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Reinhard Amper hatte sich durch eigene Schuld in die unangenehme, bedrohliche Situation gebracht. Darum wollten sie ihn unwiderruflich zu ihrem Bruder nach Kas an der kleinasiatischen Küste schicken. Dort sollte er für eine Weile untertauchen, bis sich alles beruhigt hätte.

Der starken Empfehlung der Brüder fügte er sich widerspruchslos, steckte die Flugtickets ein, ergriff den bereits von ihnen gepackten Koffer und stieg drei Stunden später in die wartende Maschine. Den Flug und die beide Passkontrollen überstand er problemlos.

Mohamed holte ihn vom Flughafen ab, gab ihm Geld und lieh ihm sein Motorrad.

„Komm erst mal zur Ruhe, und mach bei uns ein paar Tage Urlaub. Du musst versuchen abzuschalten. Hier wirst du wohnen, wenn du wieder zurück bist“, sagte Mohamed Cis und zeigte Reinhard Amper das Zimmer in seinem Haus am Stadtrand von Kas. Es lag im zweiten Stock, die weißen Gardinen wehten sanft in der Luft vor dem weit geöffneten Fenster, das einen atemberaubenden Blick aufs Meer hatte, den Amper in seinem jetzigen Zustand nicht beachtete, nur abwesend nickte.

„Komm zurück, wenn dir danach ist. Meine Telefonnummer hast du ja. Hier ist die Adresse von unserem Bruder in Antalya, er weiß, dass du heute kommst. Also, bis bald.“ Mohamed entließ Reinhard auf die Straße, die flog so dahin, als er auf dem schweren Motorrad kräftig Gas gab und keinen Blick für die lykischen Gräber auf den Bergen entlang der Küstenstraße übrig hatte.

Er wollte nur die Kilometer bis zum Ziel abfahren, den Wind im Gesicht, die Kraft der schweren Maschine zwischen den Beinen, die noch immer kräftigen Strahlen der Nachmittagssonne auf seinem Körper spüren.

Zu oft in den letzten Wochen hatten sich zwischen die Erinnerungen seltsame Visionen gemischt, die er nicht zu deuten wusste, und deren Wucht ihn weder am Tag noch in der Nacht zur Ruhe kommen ließ.

Später versuchte er zu meditieren, wenn aber die Bilder vor seinem geistigen Auge erschienen, ergriff ihn jedes Mal eine vorher nie gekannte Furcht, sofort brach er die Meditation ab und brauchte eine ewig lange Zeit, sich wieder in der Realität zurechtzufinden. Trotzdem ließ er nicht davon ab, das Ergebnis war immer dasselbe.

Alles fing damit an, dass Reinhard Amper plötzlich von heute auf morgen sah, wie viel Lebenszeit einem Menschen noch verbleiben würde, und er versuchte, diese Visionen sofort abzuschütteln. Ich spinne, das sind die überreizten Nerven, wollte er sich stets beruhigen, doch es wurde immer schlimmer. Amper begann nach einiger Zeit zu hören, was die anderen dachten und sah, als er lernte, sich zu konzentrieren, was sie gleich tun würden. Dachte er an einen Freund, geschah es, dass der ihn nach kurzer Zeit anrief. Er schob alles auf den Zufall, bald bemerkte er, sein ganzes Leben drohte sich zu verändern, mit den neuen, ungewohnten Eindrücken wusste er nicht umzugehen.

Hinter der langgezogenen Kurve bog Amper, er wusste nicht warum, aber irgendetwas Seltsames zog ihn, auf den unbefestigten, Pinien gesäumten Feldweg und hielt erst vor der geschlossenen Schranke. Er bezahlte mit Mohameds Geld den geforderten Eintritt, fuhr langsam durch das schattige Wäldchen bis zum Parkplatz, vor dem der gut erhaltene, römische Viadukt majestätisch aufragte.

Zum ersten Mal erblickte er den ehemaligen Kriegshafen der alten ionischen Stadt Phäselis, eine der ersten griechischen Kolonien Kleinasiens.

Heute war Amper der einzige Tourist und hatte die herrlichen Ruinen ganz für sich allein. Verwundert blickte er sich um, schritt auf der marmorgepflasterten, römischen Marktstraße zur anderen Seite der Ruinenstadt und konnte sich der Harmonie zwischen der Natur und der Jahrhunderte alten Architektur nicht entziehen. Ist das ein Traum? Der Name Phäselis klingt danach. Er setzte sich auf den großen, warmen Stein an der Kaimauer des ehemaligen Handelshafens der Stadt. Sein Blick wanderte über die sanften Wellen der Bucht, eine seltsame Ruhe kam über ihn, dann geschah es. Die Bilder waren in seinem Kopf, diesmal wehrte er sich nicht, sie wurden real, dass er sie nicht mehr von der Wirklichkeit trennen konnte: Wolfi ist an der Arbeit. Sah er. Alles läuft den gewohnten Gang. Jetzt fährt Wolfi zu seinem Hotel und zählt im Zimmer die Tageseinnahmen. Plötzlich kracht es an der Tür, der Raum wimmelt vor schwarz gekleideten, bewaffneten Männern. Sie schleudern ihn auf den Boden.

Amper schreckte hoch, nahm sofort die durch das jahrelange intensive Üben in Fleisch und Blut übergegangene Kampfstellung ein. Ich muss dem Freund helfen, schoss es durch seinen Kopf. Er öffnete die Augen, die sanften Wellen des Meeres schlugen, als wäre nichts geschehen, unablässig ans Ufer. „Hier kann ich dir nicht helfen, Bruder“, murmelte er verzweifelt und war in der Wirklichkeit. „Jetzt haben sie dich. Da bin ich noch einmal glimpflich davongekommen. Hoffentlich kannst du lange genug dichthalten, Wolfi, sonst komme ich in Teufels Küche.“

Er ging den Weg zurück über die alte Marktstraße zum Parkplatz, hatte keinen Blick mehr für die Schönheit des Ortes. Schnell stieg Amper auf das Motorrad, hielt erst wieder vor der Schranke. Dort wählte er mit dem Telefon im Kassenhäuschen die Nummer, die sich seit Monaten fest in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Es dauerte eine Weile, bis der Ruf nach Deutschland durchging. Nach dem zweiten Freizeichen legte er auf, wiederholte die Prozedur drei Mal. Danach wartete er, bis abgenommen wurde. „Er soll mich zurückrufen. Die Nummer hat er“, sagte er in den Hörer und beendete den Anruf.

Nach fünf Minuten klingelte das Telefon, der Wärter hob ab, reichte es ihm wortlos. „So früh habe ich mit deinem Anruf nicht gerechnet. Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte die vertraute Stimme.

„Ja, bei mir schon, aber ich habe ein komisches Gefühl. Habt ihr irgendetwas von Wolfi gehört?“

„Warte einen Moment, ich werde die Brüder fragen. Nein, niemand hat ihn in den letzten Tagen gesehen. Ich kann dir jetzt noch nichts sagen, werde mich aber nach ihm erkundigen und rufe dich morgen am frühen Abend unter der anderen Nummer an. Verhalte dich ruhig, wie besprochen. Wir brauchen jetzt nicht noch mehr Ärger. Also, bis dann.“

Die plötzliche Stille und die Angst ließen Amper einsam zurück.

Morgen weiß ich mehr. Reinhard Amper stieg vor dem Kassenhaus auf das Motorrad und fuhr auf dem Feldweg bis zur großen Straße. Die Situation hatte sich auf einmal geändert. Die seltsame Angst war verschwunden.

In der nächsten Ortschaft rief er aus der kleinen Bar an der Straße die Nummer in Antalya an. „Ich bin es, bist du Iskander? Ich bin in ungefähr drei Stunden in der Stadt. Treffen wir uns im Fischrestaurant am Hafen, du weißt schon, da wo wir mit den anderen Brüdern im letzten Jahr waren. Noch bin ich in der Nähe von Phäselis, mache mich aber gleich auf den Weg. Also, dann bis später.“

Er fuhr behutsam an, beschleunigte, erreichte in kurzer Zeit die Höchstgeschwindigkeit, war pünktlich an der Stadtgrenze und fädelte sich problemlos in den dichten Verkehr.

Das Schild sah er zu spät, gab trotzdem an der Ampel Gas. Dann knallte es. Amper flog nach dem Aufprall durch die Luft, traf den schweren, schwarzen Wagen und blieb regungslos auf der Straße liegen. Seine Sinne trübten sich.

Jemand redet türkisch auf mich ein, dachte er beim Aufwachen. „Ich kann kein Türkisch“, stammelte er englisch. „Was ist passiert?“

„Sind Sie Deutscher?“ Der Zivilpolizist beugte sich zu ihm herunter. „Sind Sie verletzt?“, fragte er auf Deutsch.

„Ich glaube, mit mir ist alles in Ordnung.“ Amper stand auf, die Knie zitterten. Er nahm verwirrt den Helm ab.

„Sie haben die rote Ampel überfahren und sind in das Auto des Innenministers geprallt. Der Wagen ist gepanzert, der Minister und die anderen Insassen sind unverletzt, trotzdem muss die Ortspolizei den Unfall aufnehmen. Jetzt hätte ich gern Ihre Papiere, Ausweis, Führerschein und die Zulassung. Sie haben sie doch dabei?“

„Selbstverständlich, das Motorrad hat mir ein Freund aus Kas geborgt. Er wird über den Schaden nicht sehr erfreut sein.“ Amper reichte dem Zivilpolizisten die geforderten Papiere, sackte augenblicklich in sich zusammen, landete auf dem Rücken und blieb regungslos auf der abgesperrten Straße liegen.

Nach einigen langen Minuten kam er zu sich und sah vier Gendarmen. Sie richteten die Maschinenpistolen auf ihn.

Der Zivilpolizist half ihm auf. „Herr Amper, gegen Sie liegt ein internationaler Haftbefehl vor. Sie sind verhaftet. Strecken Sie die Hände vor!“, befahl er, die Handschellen klickten.

„Außer einem Schleudertrauma und einigen Hautabschürfungen fehlt Ihnen nichts. Sie sind voll haftfähig.“ Der Arzt des Stadthospitals Antalya verließ eilig den Behandlungsraum, wieder klickten die Handschellen.

Sie brachten ihn in das heruntergekommene, verwahrloste Gefängnis am Stadtrand.

„Es ist nicht zu glauben, zehn Mann in der kleinen Zelle, bei dieser Hitze. Das kann ja heiter werden.“

Reinhard Amper streckte sich. Der große, durchtrainierte Türke hielt seinem Blick selbstbewusst stand.

Nur keine Furcht zeigen, seinem Blick auf keinen Fall ausweichen. Vielleicht ist er ein Bruder, Amper machte das Zeichen. „Sprichst du Englisch?“, fragte er erleichtert den Türken.

„Nein, aber Deutsch. Wie heißt du, woher kommst du, Bruder?“ Ein Blick von ihm reichte aus, um die anderen vom Tisch zu vertreiben. „Setz dich, Reinhard. Ich heiße Djamal, wie kann ich dir behilflich sein? Wir sind hier eigentlich ganz gut organisiert. Brauchst du Kontakt nach draußen? Ein Schließer arbeitet für uns. Er stellt jeden Kassiber zu, an wen auch immer.“

„Kennst du meinen Bruder Iskander Yildiz aus Antalya?“, fragte Amper. „Er ist der Chef hier.“

„Aber natürlich“, lachte Djamal. „Das wäre ja noch schöner, wenn ich ihn nicht kennen würde. Schreib jetzt deine Nachricht. Ich werde sie noch heute befördern lassen.“

Sehen will gelernt sein

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