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Misstrauen gegenüber dem Volk

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Obwohl es das Grundgesetz verlangt, wurde das Volk nicht zur Wiedervereinigung Deutschlands befragt, zur Einführung des Euro oder zur Aufnahme Griechenlands in die EU. Erst recht nicht durfte es über die EURO-Rettungsschirme abstimmen. Es gab in mehreren Ländern Volksabstimmungen über die neuen EU-Verträge – nicht in Deutschland. „Gute Gründe“ warnten unsere Politiker immer wieder. Sie misstrauen dem Volk und befürchten eine „Politik nach Stimmungen“, obwohl sie selbst in jedem Wahlkampf auf das Bauchgefühl der Wähler zielen. Sie fürchten sich zu Recht. Sonst hätte sich nämlich möglicherweise die Wiedervereinigung vertraglich etwas anders gestaltet. Vielleicht hätten sich die schweren sozialen Verwerfungen durch die ignoranz- und ideologiegesteuerte „Arbeit“ der Treuhandgesellschaft zum großen Teil vermeiden lassen, hätte man den Zusammenbruch der gesamten Ostblockwirtschaft verhindern können, die ja nicht auf Devisen, sondern auf einem sehr effizienten Tauschhandel beruhte. Vielleicht gäbe es heute „blühende Landschaften“, wo stattdessen auf Generationen hinaus Plattenbau-Ruinen, Depression und Verwahrlosung nur noch Kulissen für die Endzeitstimmung bestimmter Krimis und Science-Fiction-Filme abgeben.

Vielleicht hätte das befragte Volk der Einführung des Euro nicht zugestimmt, der anders als die dauerhaft starke D-Mark anfällig für politische Manipulationen ist. Vielleicht hätte man die Finanzwirtschaft wirklich an die Leine gelegt, nachdem sie die Finanzkrise verursacht hatte, statt im Wahn eines neuen Nationalismus die Griechen für alle Probleme haftbar zu machen und den Leuten vorzugaukeln, die Banken seien „systemrelevant“, also sei es lebensnotwendig, sie zu retten, indem man dem schlechten Geld ohne Limit gutes Geld hinterherwirft.

Man gewöhnt sich verdammt schnell an Kalauer wie „Die Demokratie ist das zweitbeste aller möglichen politischen Systeme, aber nach dem besten wird noch gesucht“. Das ist gefährlich. Die politische Klasse, d. h. Regierungen, Parteien, Beamte, auch Justiz und Exekutive (Polizei) nebst einer oft ziemlich selbstgefälligen „vierten Macht“, der etablierten, profitorientierten Massenpresse, hat sich in dieser wohlfeilen kabarettistischen Unvollkommenheit mit Pensionsanspruch bequem eingerichtet. Allzu bequem, fürchte ich. Denn mit jedem Gesetz, das Debatten umgeht und bewusste Entscheidungswege des kritischen Denkens und der Kontrolle von Seiten des Parlaments und der Öffentlichkeit durch einen bürokratischen Automatismus ersetzt, wachsen die Denkfaulheit und die Anfälligkeit für moralische Korrosionsprozesse. Das destabilisiert die repräsentative Demokratie wie Rost eine Stahlbrücke. Ein unbestrittenes Beispiel dafür ist die regelmäßige Erhöhung der Abgeordnetenbezüge im Selbstbedienungsverfahren – unabhängig von der Einkommensentwicklung beim Steuerzahler. Obwohl er der eigentliche Souverän ist, wird er in dieser Frage nicht nur nicht gefragt, sondern gezielt umgangen. Ähnlich steht es um die Parteienfinanzierung oder die Transparenz bei Nebentätigkeiten von Politikern oder gar deren wirksame Einschränkung. Schließlich soll Politik ihr Fulltime-Job sein, für den sie gewählt wurden.

Bevor die alte Tante Demokratie durchrostet, weil Stammtischparolen oder irgendwelche Rechtspopulisten als Ausweg in höchster Not auch bei uns wieder salonfähig werden, schlage ich vor, an einige Eckpfeiler unseres demokratischen Rechtsstaates zu erinnern. Es gibt Werte, die über allen aktuellen Diskussionen stehen und auch nicht von Mehrheitsentscheidungen abhängig sein dürfen, wenn unser Staat eine Demokratie und ein Rechtsstaat bleiben soll: Die Grundrechte, aber auch die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.

Wenn unser Grundgesetz vom „Rechtsstaat“ spricht, meint es auch das Ziel, Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben. Alles andere ist zynisch. Recht und Gesetz ohne Gerechtigkeit kann es nicht geben, weil sie sonst beliebig wären wie Moden oder flüchtige Konstellationen der Macht. Kaum weniger gefährlich für den Rechtsstaat als irgendwelche Neonazis oder religiösen Fanatiker sind beamtete Juristen auf Lebenszeit, die allen Ernstes davor warnen, mit der Justiz Gerechtigkeit auch nur anzustreben, weil „so ein schwammiger Begriff“ nur allzu leicht ideologisch infiziert bzw. besetzt werden könne. „Schwammig“ ist der Begriff Gerechtigkeit allerdings nur für Leute ohne jede moralisch-ethische Orientierung. Entweder gelten Gesetze für alle – oder der demokratische Rechtsstaat wird zum potempkinschen Dorf, zur leeren Kulisse, zur Täuschung.

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