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KAPITEL 2

AM ANFANG STEHT DAS SYSTEM

Ausgangssituation analysieren

Die Auftakt-PK – Der Feind in meinem Bett – Wer schreibt, der bleibt – Ost und West

Es ist der 1. April 2008. Der Deutsche Skiverband lädt in seinem Hauptquartier in Planegg zur Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen sportlichen Leiters und des neuen Bundestrainers der Sparte Skispringen. Der Andrang ist riesig, und es wird schnell klar, dass hier niemand an einen Aprilscherz geglaubt hat. Die Vorstellung der verantwortlichen Personen in dieser für den Verband wirtschaftlich bedeutungsvollen Sportart ist Chefsache. Der Präsident Alfons Hörmann und der Generalsekretär Thomas Pfüller begleiten uns aufs Podium. Moderiert vom erfahrenen Medienverantwortlichen Ralph Eder, der in den kommenden Jahren noch einer meiner wichtigsten und wertvollsten Ansprechpartner werden sollte, legen wir los.

Ich fühle mich fast ein wenig bedroht. Konnte ich an der Anzahl der Anrufe, die ich in den letzten Tagen verhallen ließ, das große Interesse schon erahnen, übertrifft die Journalistenmenge, die sich um die vordersten Plätze balgt, meine kühnsten Erwartungen. Nach den salbungsvollen Eröffnungsworten der obersten Riege bekomme ich das Wort und darf skizzieren, wie ich mir den Wiederaufbau von Skisprungdeutschland vorstelle. Ich versuche, kraftvolle Ansagen und Versprechungen zu vermeiden, und verweise auf die prekäre Nachwuchssituation in Deutschland. Das ist mein Kernthema, von dem ich am meisten verstehe. Schließlich habe ich knapp zehn Jahre damit verbracht und weiß, dass in Deutschland de facto eine ganze Generation fehlt. Ziel müsse es sein, die etablierten Springer noch einmal an ihre Leistungsgrenze zu führen und parallel dazu ein neues junges Team aufzubauen. Dies benötige Zeit und Geduld, und die versuche ich blauäugig einzufordern. Meine Referenz, Jugendtrainer eines Gregor Schlierenzauer gewesen zu sein, sollte mir zu Glaubwürdigkeit und einer gewissen Frist verhelfen.

2008: Der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit mit Horst Hüttel (links)

Zudem mahne ich ein, dass mir Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl wichtig seien und dass ich glaube, dass gute Leistung nur im Team entstehen könne. Sollte man jetzt schnelle Erfolge fordern, hätte man einen Zauberer installieren sollen und nicht mich. Ich sei Trainer und stehe für solide Arbeit. Ich war mir nicht sicher, ob das alle so hören wollten, aber vermutlich hat die Journalisten meine Unbefangenheit und mein Ansatz, Dinge anders darzustellen, zufriedengestellt, und somit sollte ich zumindest eine Chance bekommen.

Wenig später fahre ich nach Ruhpolding zu meiner ersten Trainersitzung mit meinen neuen deutschen Kollegen. Was würde mich dort erwarten? Einige kenne ich ja schon. Manche schätze ich, mit dem einen oder anderen hatte ich als österreichischer Nachwuchstrainer aber auch schon eine Kontroverse. Wie würden sie mich aufnehmen? Schließlich gab es in den letzten Jahren nicht viel zu lachen im deutschen Team, und jetzt wird ihnen auch noch ein junger Österreicher vor die Nase gesetzt.

Die Pressekonferenz mit der Vorstellung meiner Person liegt zwei Wochen zurück. Bestimmt haben sie meine Aussagen kritisch verfolgt. Bin ich womöglich von Kollegen umgeben, die selber gerne diesen Job gemacht hätten? Muss ich mich mit Neidern und zukünftigen Querulanten auseinandersetzen, oder ist die Mehrheit froh, dass etwas Neues auf sie zukommt, und es kann mir gelingen, Aufbruchsstimmung zu erzeugen?

Viele Fragen und ein Dauerkribbeln begleiten mich auf meiner etwa zweistündigen Autofahrt zu dieser ersten gemeinsamen Sitzung. Das Trainerteam hatten wir in stundenlangen Telefonaten zusammengestellt. Am Parkplatz des Labenbachhofs angekommen begegnen mir die ersten Trainerkollegen. Die meisten sind freundlich, und ich bekomme ein gutes Gefühl. Plötzlich stehe ich vor Dietrich Kampf, einem langjährigen, renommierten Nachwuchstrainer aus Oberwiesenthal und so etwas wie mein Erzfeind aus vergangenen Alpencuptagen. Kampf war der Platzhirsch in der traditionellen Ausbildungsstufe der Alpenländer, als ich 1999 in Österreich das Zepter übernahm. Ich ließ mir damals als junger Trainer nichts gefallen und hatte zudem die bessere Mannschaft. Dietrich wiederum versuchte, mit allen Mitteln seinen Status aufrechtzuerhalten, und so kam es zu der einen oder anderen hitzigeren Diskussion. Und jetzt, knapp zehn Jahre später, bin ich sein Chef. Ich versuche, offensiv mit der Situation umzugehen, und gehe auf ihn zu mit den Worten: »So, Dietrich, das kam vermutlich nur in deinen Albträumen vor, dass wir eines Tages zusammenarbeiten werden. Lass es uns trotzdem versuchen!« Er lächelt ein wenig gequält, aber ich spüre auch einen gewissen Respekt und gehe erleichtert weiter.

Ich treffe meinen neuen Co-Trainer und langjährigen Kollegen Rolf Schilli. Mit Rolf bin ich noch zusammen gesprungen, und als Trainerkollegen sind wir uns oft begegnet in den vergangenen zehn Jahren. Es war mein ausdrücklicher Wunsch, mit Rolf arbeiten zu können, weil ich vor allem seine soziale Kompetenz sehr schätze. Rolf, aber auch viele andere haben einen gebundenen Bericht dabei, der für mich in seinem Umfang an eine Mischung aus Seminar- und Diplomarbeit erinnert. Die Berichte werden verteilt und stapeln sich im Raum. Skeptisch werfe ich einen Blick auf die Titelblätter und stelle erstaunt fest, dass es sich hier um Jahres-, Stützpunktanalysen und dergleichen handelt. Auch ich hatte auf meinen bisherigen Stationen den einen oder anderen Kurzbericht geschrieben, aber diese waren dem Namen entsprechend auch wirklich kurz gewesen.

»Wer soll denn das alles lesen?«, frage ich Rolf. Er lächelt und sagt zu mir: »Willkommen in Deutschland!« Auf meine süffisante Bemerkung, dass die schriftlichen Analysen maximal das Archiv füllen und dann zum Heizen verwendet werden können, meint Rolf lapidar: »Wer schreibt, der bleibt!«

So war das also: enorm viel Energieaufwand für Formelles, was naturgemäß viel Zeit frisst. Was ist notwendig und was ist nützlich? Was ist sinnvoll und was ist gewinnbringend? Werden solche Fragen hier überhaupt noch gestellt?

Man spürt ein wenig Aufbruchsstimmung, aber auch viele skeptische Blicke erspähe ich in dem kleinen Sitzungssaal. Nach den Auftaktworten des Skiverbandsverantwortlichen kommt es zu den ersten Analysen der verantwortlichen Trainer des vergangenen Jahres. Ich höre gebannt zu und werfe immer wieder Blicke in die Runde. Entspannt geht anders. Einerseits verständlich, da der Erfolg an der Spitze ausgeblieben ist, aber anderseits auch befremdend. Ich spüre schnell, dass es hier kein Miteinander gibt. Die Präsentationen sind nicht offen, sondern darauf ausgelegt, Schwächen kleinzureden beziehungsweise Stärken und Erfolge übermäßig herauszuheben. Hier geht es um Positionierung, Rechtfertigung und Darstellung. Das mag romantisch klingen, aber in dieser Form kannte ich das von Österreich nicht. Wir waren immer ein eingeschworener Haufen, der nur eines im Sinne hatte: gemeinsam die besten Springer der Welt auszubilden. Hier ging es jedoch darum, die eigene Region und den Stützpunkt zu rechtfertigen und sich mit lokalen Etappenerfolgen zu schmücken.

Bei den Analysen und Berichten von Trainern aus der ehemaligen DDR fallen mir die enorme Fachkompetenz und das Hantieren mit Zahlen und Daten auf. Akribisch genau werden Trainingsdokumentationsdaten vorgelegt und aufgearbeitet, in weiterer Folge Zuordnungen vorgenommen und Schlüsse daraus gezogen. Kein unüblicher Vorgang für mich, aber in dieser Wucht im Skispringen doch neu. Auch in der Schweiz war mir das in dieser Form nicht begegnet. In der Trainerkultur, in der ich aufgewachsen bin, ging es in unserer Sportart doch immer stark um Gefühl und Intuition. Gleichzeitig prägen mein Wirken und Werken eine Portion Mut und Innovation. Hineinfühlen in den Athleten und individuelle Konzeptionen erarbeiten und umsetzen. Bei diesem quantitativen Ansatz, den die Kollegen präsentieren, geht es darum, ob alle offensichtlich nachvollziehbaren Kriterien erfüllt wurden. Böse gesagt versteckt man sich hinter den Zahlen, man konnte auch den Eindruck gewinnen, dass so der »Schuldige« der Athlet wäre: Trotz Durchsetzen und Erfüllen der Vorgaben hat der es halt nicht kapiert.

Eigentlich dachte ich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands 18 Jahre zurückläge. Nach all diesen Berichten bin ich mir da nicht mehr so sicher. Das gemeinsame große Ganze scheint hier nicht gegeben.

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