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Eine Zeitbombe: Tendenzen zum Selbstschutz
ОглавлениеStaatswissenschaftler und Rechtshistoriker werden noch viel mehr über diese Dinge wissen. Entscheidend jedoch ist die Frage: Was will ich mit welchen Mitteln schützen? Was sollen welche gesetzlichen Mittel erreichen? Gesetze, auch die zum Natur- oder Denkmalschutz, dürfen niemals durch eine politische Güterabwägung zur Disposition der herrschenden Parteien oder Regierungen gestellt werden. Deren Umdeutung des Gemeinwohls muss Grenzen haben. Gleichheit vor dem Gesetz existiert nicht ohne Waffengleichheit bei weltanschaulichen oder politischen Meinungsverschiedenheiten und im Kampf um ein wirtschaftliches Auskommen. Es ist verheerend für die Akzeptanz des Rechtsstaates, wenn sich der Eindruck breit macht, dieses Gleichgewicht der Kräfte sei in Gefahr.
Hinzu kommt: Weltweit, aber eben auch in Deutschland, versuchen wirtschaftliche Eliten ihren Besitzstand zunehmend rücksichtslos wie in Zeiten des Frühkapitalismus durch Ausbeutung von Menschen, Ressourcen und Natur zu erhalten oder auch erst aufzubauen. Die Zahl der Menschen, die als Verlierer dieser Tendenz am Existenzminimum oder gar darunter leben müssen, ist in den meisten Ländern – auch Deutschland – dramatisch gestiegen. Die Zahl der Wohlhabenden dagegen nimmt ab, weil der Mittelstand mit der Bereitschaft zu teilen geschrumpft ist. Die logische Konsequenz dieser Entwicklung ist eine Zeitbombe, die bisher niemand auf dem Bildschirm hat: die Neigung zum Selbstschutz. Wer sich durch den Staat nicht mehr geschützt sieht, verliert auch die Lust, ihn zu respektieren oder gar ihm zu vertrauen. Wenn man also das Selbstverteidigungsrecht der Straße provozieren und den demokratischen Rechtsstaat destabilisieren will, muss man nur weitermachen mit dem begonnenen Abbau sozialer Rechte und ökonomischer Sicherheit für die große Mehrheit.
Die Mehrheit wird immer größer und unter diesen Umständen immer bedrohlicher für den Rest der Gesellschaft, der immer mehr den Kontakt mit der Mehrheit verliert und immer offener dazu neigt, gegen die Mehrheit zu regieren. Dass auch offene Gewalt und selbst Massaker am eigenen Volk wie in Syrien daran auf Dauer nichts ändern, führte die arabische Revolution eindrucksvoll vor, bis sie von Islamisten und Generälen gekapert wurde. Wir in Deutschland, in Europa, in den Ländern der „alten Welt“, der alten Kulturen und der alten Demokratien, müssen es besser wissen und besser machen. Wir haben den Blutzoll für die Aufklärung, die Säkularisierung und die Schocks von Sozialrevolution und Faschismus schon bezahlt. Wir müssen das alles nicht schon wieder haben. Es geht auch anders, aber eben nur mit Gerechtigkeit, Respekt und Rechtssicherheit für alle. Der Preis für jedes unverbesserliche „Weiter so“ wäre indiskutabel hoch. Mir graut bei der Vorstellung, was erst geschieht, wenn der Funke der Freiheit einmal flächendeckend auf Länder wie Russland und China überspringt. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine oder in Hongkong sind wohl erst der Anfang einer solchen Tragödie.
Der französische Präsident Sarkozy sagte in einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt mit Bundeskanzlerin Merkel, er beneide Deutschland um seine niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Dann verlor er die Wahl. Ich beneide Frankreich um seine politische Streitkultur, um Denker wie Stephane Hessel („Empört Euch!“). Und ich „beneide“ Ex-Präsident Sarkozy um seine Unkenntnis der „Generation Praktikum“ in Deutschland. Ganz Europa sollte sich Sorgen um eine komplette Generation junger Menschen machen, die trotz aller Bildungsanstrengungen keine planbare, halbwegs sichere Existenz und keine Perspektive haben. Thilo Sarrazins Thesen über die Bedrohung durch „bildungsferne Unterschichten“ könnten endgültig auf den Müll, wenn erst einmal das jugendliche Prekariat der gut Ausgebildeten seine Rechte einfordert. In Hongkong, Rio de Janeiro, Rom, Madrid und Athen hat dieser Prozess bereits begonnen.