Hand nahm, Freude an Gedrucktem bekommen. Es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, die Pamphlete und Zeitungen zu lesen, die sein Schwiegervater aus Basel mitbrachte. Aber der Gedanke an Kleinjogg, der sich aus eigener Kraft ein Wissen angeeignet hatte, das ihm selber verschlossen blieb, quälte ihn. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, in all den Jahren, die hinter ihm lagen, aus seinem Verstand zu wenig gemacht zu haben. Das Gespräch beim Abendessen hatte es einmal mehr bestätigt: Nicht einmal, dass sich die Erde um die Sonne dreht, hatte er gewusst. Das musste er von seinem neunjährigen Sohn erfahren.
Er stand auf und trat ans Fenster. Am samtschwarzen Nachthimmel leuchteten die Sterne. Was wusste er von ihnen? So gut wie nichts. Den Grossen Wagen kannte er und den hellen Polarstern. Auch den Morgen- und Abendstern konnte er am Himmel ausmachen. Ob sie aber in Wahrheit ein und derselbe Himmelskörper waren, wie er einmal gehört hatte, wusste er nicht mit Sicherheit. Vielleicht könnte ihm das Dorothe (heimlich nannte er sie noch immer so) sagen. Aber sie würde er nicht fragen. Um keinen Preis der Welt.
Wie immer, wenn er intensiv über etwas nachdachte, strählte Mathis sich mit den Fingern der Rechten den Bart. Dann fasste er einen Entschluss. «Ich will von Sämi lernen», sagte er halblaut. «Er soll mir alles beibringen, was er von seinem Lehrer erfährt.»
Und so sassen vom nächsten Tag an Mathis Jacob und sein Jüngster nach dem Essen zusammen am grossen Tisch. Abend für Abend. Der kleine, blonde Bursche als Schulmeister seines grossen, dunklen Vaters, dessen Sehnsucht nach Bildung ihn die ungewohnte Rolle – recht eigentlich eine Umkehrung der Verhältnisse – annehmen liess. Samuel hielt sich genau an das Vorbild von Sebastian Hoffmann. Beim Bruchrechnen etwa zerschnitt er einen Apfel in zwei Hälften, dann machte er aus ihnen vier Viertel und schliesslich acht Achtel. Er brachte dem Vater bei, einen Bruch mit zwei Zahlen zu schreiben, die durch einen Strich getrennt sind, und erklärte ihm, dass unter dem Strich der Nenner anzeigt, in wie viele Teile das Ganze dividiert wird, während über dem Strich der Zähler deutlich macht, wie viele Teile des Ganzen gemeint sind. Ein paar Tage später liess er ihn wissen, dass man Brüche erweitern und kürzen konnte. Samuel führte Mathis nicht nur in die ersten Geheimnisse der Mathematik ein, er liess ihn auch an seinem neu erworbenen Wissen über Heimat- und Naturkunde, Geschichte und Geometrie teilhaben. Das Kind lehrte ihn, dass eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Auch von Pythagoras erzählte er, der rund fünfhundert Jahre vor Christi Geburt gelebt hatte. Gemeinsam konstruierten Vater und Sohn rechtwinklige Dreiecke. Auf das Erlernen französischer und lateinischer Vokabeln allerdings verzichtete Mathis. Dafür sei er zu alt, meinte er. Es falle ihm schon schwer genug zu verstehen, was ihm sein Jüngster in der Muttersprache beibringe.
Die Kenntnisse, die er sich aneignete, entsprachen lediglich jenem Basiswissen, das man Söhnen reicher Basler Stadtbürger vermittelte, um sie für den Eintritt ins Pädagogium vorzubereiten. Gleichwohl eröffnete der abendliche Unterricht bei seinem Sohn dem einfachen Mann eine neue Welt. Wenn er jetzt am Morgen oder abends im Stall seine Kühe molk, hörte er kaum mehr zu, wenn Peter und Paul einander von der kleinen Welt in Waldenburg berichteten. Mathis überdachte, was er gelernt hatte und grübelte über den praktischen Nutzen seines neuen Wissens nach. Er las jetzt auch den Hinkenden Boten aufmerksamer, jenen Volkskalender, der einmal jährlich im Spätherbst ausgeliefert wurde und dessen Titelblatt ein Kriegsinvalider mit einem Holzbein zierte. Bis dahin hatte er sich vor allem für die im Almanach publizierten Daten der regionalen Vieh- und Wochenmärkte interessiert. Nun nahm er sich auch die zahlreichen Artikel vor, welche die Leserschaft über Ereignisse des vergangenen Jahrs, diesseits und jenseits der Eidgenossenschaft, unterrichtete. Dazu kamen verschiedene Bücher, die ihm Dorothea Staehelin auslieh. Ihr war sein Lerneifer, der sie faszinierte und rührte, nicht entgangen.
Seine Frau Barbara reagierte mit gemischten Gefühlen auf die abendlichen Unterrichtsstunden. Einerseits erfüllte es sie mit Stolz, dass ihr Jüngster seinem Vater Dinge beibringen konnte, die sie selber nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte. Andererseits ärgerte sie sich im Stillen darüber, dass Madame Staehelin ihrem Mann Bücher zusteckte. Sie befürchtete, das Wissen, das sich Mathis aneignete, trage dazu bei, dass er sich, zusammen mit Sämi, immer mehr von ihr und den vier Grossen entferne. «Wir sind doch nur kleine Leute und Untertanen», hatte sie einmal, bedrängt von ihren Ängsten, die Familie könne auseinanderfallen, zu ihm gesagt. «Was willst du dich über deinen Stand erheben?»
Mathis hatte sie lange angeschaut. Dann hatte er die Stirn in Falten gezogen und sich von ihr abgewandt.