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ОглавлениеAm Donnerstag, dem 31. März 1796 stand Dorothea Staehelin unter dem Seitenportal der Kirche von Oberdorf und schaute hinüber zum offenen Grab, in das Mathis Jacob und seine beiden älteren Söhne gemeinsam mit dem verwitweten Emil Strub den Sarg der Ehefrau, Mutter und Tochter an zwei Seilen vorsichtig in die Tiefe hatten gleiten lassen. Es lag nahe an der Mauer, die den Gottesacker umfriedete. Sie standen um die offene Grube: die Jacobs und der Vater der Toten, nur die nächsten Angehörigen, wie es der Brauch war. Alle waren schwarz gekleidet. Mathis hielt sich ein wenig abseits von den anderen. Eine grosse, einsame, barhäuptige Gestalt. Der Talwind bewegte sein dunkles Haar. Das Gesicht hatte er abgewandt, als wolle er sich den Worten, die Pfarrer Grynäus aus der Bibel las, verweigern.
Dorothea fragte sich, was in ihm vorgehen mochte. Als sie die Nachricht vom Tod Barbara Jacobs erhalten hatte, war sie, diesmal ohne Salome, nach Waldenburg gefahren. Am Vorabend war sie angekommen. Mit Mathis hatte sie nur wenige Worte gewechselt. Ob er trauerte? Er zeigte es nicht, liess niemanden an sich heran, auch nicht seine Kinder. Sie mussten selber schauen, wie sie mit dem Tod fertig wurden, der auf dem Hof Einzug gehalten hatte. Er schien keines Trostes zu bedürfen. Sie mochte sich täuschen. Seit ihrer gemeinsamen Jugendzeit wusste sie, dass Kummer für ihn stets etwas Unteilbares war, etwas das ihm allein gehörte.
Als sie und ihre Tochter sich in den Tagen über den Jahreswechsel auf Sankt Wendelin aufgehalten hatten, war die Bäuerin schlecht gelaunt gewesen. Sie war ihr ausgewichen, hatte, anders als sonst, kaum mit ihr geredet, und ein oder zwei Mal hatte sie Barbara dabei ertappt, wie sie ihr einen bösen Blick zuwarf, als sei sie, Dorothea, schuld an ihrer Verstimmung. Sie hatte verzichtet, die Frau darauf anzusprechen. Sie war sich zu schade gewesen, sich mit Barbara auf eine Auseinandersetzung einzulassen, und hatte deren Unhöflichkeit ignoriert.
Weshalb hatte sie ihr gezürnt? Hatte sie gewusst oder geahnt, dass sich seit jener Sommernacht auf der Waldweide etwas zwischen Mathis und ihr verändert hatte? Hatte sich überhaupt etwas verändert? War nicht einfach aufgebrochen, was schon immer da gewesen war?
Dorotheas Blick wanderte hinüber zum kleinen Samuel. Anders als die Geschwister, die mit versteinerten Gesichtern dastanden, weinte er. Er hielt sich eng an Hanna. Mehr als alle anderen würde er seine Mutter vermissen. Jedes Kind braucht eine Mutter, dachte Dorothea. Was sollte aus ihm werden? Als sie vor dem Trauergottesdienst Theophil Grynäus im Pfarrhaus von Waldenburg besuchte, hatte sie erfahren, dass Sebastian Hoffmann im Sommer nach Basel zurückkehren würde. Der Kandidat habe sich entschlossen, das Studium der Theologie aufzugeben und stattdessen eine Privatschule zu eröffnen. Ausserdem ziehe es ihn wohl in die Stadt, wo er seinen Beitrag zum revolutionären Umschwung leisten könne. Das Lachen des Pfarrers hatte eher unsicher als spöttisch getönt.
Was das für Samuel, der an Hoffmann hänge, bedeute, hatte Dorothea wissen wollen.
Theophil war zuversichtlich, dass sich eine Lösung finden werde. Er müsse einen neuen Lehrer für seine Kinder suchen, und wenn die Base weiterhin für den kleinen Jacob bezahle, spreche nichts dagegen, dass der Sohn ihres Pächters auch in Zukunft im Pfarrhaus unterrichtet werde.
Die Bestattung neigte sich ihrem Ende entgegen. Mathis warf eine Handvoll Erde auf den Sarg. Seine Kinder und Emil Strub taten es ihm gleich. Dann machten sie sich auf den Rückweg. Als sie schweigend an ihr vorbeigingen, warf ihr Samuel einen Blick zu, in dem so viel Trauer, Schmerz und Hilflosigkeit lagen, dass er sich in ihr Herz brannte.
«Ich werde dich nicht im Stich lassen, mein Goldschatz», flüsterte sie.
Die Leute von Sankt Wendelin traten aus der Porte des Gottesackers hinaus auf die Landstrasse. Wie eine Schar schwarzer, trauriger Krähen, dachte Dorothea.
Am nächsten Tag reiste Dorothea Staehelin wieder nach Basel. Am Abend zuvor hatte sie sich, hinter verschlossener Tür, lange mit Mathis Jacob unterhalten. Als sie fort war, rief der Bauer die Kinder zu sich in die Stube. Er schaute in die Runde, sah jedes von ihnen lange an. «Jetzt, wo Mutter tot ist», sagte er schliesslich, «wird Martha ihre Aufgaben übernehmen. Peter und Paul werden mir wie bisher auf dem Hof helfen.» Er holte tief Atem, dann legte er seine Hand schwer auf Samuels Schulter. «Ende Sommer wirst du mit Madame Staehelin in die Stadt gehen. Du wirst dich in der Privatschule, die der Kandidat Hoffmann dort eröffnet, auf deinen Eintritt ins Pädagogium vorbereiten. Hanna wird dich begleiten. Madame braucht jemanden, der sich um den Haushalt kümmert, und ich denke», er schaute seine Tochter an, «dass du alt genug bist, einen Dienst anzunehmen. Ausserdem wird sich Samuel dann nicht allein fühlen.»