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Das Versagen der Vorbilder
ОглавлениеWir lernen schon in der Schule, dass Recht und Gesetz nicht dasselbe sind wie Gerechtigkeit. Wo aber ist der Rechtsstaat hingekommen, wenn schon ordentliche Professoren für Staatsrecht jeden Anspruch auf Gerechtigkeit in der Justiz zurückweisen? Vieles deutet auf ein massives und nicht bloß kurzfristiges Versagen der klassischen Vorbilder und Autoritäten hin, wenn das Vertrauen im einst ausgeglichenen Kräftedreieck aus Politik, Justiz und Wahlvolk einem wachsenden gegenseitigen Misstrauen gewichen ist. Und das liegt nicht nur an Bürgerprotesten. Zwei Beispiele, die über jedes Klischee hinaus reichen, sollen zeigen, wie massiv einst allgemein anerkannte Vorbilder sich inzwischen gegenseitig die Autorität absprechen:
Am 22. September 2011 hielt Papst Benedikt XVI. eine Rede im Bundestag und warnte vor einer Politik ohne Moral. Das Kirchenoberhaupt, das noch nie als liberaler Denker und Reformer aufgefallen ist, las dabei einem politischen Establishment die Leviten, das großteils zu seiner Stammkundschaft gehört. Als Professor für Moraltheologie analysiert Joseph Ratzinger natürlich auch Defizite bei Angehörigen der politischen Kaste, die zur eigenen Klientel gehören. „Der Geist weht, wo er will“ (Joh 3,8): unkorrumpierbare Wahrheit aus dem Mund jenes Mannes, der als Chef der vatikanischen Glaubenskongregation (früher: Inquisition) dem katholischen Theologen Hans Küng wegen öffentlicher Zweifel an der Unfehlbarkeit des Papstes die Lehrerlaubnis in Tübingen entzog. Diesmal sprach er als Oberhaupt des Vatikanstaates. Diese politische Dimension haben diejenigen nicht verstanden, die den Auftritt als Verstoß gegen das Verfassungsgebot boykottierten, Kirche und Staat zu trennen. Menschenrechte, Menschenwürde und die Gleichheit aller Menschen seien Ideen, die in der Vorstellung wurzeln, dass es einen Schöpfergott gibt, sagte der Papst. Das Zusammenleben der Menschen benötige eine verbindliche Basis: die zehn Gebote etwa, aber auch Recht und Gesetz. Dass die nur Mittel zum Zweck der Gerechtigkeit sind, fand er wohl selbstverständlich.
So interpretierte ihn Heiner Geißler, früher Bundesfamilienminister und CDU-Generalskretär, seit 2007 prominentes Mitglied bei attac und als Schlichter bei S 21 schillernd in Erinnerung. Der Jurist und streitbare Katholik in der Tradition des Sozialphilosophen Oswald Nell-Breuning, der so simple Sätze aus dem Grundgesetz wie „Eigentum verpflichtet“ aus katholischer Sicht durchdekliniert hat, kommentierte die Papstrede am gleichen Tag im ZDF mit Blick auf Finanzkrise und EURO-Rettungsschirm: „Der Mensch wird im heutigen System zum Kostenfaktor oder zur Ware degradiert.“
Oder zum Sicherheitsrisiko, möchte ergänzen, wer sich erinnert: Die Bürger durften dem Papst bei der Fahrt vom Parlament zum Olympiastadion, wo er eine Messe hielt, nicht einmal zuwinken. Die Polizei verbot den Anwohnern der Route, ihre Fenster zu öffnen, und nannte „Sicherheitsgründe“ dafür. In der ganzen Innenstadt gab es aus Angst vor Anti-Papst-Demonstranten großflächig Absperrungen und Verkehrsbehinderungen. Wie schon bei Besuchen der US-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama in Mainz oder Baden-Baden wurden große Teile der Einwohnerschaft zu Geiseln eines Sicherheitsapparates, der sich paranoid über Bürgerrechte hinwegsetzt und selbst in die eigenen vier Wände hineinregiert. Ausgangssperren, Vorratsdatenspeicherung und dergleichen in Friedenszeiten: kein Problem?
Manche Staatsrechtler, die meinen, das Interesse des Gemeinwohls in diesem Sinn interpretieren zu müssen, seien daran erinnert: Wir haben in Deutschland schon mehrfach Diktaturen erlebt, die das ebenfalls taten. Mit denen hat ein demokratischer Rechtsstaat aber nichts zu tun. Wer sich da auf „herrschende Rechtsmeinungen“ beruft, vergisst, wie schnell sich die Lage ändern kann, und macht sich der Herrschsucht verdächtig: bestenfalls von gestern und schlimmstenfalls eine Aufgabe für den Verfassungsschutz.