Читать книгу Die Revoluzzer - Werner Ryser - Страница 8
3
ОглавлениеSankt Peter, die einzige Kirche der Talschaft, lag flussabwärts, unterhalb von Oberdorf. Am Sonntag nach ihrer Ankunft begleitete Dorothea Staehelin Barbara Jacob und deren drei älteste Kinder in den Gottesdienst. Heute war Anwesenheit Pflicht, denn die Männer des Amtes Waldenburg hatten vor dem neuen Landvogt Hans Jakob Müller den Huldigungseid abzulegen. Mathis war allerdings nicht mitgekommen. Er habe sich nachts mehrmals übergeben müssen, berichtete seine Frau. Ausserdem quälten ihn heftige Kopfschmerzen. Auch Salome und Samuel waren, unter der Obhut von Hanna, zu Hause geblieben.
Amüsiert beobachtete Dorothea, wie Müller, ein kleiner, gedrungener Mensch, hoch aufgerichtet auf dem für ihn reservierten Stuhl im Chor der Kirche sass. Er war Meister der Zunft zu Metzgern in Basel. Durch einen Losentscheid war ihm für acht Jahre die Herrschaft über das Amt Waldenburg in den Schoss gefallen. Er trug einen schwarzen Mantel, schwarze Kniehosen und schwarze, seidene Strümpfe. Den Ratsherrenhut hielt er auf den Knien. Das Kinn in die gefältelte spanische Halskrause gedrückt, betrachtete er misstrauisch seine Untertanen. Dorothea wusste, dass bei der Besetzung von einträglichen Stellen im Freistaat Basel in der Vergangenheit ein unschöner Ämterschacher üblich gewesen war. Neuerdings liess man sich bei der Vergabe von Landvogteien vom Zufall leiten – nach dem Grundsatz, wonach Gott jenen, denen er ein Amt gibt, auch den notwendigen Verstand schenkt.
Ihr Vetter, der Pfarrer, hatte an diesem Tag auf Anordnung des Antistes einen Text aus dem Römerbrief auszulegen: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen.
Während er predigte, fragte sich Dorothea, ob es Theophil Grynäus, mit dem sie zuweilen geistreiche Gespräche über Freiheit und Menschenrechte führte, nicht genierlich war, von seiner Gemeinde bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Bürgermeister, dem Oberstzunftmeister und dem Landvogt zu verlangen.
Nachdem er endlich zum Schluss gekommen war, sprach er den Männern der Talschaft, die sich erhoben hatten, den Treueeid vor, den sie Wort für Wort dumpf nachbeteten.
Hans Jakob Müller stand vor dem Altartisch und schien in den verschlossenen Gesichtern seiner Untertanen nach Widerborstigkeiten zu suchen. Die Hand auf dem Zierdegen an seiner Rechten war er bereit, sie im Keim zu ersticken. Ein kleiner, kampfbereiter Mann. Was für ein aufgeblasener Frosch, dachte Dorothea halb belustigt, halb ärgerlich. Sie war froh, dass Mathis nicht an diesem Ritual der Unterwerfung hatte teilnehmen müssen.
Theophil Grynäus war wie so viele zweit- und drittgeborene Söhne von Basler Handelsherren, denen es nicht vergönnt war, das väterliche Geschäft zu übernehmen, vor die Wahl gestellt worden, Offizier in fremden Diensten oder Geistlicher zu werden. Der durch und durch unkriegerisch gesinnte Mensch hatte sich für Gott entschieden und war nach seinem Theologiestudium vom Rat als Pfarrer in Waldenburg eingesetzt worden. Er hätte es schlechter treffen können. Wie seine Amtsvorgänger lebte er im Schönthaler Hof, dem «Steinernen Haus», wie man es im Ort nannte. Es lag in der Nordwestecke der Stadtbefestigung. Ein mächtiger, zweigeschossiger Bau, der durch einen Toreingang über den Hof zugänglich war. Ursprünglich hatte das Haus, das zu den ältesten im Städtchen gehörte, wohl als Adelssitz gedient. Er war verwitwet. Eine Magd besorgte ihm den Haushalt und kümmerte sich um seine vier Kinder. Für die kleine pfarrherrliche Landwirtschaft war ein Knecht zuständig.
Wie von jedem Pfarrer in der Landschaft erwartete die städtische Obrigkeit auch von ihm, dass er sie regelmässig über mögliche Unruhestifter in seiner Herde informierte. Da jetzt zu befürchten war, die Baselbieter könnten sich die aufrührerischen Sundgauer Bauern zum Vorbild nehmen, war das Misstrauen der Gnädigen Herren besonders gross. Grynäus richtete seine akkurat verfassten Schreiben an den Münsterpfarrer, der als Antistes Vorgesetzter aller Geistlichen im Kanton war. Die Berichte wurden an die Staatskanzlei weitergeleitet, wo man entsprechende Massnahmen gegen unbotmässige Untertanen ergriff.
Schon vor ein paar Tagen hatte Theophil Grynäus seine Base eingeladen, nach dem sonntäglichen Gottesdienst das Mittagessen mit ihm im Schönthaler Hof einzunehmen. Jetzt sass man bei Tisch in der Halle unter der Balkendecke, die mit Blumen, Granatäpfeln, Trauben und einem Hirsch bemalt war. Die Haushälterin hatte einen Braten zubereitet. Dazu gab es Kartoffeln und Apfelschnitze.
Nach dem Essen schickte der Pfarrer seine Jungmannschaft in den Hof zum Spielen und bat Dorothea zu einem Gespräch unter vier Augen in seine Studierstube. «Es geht um deinen Pächter», sagte er, als sie Platz genommen hatte. «Im Schloss oben verdächtigt man ihn der Ketzerei.»
Dorothea lachte. «Das kann nicht sein. Mathis ist ein braver Mann, der jeden Sonntag in die Kirche geht. Er hat alle seine Kinder taufen lassen und schickt sie auch in die Kinderlehre.»
«Ich weiss», seufzte der Pfarrer. «Gleichwohl hat mich der Landvogt beauftragt, der Sache nachzugehen. Er hat sogar gedroht, andernfalls selber die Obrigkeit zu orientieren.» Er schaute seine Base an. «Ich frage dich nun ganz direkt: Ist Mathis ein Täufer, wie sein Vater Johannes einer war? Und bevor du jetzt etwas sagst», schob er eilig nach, «musst du wissen, dass er sich regelmässig mit ein paar anderen Bauern in einem Hauskreis trifft, wo man die Bibel liest und das Wort Gottes auslegt.»
Davon wusste Dorothea nichts. «Wer hat dir das erzählt?»
«Heinrich Bidert, der Schuhmacher, der in Bärenwil bei Langenbruck lebt. Er nimmt in meinem Auftrag an diesen Konventikeln teil und berichtet mir darüber.»
«Du lässt die Mitglieder deiner Gemeinde heimlich überwachen?» Dorothea schaute ihn ungläubig an.
«Das gehört zu meinem Hirtenamt.» Grynäus zitierte aus dem Lukasevangelium: «Welcher von euch, wenn er hundert Schafe hat, und verliert eines von ihnen, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste, und gehet dem verlorenen nach, bis er es findet?»
Dorothea stellte sich den kleinen, rundlichen Vetter als Hirten vor und ihren Pächter, der ein stattliches Mannsbild war, als verlorenes Schaf. Nur mit Mühe konnte sie ein Lächeln unterdrücken. Natürlich wusste sie um den täuferischen Hintergrund der Jacobs. Tatsächlich gab es viele reiche Basler, die, wie ihr Vater, ihre Sennhöfe in der Landschaft am liebsten an Mennoniten verpachteten. Diese standen im Ruf, zuverlässig und fleissig zu sein. Ihr Glaube störte nicht, solange sie ihre Zinsen pünktlich bezahlten. Es erschien ihr als Anachronismus, jemanden als Ketzer zu bezeichnen, nur weil er einem etwas abweichenden Glauben anhing. «Aber Theophil», tadelte sie den Cousin, «denk an unsere Diskussionen über die Dichter und Denker, die in deinem Bücherregal stehen. Ich kann nicht glauben, dass du dich dafür hergeben magst, deine Schäfchen auszuspionieren.»
«Der Herr Landvogt und der Herr Antistes in Basel …» Grynäus, der wenig mutig und überdies obrigkeitsgläubig war, rang die Hände. Das Gespräch war ihm peinlich. «Mathis Jacob war heute nicht in der Kirche, als die Treue zur Stadt beschworen wurde. Der Herr Landvogt hat von mir verlangt, eine Liste jener Männer zu erstellen, die an der Zeremonie fehlten. Während des Gemeindegesangs habe ich seinen Auftrag erledigt. Mathis Jacob war nicht da!» Grynäus schaute seine Base herausfordernd an.
«Du wirst ihn von deiner Liste streichen! Er ist krank.»
«Ob das der Landvogt glauben wird?»
«Da gibt es nichts zu glauben. Er steht nicht auf deiner Liste, sonst sind wir geschiedene Leute.»
Grynäus blieb hartnäckig: «Immerhin hat dein Pächter den Ruf, wider den Stachel zu löcken. Du weisst: Man hat ihn auch schon einmal mit Kerkerhaft bestrafen müssen.»
«Mach dich nicht lächerlich.» Wie immer, wenn sie sich ärgerte, vertieften sich die zwei Falten über Dorotheas Nasenwurzel. «Erstens liegt die Sache fünfzehn Jahre zurück, und zweitens war das eine Schikane, an der mein Vater, Gott möge ihm verzeihen, ein gerütteltes Mass an Mitschuld trägt. Wie kommt der hochwohlgeborene Metzgermeister überhaupt dazu, von diesen Dingen zu wissen?»
«Das Schlossarchiv hat ein langes Gedächtnis. Nach seiner Ankunft in Waldenburg hat er sich alle Akten, die Strafsachen betreffen, vorlegen lassen. Wenn sich jetzt noch herausstellen sollte, dass er ein Ketzer ist, gerät er in Schwierigkeiten. Ich habe gehofft, dass du mir bestätigst, dass Mathis Jacob kein Täufer ist. Dann könnte ich mich in meinem Bericht auf dich berufen. Am Wort einer geborenen Preiswerk wird der Landvogt nicht zu zweifeln wagen.»
«Das würde dir so passen, die Verantwortung auf ein Frauenzimmer abzuschieben.» Wieder war eine gewisse Schärfe in ihrer Stimme. Und mit leisem Spott fuhr sie fort: «Wie du richtig gesagt hast: Du bist sein Hirte, also wirst du selber auch Zeugnis für seine brave Gesinnung ablegen. Lass deinen Knecht die Chaise anspannen, und fahr mit mir nach Sankt Wendelin. Dann kannst du ihn gleich selber fragen.»
Eine Stunde später sassen sie in der Stube von Sankt Wendelin: Mathis Jacob, der offenbar wieder munter war, seine Frau Barbara, Dorothea Staehelin und Pfarrer Grynäus. Martha, Peter und Paul hatten noch im Städtchen bleiben dürfen und würden später heimkehren. Hanna war angewiesen worden, im oberen Stockwerk auf Salome und Samuel aufzupassen. «Macht keinen Lärm!», hatte ihnen Madame eingeschärft. «Wir haben hier wichtige Dinge zu besprechen.»
Mathis war Theophil Grynäus unheimlich. Er war grösser und kräftiger als der Geistliche, und mit seinem vollen, dunklen Haarschopf und dem Bart, die sein markantes Gesicht umrahmten, schien er ihm bedrohlich. Jetzt schwieg er und wartete darauf, was Grynäus zu sagen hatte.
Der schaute um Hilfe heischend zu seiner Base. Ein spöttisches Lächeln spielte um ihre Lippen.
Der Pfarrer gab sich einen Ruck. «Ich will nicht drum herumreden, Mathis. Es geht das Gerücht, dass du zu den Täufern gehörst.»
«Unsinn!» Der Bauer sah Grynäus durchdringend an.
«Unsinn? Das musst du mir genauer erklären.» Und hastig: «Der Herr Landvogt hat mir den Auftrag gegeben, über dich einen Bericht zu schreiben.»
«Ihr wisst genau, dass ich getauft bin und dass Ihr selber meine Kinder getauft habt. Ich und die Meinen kommen Sonntag für Sonntag zur Kirche. Mein Vater war ein Taufgesinnter. Ich bin es nicht.»
«Der Herr Landvogt scheint dir nicht zu glauben.»
«So, er glaubt mir nicht?» Mathis erhob sich und trat ans Fenster.
Grynäus duckte sich, als er an ihm vorbeiging. Von dem Mann ging eine versteckte Gewalttätigkeit aus, die ihn ängstigte.
«Wenn er meinem Wort nicht vertraut», sagte der Bauer und schaute hinaus auf die Weide, «kann man nichts machen. Was wollt Ihr?» Er kehrte sich um und schaute den Pfarrer an. «Möchtet Ihr, dass ich einen heiligen Eid schwöre? Oder geht es Euch gar nicht darum? Möchtet Ihr und Euer Landvogt mich und meine Familie vom Hof vertreiben, wie es die Gnädigen Herren von Bern mit meinen Vorfahren getan haben?»
«Mathis, bitte», versuchte ihn seine Frau zu beschwichtigen.
Er wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung weg. «Wie lange noch glaubt Ihr und Euresgleichen, über unser Gewissen bestimmen zu können?» Er schaute Grynäus feindselig an. «Selbst wenn ich Täufer wäre, so wäre das eine Sache, die ich allein vor Gott zu verantworten hätte. Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Das schliesst unserer Meinung nach auch das Recht auf den freien Glauben ein.»
Dorothea Staehelin hob den Kopf. Sie besass ein Exemplar der Droits de l’Homme et du Citoyen. Mathis hatte von «uns» gesprochen. Dass auch die Untertanen in der Basler Landschaft die Menschenrechte lasen und sogar daraus zitierten, verblüffte sie.
Der Pfarrer war schockiert. «Woher hast du das?»
«Glaubt Ihr, wir wüssten nicht, was in Frankreich geschieht?»
Grynäus verschlug es die Sprache. War man schon so weit? Musste man bei den eigenen Untertanen mit Gewalt und Rebellion rechnen? Der Pfarrer stand auf. Auf seiner Stirn standen Schweisstropfen. «Ich sehe schon, du bist kein Täufer, du bist ein Revoluzzer. Ich werde dies dem Herrn Landvogt mitteilen müssen.»
«Nichts wirst du!», zischte Dorothea. Und dann fuhr sie auf Französisch fort: «Was Mathis sagt, ist genau das, was auch du mir gesagt hast, als wir das letzte Mal über die Menschenrechte und die verknöcherte Herrschaft in Basel diskutiert haben. Wenn ein Wort über dieses Gespräch nach aussen dringt, wenn du es wagen solltest, Mathis Jacob zu denunzieren, wenn du erwähnst, dass er heute beim Huldigungseid nicht anwesend war, werde ich deine Vorgesetzten über deine Lektüre und deine aufrührerischen Reden ins Bild setzen, und dann wird es mit deiner Pfarrherrenherrlichkeit im schönen Waldenburg ein rasches Ende nehmen.»
«Dorothea!» Er schaute seine Base entsetzt an.
«Mathis Jacob ist mein Pächter», sagte sie jetzt wieder im Dialekt, «und ich lasse nicht zu, dass ihm ein Leid geschieht.»
Noch während sie dem Vetter zornig in die Augen starrte, hörte man einen Schrei, dann wurde die Tür zur Stube aufgerissen.
«Sämi», stammelte Hanna. Sie war kreidebleich.
Hinter ihr stand Salome. Auch ihr war der Schrecken ins Gesicht geschrieben. «Er ist tot.» Sie stürzte zu ihrer Mutter und vergrub schluchzend den Kopf an ihrer Brust.