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«Auf ein Wort, Bürger Jacob!»

Mathis, der sich nach dem sonntäglichen Gottesdienst im August 1795 mitten unter den Gläubigen vor der Peterskirche mit seinem Schwiegervater Emil Strub unterhielt, wandte sich erstaunt um. Bürger Jacob hatte ihn noch nie jemand genannt. Vor ihm stand Sebastian Hoffmann. Ihm musste die helle fordernde Männerstimme gehören. Er kannte den seltsamen Menschen, der stets enge, lange Hosen trug, nur vom Sehen. «Meint Ihr mich?»

Der Kandidat nickte. «Euer Jüngster, notabene ein überaus begabter Schüler, hat mir viel von Euch erzählt. Es ist mir ein Bedürfnis, einem Mann die Hand zu drücken, der sich nicht zu schade ist, von einem Kind zu lernen, einem Menschen, der willens ist, sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien.»

Mathis starrte den eifrigen jungen Mann, dessen Wangen sich gerötet hatten und dessen Augen ihn hinter blitzenden Brillengläsern musterten, verwundert an. «Wovon will ich mich befreien?»

«Aus Eurer selbst verschuldeten Unmündigkeit», wiederholte der Kandidat. Das Wort stamme nicht von ihm, sondern von Immanuel Kant, einem deutschen Denker. Die Menschen müssten lernen, erläuterte er, sich ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. «Ihr, Bürger Jacob, gehört zu jenen, die bereits einen ersten Schritt getan haben.» Er streckte ihm seine Hand entgegen.

Zögernd schlug Mathis ein. «Und weshalb nennt Ihr mich Bürger Jacob?»

«Das ist eine Frage des Prinzips der Gleichheit, das wir Patrioten hochhalten.»

«Aha. Und Ihr seid demnach der Bürger Hoffmann?»

«Genau.»

«Bürger Hoffmann», wiederholte Mathis. Er wusste aus den verschiedenen Pamphleten, die er mit seinen Freunden im Hauskreis diskutierte, dass sich in Frankreich alle, ob hoch oder niedrig, als Bürger ansprachen. Selbst der König war, bevor man ihn um einen Kopf kürzer gemacht hatte, nur noch der Bürger Capet gewesen. Gleichwohl erschien ihm die Anrede seltsam. Sie war ihm sogar etwas genierlich – umso mehr, als er aus den Augenwinkeln wahrnahm, dass sich sein Schwiegervater über den Kandidaten mokierte. «Und wie ist das nun mit der Erde?», fragte er deshalb, um das Thema zu wechseln. «Dreht sie sich tatsächlich um die eigene Achse und einmal im Jahr um die Sonne?»

Sebastian Hoffmann schaute ihn überrascht an. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. «Hat Euch das Samuel erzählt? Ja, ja, da hat er recht. Und nicht nur die Erde, auch die Planeten kreisen um die Sonne. Sie ist unser Zentralgestirn.»

Mathis fasste sich ein Herz und stellte die Frage, die ihn schon lange beschäftigte: «Drehen sich auch der Abend- und der Morgenstern um die Sonne?»

«Das sind nicht zwei Planeten, das ist nur einer: die Venus.»

«Und da seid Ihr sicher?»

«Natürlich. Ihr seht sie nur zu unterschiedlichen Zeiten, weil da oben», Hoffmann deutete zum Himmel, «alles in Bewegung ist. Ich sehe schon», sagte er nach einer kurzen Gedankenpause, «Ihr seid einer, der als Bauer fest auf der Erde steht und gleichzeitig die Arme zu den Sternen streckt. Bemerkenswert.» Er hüstelte. «Aber jetzt muss ich mich verabschieden. Pfarrer Grynäus hat seine Base, die Bürgerin Staehelin, zum Mittagessen eingeladen, und er erwartet, dass ich ihr die Honneurs mache. Es war mir eine Freude, Euch kennenzulernen.» Nochmals griff er nach Mathis’ Hand und schüttelte sie überschwänglich.

Die beiden Männer sahen ihm nach. «Da geht er, der Bürger Hoffmann, und lässt den Bürger Jacob einfach stehen», frotzelte Emil Strub.

Einen grossen Teil der folgenden Nacht verbrachte Mathis Jacob im Freien. Bereits am Nachmittag hatte er bemerkt, dass eine seiner Kühe, die trächtig war, im Verlauf der nächsten Stunden kalben würde. Sie sonderte einen zähen Schleim ab, war unruhig, legte sich hin und stand auf. Immer wieder. Er würde bei ihr bleiben, um Geburtshilfe zu leisten. Dorothea Staehelin hatte ihn gebeten, mit Salome dabei sein zu dürfen. Das Mädchen solle sehen, wie neues Leben auf die Welt komme. Mit elf Jahren sei sie alt genug zu erfahren, was jedes Bauernkind wisse. So begleiteten Mutter und Tochter den Bauern, als er nach dem Nachtessen hinaus auf die Weide ging. Barbara und ihre Kinder blieben zurück.

Es war einer jener schier unerträglich klaren Spätsommerabende, an denen die Luft, lange nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, noch schwer und süss über dem Land hängt. Die drei sassen schweigend um ein Feuer, das Mathis angezündet hatte, um die Mücken fernzuhalten. Die Kuh hielt sich in ihrer Nähe, wandte ihnen den Kopf zu und betrachtete sie aus ihren grossen, sanften Augen. Fast unmerklich wurde es dunkel. Die Konturen der Hügel waren vor dem schwarzen Himmel nur noch zu erahnen. Aus dem nahen Wald drangen die Geräusche der Nacht. Salome lehnte ihren Blondschopf an die Schulter der Mutter und verfiel in einen leichten Schlummer.

Sie erwachte, als Mathis eine Fackel entzündete, die er mitgenommen hatte. Er trat hinter das Tier, dessen Flanken arbeiteten, und zeigte dem Mädchen die Fruchtblase, die aus der Schamspalte hervordrängte. Die Wehen hatten eingesetzt. Die Kuh brüllte mehrmals. Dorothea Staehelin legte den Arm um ihre Tochter, die zum ersten Mal das Mysterium einer Geburt miterlebte. Mit gestreckten Gliedmassen lag das Tier jetzt schwer atmend auf der Seite.

«Da», sagte Mathis endlich. Er stand auf und warf einen Armvoll Holz ins Feuer. Im Schein der flackernden Flammen wurden die Vorderbeine des Kälbleins sichtbar. Eine Viertelstunde später platzte die Fruchtblase, ein Schwall Flüssigkeit ergoss sich ins Gras und Salome sah das Maul und kurz darauf den Kopf aus dem Leib des Muttertiers hervorgucken. Jetzt ging es plötzlich sehr rasch. Das Kalb wurde der Länge nach ausgestossen, und die Nabelschnur zerriss. Die Kuhmutter stand schwerfällig auf und begann ihr Neugeborenes abzulecken.

Während sie auf die Nachgeburt warteten, wollte Salome, sichtlich bemüht, das Erlebte zu verarbeiten, von ihrer Mutter wissen, ob auch sie einmal in ihrem Bauch gewesen und ob es bei ihrer eigenen Geburt ähnlich zugegangen sei. Dorothea nickte und zog sie an sich.

Gegen Mitternacht kehrten sie zum Hof zurück. Dorothea schickte Salome, der die Augen zuzufallen drohten, ins Bett. Sie selber trat zu Mathis, der, den Kopf im Nacken, in den nächtlichen Himmel starrte. Er warf ihr einen Seitenblick zu. «Da oben ist alles in Bewegung», sagte er schliesslich.

Die Frau schwieg. Ihr Pächter sei ein Mann, der mit den Füssen auf der Erde stehe und die Arme zu den Sternen strecke, hatte Sebastian Hoffmann beim Mittagessen im Pfarrhaus gesagt. Das ist ein poetisches Bild, hatte Dorothea gedacht. Der Hauslehrer des Pfarrers hatte ausserdem von den Fragen des Bauern nach den Planeten berichtet. Sie nahm an, dass Mathis jetzt versuchte, das Gehörte zu verstehen und in sein Weltbild einzufügen. «Ihr scheint einen grossen Eindruck auf den Kandidaten Hoffmann gemacht zu haben», bemerkte sie.

«So?» Wieder ein Seitenblick. «Er ist ein seltsamer Mensch. Er nannte mich Bürger Jacob.»

Sie unterdrückte ein Lächeln. «Er ist ein Schwärmer», meinte sie dann, «einer von jenen, die davon überzeugt sind, dass mit der Revolution in Frankreich auch die hohen Ideen der Aufklärung in den Köpfen der Menschen Einzug halten werden. Aber Ihr könnt ihm trauen. Er ist einer von uns.»

Einer von uns. Mathis dachte darüber nach, wer mit diesem «uns» wohl gemeint war.

«Er gehört zu den Patrioten», beantwortete Dorothea Staehelin die Frage, die er nicht gestellt hatte.

«Das hat er mir gesagt.» Mathis wusste, dass sich eine Gruppe von Basler Bürgern so nannte. Sie unterstützten den Stadtschreiber Ochs und dessen Schwager, den Ratsherrn Peter Vischer, im Kampf für die politischen Rechte der Landbevölkerung. Den Patrioten standen die Aristokraten gegenüber, die von Bürgermeister Debary angeführt wurden. Für ihresgleichen sollte die Landschaft für Zeit und Ewigkeit Untertanengebiet bleiben. Aber Ochs, frankophil und der Aufklärung verpflichtet, galt als der kommende Mann. Im Auftrag seiner Vaterstadt hatte er verschiedentlich mit den Mächtigen in Paris verhandelt. Er hatte eine wichtige Vermittlerrolle gespielt, als im letzten April ein Frieden zwischen Frankreich und Preussen und im Juli zwischen Frankreich und Spanien geschlossen wurde. Für die Gespräche hatte er sein Haus, den herrschaftlichen Holsteinerhof in Basel zur Verfügung gestellt. Peter Ochs, dachte Mathis, gehörte zu den reichen städtischen Patriziern. Auch wenn er sich für die Landleute einsetzte, war er in seinem ganzen Wesen wohl ein Gnädiger Herr. Ob er es schätzen würde, wenn ein einfacher Bauer, wie er es war, ihn als Bürger Ochs anspräche?

«Ihr sagt ‹uns›.» Mathis vermied es, sie anzusehen. «Gehört Ihr dazu?»

«Ja.» Das tönte beinahe leidenschaftlich. Sie fasste ihn am Oberarm. «Und ich hoffe, dass auch Ihr uns anschliesst, so wie der Uhrmacher Wilhelm Hoch und der Orismüller aus Liestal, zwei Landleute, die, wie Ihr, fähig sind, über ihren Stand hinauszudenken.»

Sein Körper versteifte sich. Ihre Berührung erschreckte ihn. Doch dann legte er seine Hand auf die ihre. Sie sahen sich an. Schweigend.

«Dorothe», sagte er leise und küsste sie auf die Stirn.

Sie senkte den Kopf. «Es darf nicht sein», flüsterte sie. «Du bist verheiratet.»

Am Fenster ihrer Kammer, hinter dem Vorhang verborgen, stand Barbara Jacob. Sie hatte nicht einschlafen können. Erst um Mitternacht war Mathis mit Madame und der kleinen Mamsell zurückgekehrt. Sie hatte gehört, wie Dorothea Staehelin ihre Tochter hinaufschickte. Aber ihr Mann war nicht gekommen. Schliesslich hatte sie das Bett verlassen, auf den Hof hinausgespäht und beobachtet, wie Mathis die vornehme Frau küsste. Barbara schien, sie habe sich nicht mehr von ihm lösen wollen.

Als er später die Schlafkammer betrat und zu ihr ins Ehebett stieg, kehrte sie ihm den Rücken zu und stellte sich schlafend. Er realisierte nicht, dass ihre Schultern bebten.

Die Revoluzzer

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