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3.4.2 | Temperament
ОглавлениеEltern wissen aus Beobachtung und Erfahrung, dass sich Kinder von Anfang an unterscheiden: Es gibt aktive und ruhige Neugeborene und Kleinkinder, solche die häufig und anhaltend schreien und nur schwer zu beruhigen sind und wieder andere, die selten schreien und leicht zu beruhigen sind. Kinder unterscheiden sich in ihren motorischen Aktivitäten und in ihren Reaktionen auf unbekannte Situationen voneinander und so weiter.
Galen
Das alles sind längst bekannte Fakten, wie dieses Zitat von Galen zeigt:
„Die Grundlage meiner ganzen Argumentation ist das Wissen von Unterschieden, die bei kleinen Kindern beobachtet werden können und uns die Eigenschaften der Seele enthüllen. Einige [Kinder] sind sehr träge, andere heftig; einige unersättliche Feinschmecker, andere gerade das Gegenteil; sie können schamlos sein oder schüchtern und zeigen viele andere analoge Unterschiede.“ (Galen, ca. 150 n. Chr., zit. nach Zentner 1993)
Hippokrates
Der Versuch, die Unterschiede zwischen den Menschen zu ordnen und zu erklären, hat eine lange Tradition: Hippokrates (460 v. Chr.) knüpfte an altindische und babylonische Überlegungen an und ging davon aus, dass die Dominanz bestimmter Körpersäfte zur Ausbildung des Temperaments führe.
Theophrast (319 v. Chr.) und Galen verbanden diese Annahme mit den vier bis heute populären Temperamenttypen des Sanguinikers, Melancholikers, Cholerikers und Phlegmatikers (Allport 1970). Je nach Verhältnis zwischen den Körpersäften resultiere mehr oder weniger deutlich einer der vier Typen (temperare = stimmen, abstimmen).
empirischer Zugang
Verbesserte Methoden der empirischen Psychologie ließen jedoch bald erkennen, dass solche weitgehend intuitiv konstruierten Typologien im Allgemeinen kaum systematisch mit dem tatsächlichen Erleben und Verhalten zusammenhängen und auch kaum Vorhersagen auf zukünftiges Verhalten erlauben (Mangel an Prädiktabilität).
multidimensionaler Ansatz
Die differentielle Psychologie ging in der Folge – im Gegensatz zu den Typologien – von einem multidimensionalen Ansatz aus und postulierte Persönlichkeitsdimensionen, die weitgehend unabhängig voneinander sind. Analog dazu ging auch die sich ab den 1950er-Jahren entfaltende moderne Temperamentsforschung von einem multidimensionalen Konzept aus. Nachfolgend werden die Grundannahmen und Ergebnisse der modernen psychologischen Temperamentsforschung skizziert.
Grundannahmen
Temperamentsunterschiede beziehen sich nach Bates (1989) auf:
Unterschiede im beobachtbaren Verhalten,
biologische, insbesondere neurophysiologische Unterschiede,
angeborene, insbesondere hereditär (erblich) bedingte Unterschiede.
Definition
Bates (1989) definierte das Temperament so: „[It] consists of biologically rooted individual differences in behavior tendencies that are present early in life and are relatively stable across various kinds of situations and over the course of time“ (Bates 1989, 4).
interindividuelle Verhaltensunterschiede
Der Temperamentsbegriff bezieht sich also auf beobachtbare interindividuelle Verhaltensunterschiede (Thomas et al. 1968), insbesondere auf Unterschiede in der Intensität des Emotions- und Erregungsausdruckes (z.B. Schreien), in der motorischen Aktivität (z.B. Strampeln im Bettchen) und auf Unterschiede im Schlaf-Wach-Rhythmus, die über verschiedene Situationen und über längere Zeit stabil bleiben.
Diese Verhaltensunterschiede basieren nach Ansicht der meisten Forscher auf biologischen Unterschieden (Bates 1989), zeigen sich schon in der frühen Kindheit (Goldsmith et al. 1987) und sind weitgehend genetisch bedingt (Buss/Plomin 1984; Thompson 1990; Emde et al. 1992; Goldsmith 1989; Saudino et al. 1995; Schmitz et al. 1996).
Studie
In einer der wichtigsten empirischen Längsschnittstudien über das Temperament von Kindern, der New York Longitudinal Study (NYLS) von Alexander Thomas und Stella Chess (1977) wurde das Temperament nicht direkt beobachtet, sondern mittels persönlicher Befragung der Mütter erfasst.
Diese Studie begann 1956 mit 141 Kindern aus 85 Familien, später wurden weitere Untersuchungsgruppen aufgenommen (Frühgeburten, Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, Kinder mit geistiger Behinderung). Die Interviews mit den Müttern erfolgten in den ersten 2 Jahren nach der Geburt alle 3 Monate und danach bis zum 7. Lebensjahr in größeren Abständen (zuerst in halbjährlichen, später in jährlichen Abständen).
Später wurden nochmals zu 2 Zeitpunkten Interviews durchgeführt, einmal als die Kinder im Jugendalter waren und nochmals im frühen Erwachsenenalter. Interviewpartner waren jetzt die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen selbst.
Thomas und Chess (1977) definierten das Temperament als einen Verhaltensstil: Es interessierte die Art und Weise, wie sich das Kind verhält und wie es handelt, und nicht weshalb oder wie gut es gewisse Dinge tun kann.
Dimensionen bei Thomas und Chess
Sie operationalisierten das Konstrukt durch 9 Temperamentsdimensionen:
Kasten
Temperamentsdimensionen nach Thomas und Chess:
(1) Annäherung vs. Rückzug gegenüber neuen Erfahrungen (approach/withdrawal)
(2) Anpassung an Veränderungen (adaptibility)
(3) positive vs. negative Stimmungen (mood)
(4) Intensität emotionaler Reaktionen (intensity)
(5) Rhythmizität biologischer Funktionen (rhythmicity)
(6) Beharrlichkeit gegenüber umweltbedingten Widerständen (persistence)
(7) Ablenkbarkeit/Beruhigbarkeit (distractibility)
(8) Aktivitätsniveau (activity)
(9) Stimulationsschwelle für die Auslösung einer Reaktion (threshold)
Kritik
Die sich im Anschluss an NYLS entfaltende empirische Temperamentsforschung erfasste diese Verhaltensdimensionen meist mittels Elternfragebogen. Die Dimensionen erwiesen sich allerdings als zu wenig unabhängig voneinander und über die Zeit nur als moderat stabil.
schwieriges Temperament
Ein übergeordneter Faktor schwieriges Temperament (bei Thomas und Chess die Dimensionen 1–5) wurde zwar oft gefunden, enthielt jedoch in der Regel nur einzelne, aber nicht alle 5 postulierten Dimensionen (Bates 1989). Zum „schwierigen Temperament“ scheint v.a. der häufige Ausdruck negativer Affekte (Schreien) – weniger jedoch die Rhythmizität zu gehören. Thomas und Chess klassifizierten etwa bei 10% der Kinder ein „schwieriges“ und bei 40% der Kinder ein „einfaches“ Temperament.
Weiterentwicklungen
Da sich die postulierten Dimensionen nur bedingt bewährt haben, ist es nicht erstaunlich, dass das Konzept weiterentwickelt wurde.
Rothbart und Derryberry (1981) gingen beispielweise aufgrund ihrer Forschung von 6 Dimensionen aus (→ Tab. 3.1), Buss und Plomin (1984) nur noch von 3 Dimensionen. Insgesamt wird deutlich, dass je nach Autorengruppe klar unterschiedliche Dimensionen vorgelegt wurden.
negative Emotionalität
Die Dimension der negativen Emotionalität (Buss/Plomin 1984) bezieht sich auf das Ausmaß der sich im Verhalten oder im Emotionsausdruck äußernden Erregung auf Ereignisse. Eine ausgeprägte Tendenz zur Erregung basiert auf der Dominanz des sympathischen Teils des vegetativen Nervensystems. Welche der negativen Affekte besonders ausgeprägt sind (Furcht, Ärger), ist einerseits von Erfahrungen, andererseits von weiteren Temperamentsausprägungen abhängig (z.B. von hoher Aktivität, die eher zu Ärger führt).
Eng verwandt mit dem Konzept der Emotionalität ist das Konzept des „schwierigen“ Temperaments (vgl. Bates 1989; Thomas/Chess 1977).
Aktivität
Das Konzept der Aktivität bezieht sich auf das Tempo und die Energie, mit dem bzw. der das Kleinkind z.B. seine Umgebung exploriert oder beim Spielen agiert. Sehr aktive Kinder fordern die Kontrolle der Eltern stärker heraus, wodurch Konflikte in der Eltern-Kind-Interaktion wahrscheinlicher werden, dies allerdings in Abhängigkeit vom Temperament, den Ressourcen, Einstellungen etc. der Eltern. Die Richtung des Einflusses ist also wechselseitig. Hohe Aktivität muss somit kein Problem sein, sondern kann im Gegenteil zum Erwerb sozialer Kompetenzen und Privilegien führen.
Tab. 3.1 | Vergleich der Temperamentsdimensionen von Rothbart / Derryberry und Buss / Plomin
Rothbart und Derryberry (1981) | Buss und Plomin (1984) |
(1) Aktivitätsniveau (grobmotorisch) | (1) Aktivität |
(2) Lächeln und Lachen (positiver Affekt)(3) Furcht (Vermeidung neuer Situationen)(4) Frustrationstoleranz | (2) Negative Emotionalität |
(5) Adaptation an neue Reize (Beruhigbarkeit)(6) Orientierungsdauer/Durchhaltevermögen | (3) Soziabilität / Geselligkeit |
Soziabilität
Soziabilität bezieht sich auf das Ausmaß der Präferenz für das Zusammensein mit anderen Personen, besonders mit Personen, zu denen bisher keine Beziehung bestand. Ein Kind mit hohen Werten auf dieser Dimension sucht häufig den Kontakt zu verschiedensten Personen, ist nicht gerne alleine und reagiert auf die Kontaktaufnahme anderer Personen freundlich. Auch hier sind wechselseitige Beziehungen zum familiären Hintergrund denkbar. Problematisch ist zum Beispiel eine hohe Soziabilität des Kindes, die auf eine geringe Kontaktbereitschaft der Eltern stößt.
Erfassungsinstrumente
Die Instrumente zur Erfassung des Temperamentes können hier nicht im Detail besprochen werden. Am häufigsten kamen bisher Fragebögen für die Eltern zur Anwendung (vgl. Übersicht in Bates 1989), seltener persönliche Interviews mit den Eltern oder anderen Kontaktpersonen der Kinder, z.B. den Lehrern. Noch seltener erfolgten Beobachtungen bei den Kindern zu Hause oder im Labor.
Kritik
Die Erfassung des Temperaments per Fragebogen wurde wiederholt kritisiert (Rothbart/Bates 2006). Die Angaben der Mütter in Bezug auf das schwierige Temperament des Kindes hängen nicht nur mit ihren Beobachtungen, sondern auch mit ihren Persönlichkeitseigenschaften und Erwartungen, gemessen bereits vor der Geburt des Kindes, zusammen (Vaughn et al. 1987).
In einigen wenigen Studien kamen sowohl Fragebögen als auch Laborbeobachtungen zum Einsatz. Matheny et al. (1987) fanden mittlere Korrelationen zwischen der im Labor und per Fragebogen erhobenen Lenkbarkeit (tractability).
Stabilität vs. Veränderung
Ein kritisches Merkmal von Temperamentsunterschieden ist deren relative Stabilität über die Zeit. Als genereller Befund gilt: Je jünger die Kinder, desto geringer ist die Stabilität. Dies gilt insbesondere dann, wenn Beobachtungsmaße und nicht Fragebogenmaße eingesetzt werden (vgl. z.B. Saudino/Eaton 1995).
Die noch geringe Stabilität im Verhalten Neugeborener sollte aus mehreren Gründen nicht erstaunen: In den ersten beiden Lebensmonaten reifen verschiedene Hirnstrukturen erst voll aus, insbesondere nimmt die Zahl der neuralen Verbindungen im Kortex stark zu (z.B. im visuellen Kortex, vgl. Banks/Salapatek 1983).
Für die Irritabilität, beobachtet in den ersten 4 Lebenstagen, fand man allerdings eine gewisse Stabilität über die ersten 2 Jahre (Riese 1987). Irritierbare Kinder waren mit 2 Jahren häufiger emotional negativ, weniger aufmerksam und weniger sozial orientiert.
Unterschiede zwischen Neugeborenen
In den ersten Lebensmonaten können – z.B. mittels Brazelton-Test (Brazelton et al. 1987) – teilweise beträchtliche interindividuelle Unterschiede festgestellt werden. Das ist relevant, weil Besonderheiten im Neugeborenenverhalten, beispielsweise eine besonders ausgeprägte Irritierbarkeit, das Fürsorgeverhalten der Mutter nachweislich beeinflussen.
Irritierbarkeit
Im Falle der hohen Irritierbarkeit ist dieser Einfluss eindeutig negativ (Van den Boom/Hoeksma 1994): Mütter stark irritierbarer Kinder beachten deren positive Signale weniger und stimulieren weniger effektiv als die anderen Mütter. Interessanterweise bleiben diese Gruppen-Unterschiede länger erhalten als die Gruppenunterschiede bezüglich der Irritabilität der Kinder.
Stabilität nach 2 Jahren
Ab 2, deutlicher ab 3 Jahren weisen Temperamentsunterschiede beachtliche normative Stabilität auf (Caspi/Silva 1995; Scarpa et al. 1995).