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§ 1 Zwischen Schwermut und Lebensfreude
ОглавлениеSeiner Geburt, Erziehung und Bildung nach ist Paul Tillich ein Kind des 19. Jahrhunderts.1 Dieses 19. Jahrhundert, dessen Wurzeln in den christlich unterbauten Humanismus der deutschen Aufklärung reichen, endete mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Tillich war aber ebenso ein Kind des 20. Jahrhunderts. Die Worte, die er 1929 zum Lessing-Jubiläum sprach, können als Motto seines ganzen Lebens und Denkens gelten: „Der Humanismus kann nicht der letzte Grund sein, auf dem wir bauen. Mehr noch als durch geistige Strömungen ist er durch die ungeheuren geschichtlichen Ereignisse erschüttert, deren Zeugen und Mitwirker wir waren. Wir wissen wieder von dämonischer Besessenheit der Völker und Seelen. Wir schauen wieder aus nach begnadetem Sein. Das Jenseits des Seins, das Jenseits des Menschen ist uns wieder Problem. Aber freilich: Problem, nicht Selbstverständlichkeit …“ (G XII, 111).
Paul Tillich wurde als Pfarrerssohn am 20. August 1886 im brandenburgischen Starzeddel (Kreis Guben) geboren. Seine Eltern zogen im Jahre 1900 nach Berlin, nachdem sein Vater an das dortige Königliche Konsistorium berufen worden war. Das enge Bündnis von Thron und Altar kennt Tillich also aus eigenem Erleben. In seinem autobiographischen Rückblick Auf der Grenze schreibt Tillich seinem märkischen Vater und seiner rheinischen Mutter die widersprüchlichen Eigenschaften seines Charakters zu: einerseits Schwermut und ein übermäßiges Autoritäts-, Pflicht- und Schuldbewusstsein, andererseits den Sinn für Lebensfreude, sinnliche Anschauung, Beweglichkeit und Rationalität. Die lange Krankheit und der frühe Tod seiner Mutter – sie starb, als er 17 Jahre alt war – haben seine Grundstimmung der Schwermut, die Erfahrung des „Abgrundes“ und das Interesse an philosophischen und religiösen Fragen verstärkt (vgl. G XII, 13f.). Aus der Zeit vor seinem Abitur in Berlin (1904) stammt folgendes Gedicht:2
Bin ich denn ich, wer sagt mir, daß ich bin!
Wer sagt mir, was ich bin, was ich soll werden,
was ist der Welten, was des Lebens Sinn?
Was ist das Sein und das Vergehn auf Erden?
O Abgrund ohne Grund, des Wahnsinns finstre Tiefe!
Ach, daß ich nimmer dich geschaut
und kindlich schliefe!
1 Biographien (Auswahl): W. u. M. Pauck, Paul Tillich: His Life and Thought. Vol. I: Life, New York 1976, dt.: Dies., Paul Tillich. Sein Leben und Denken. Bd. I: Leben, Stuttgart 1978; C. H. Ratschow, Paul Tillich. Ein biographisches Bild seiner Gedanken, in: Tillich-Auswahl, hg. von M. Baumotte. Bd. 1, Gütersloh 1980, 11–104; R. Albrecht/W. Schüßler, Paul Tillich. Sein Leben, Frankfurt/M. 1993; W. Schüßler, Paul Tillich (Beck’sche Reihe, 540), München 1997.
2 Zitiert nach: R. May, Paulus. Reminiscences of a Friendship, New York 1973, 41.