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„Susanne, wir sollten unsere Ermittlungen mehr auf die Aktenkoffer lenken“, triumphierte Kriminalhauptkommissar Horst Kruse. „Der Knackpunkt bei den Koffern ist, dass die Täter nicht immer denselben verwenden, aber immer dieselbe Marke. Damit könnten wir sie kriegen. Wir nehmen uns jetzt noch mal alle verdächtigen Überwachungsvideos vor. Wenn wir auf vermehrte Übereinstimmung bei der Koffermarke treffen, überprüfen wir die Personen auf Gemeinsamkeiten. Die Kollegen sollen so viele Videos, wie möglich, auf diesen Gesichtspunkt hin bearbeiten. Vielleicht bringt uns das endlich einen Schritt weiter. Noch eine Merkwürdigkeit ist mir aufgefallen, das kann etwas heißen, muss aber nicht. Die Täter begehen in allen Bundesländern Straftaten, nur nicht in Hamburg und Umgebung. Das kann durchaus bedeuten, dass sie ihren festen Wohnsitz dort haben. Auch darauf sollten wir unser Augenmerk lenken. Ich habe mich schon mit den Kollegen in Hamburg kurzgeschlossen. Sobald wir ein brauchbares Täterfoto haben, wollen sie die Fahndung einleiten. Vielleicht haben wir endlich Glück. Susanne, gibst du das bitte an die Kollegen der SoKo weiter? Lehmann löchert mich die ganze Zeit. Er will endlich Ergebnisse sehen.“

„Ja, Horst, ich veranlasse das gleich. Wenn du recht hast, haben wir endlich etwas Konkretes für die Fahndung.“ Die Kommissarin legte zögerlich die Hand auf Kruses Arm. „Ich würde dir einen baldigen Erfolg von Herzen gönnen.“ Eine peinliche Pause stellte sich ein. „Heute mache ich, wenn nichts dazwischen kommt, pünktlich um sechs Feierabend. Ich habe inzwischen so viele Überstunden, dass ich sie in diesem Jahr überhaupt nicht mehr abfeiern kann. Wie sieht es mit dir aus, Horst?“, fragte Susanne Richter und rückte noch näher an ihn heran. „Der Buschfunk hat gemeldet, dass du für eine Woche Strohwitwer bist, weil Ursula mit ihren Tennisdamen beim Stagelwirt im Trainingslager ist. Warum hast du mir davon nichts gesagt. War das Absicht, mein Lieber?“, ließ sie Kruse ihren Zorn deutlich spüren. „Wenn Schluss ist zwischen uns, kannst du mir das ruhig sagen. Ich werde dir keine Szene machen, aber dass du mit mir redest, darf ich, nach so langer Zeit, von dir erwarten.“

„Red keinen Unsinn, Susanne. Du siehst selbst, was hier los ist. Ich bin die letzten Tage überhaupt nicht aus dem Revier weggekommen und habe meistens hier im Büro auf dem Feldbett geschlafen. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht, und du kommst mir so. Nur kurz zum Umziehen habe ich es nach Hause geschafft. Ich hätte mir schon Zeit für dich genommen, wenn Gelegenheit dazu gewesen wäre.“ Kruse war verärgert. „Falls wir heute zu einem Ergebnis, sei es auch noch so klein, kommen sollten, sehen wir uns am Abend, das verspreche ich dir. Also, an die Arbeit. Je eher wir fertig sind, desto früher können wir gehen“, lächelte Kruse und beugte sich über die Akten. Er legte vier Fotos nebeneinander und versuchte mit einer starken Lupe Ähnlichkeiten auf ihnen zu entdecken. Lange starrte er die Bilder an, bis er sich sicher war, dass die Person vor den verschiedenen Geldautomaten ein und dieselbe war, aber je länger er auf die unscharfen Fotos blickte, schwand seine Sicherheit, zu unterschiedlich war die Kleidung, mal trug die Person einen einfachen Arbeitskittel, mal einen gut geschnittenen Geschäftsanzug, mal geschmackvolle, teure Freizeithemden und mal einen billigen Trainingsanzug. Auch die Gesichts-und Körperformen hatten plötzlich nichts Gemeinsames mehr, mal war die Person füllig mit einem runden, aufgedunsenen Gesicht, mal hager mit eingefallenen Wangen und spitzem Kinn. Wenn die Person auf den Fotos immer dieselbe war, musste sie ein Chamäleon sein. Durch den langen Vergleich schien ihm, auch die Körpergröße nicht mehr übereinzustimmen, nur die Marke der verwendeten Aktenkoffer war immer gleich. Irgendwo musste es da ein Zusammenhang geben, nur wo? Irgendetwas stimmte nicht, aber was?

Sollte ich mich irren, laufen wir einem Hirngespinst hinterher. Vielleicht finden die Arbeitsgruppen und Susanne mehr heraus, hoffte Kruse und nahm sich die Berichte aus den anderen Bundesländern vor.

Alle LKAs arbeiteten jetzt an diesem Fall zusammen, die Berichte zu den Straftaten nach dem gesuchten Muster wurden immer mehr, ein Täterprofil ließ sich trotzdem nicht erstellen. Es war zum Verzweifeln.

Wie viele Täter waren da am Werk? Waren es Einzeltäter oder handelte es sich um organisierte Kriminalität? Die hohen Geldsummen, die ergaunert wurden, sprachen dafür. Kruse fand bei seinem systematischen Grübeln kein Ende.

„Hätten wir doch nur einige übereinstimmende Überwachungsfotos“, stöhnte er. „Dann könnten wir endlich die Fahndung bundesweit einleiten. Das Material wird immer umfangreicher, irgendwann müssen wir doch etwas finden. Wir wissen immer noch nicht, wie die Täter an die Scheckkarten der Opfer kommen. Immerhin wissen wir, wie sie an die Geheimnummern gelangen. Wir überwachen die Telefonzellen in der Nähe der Banken. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, tappten sie uns nicht bald in die Falle.“

„Das hoffe ich für dich!“ Susanne Richter war noch nicht gegangen, sie hatte seinem Selbstgespräch zugehört. „Die Ermittlungen dauern schon viel zu lange.“

Kruse hatte abwesend vier Phantomzeichnungen auf dem Schreibtisch ausgebreitet. „Susanne, was ich dir jetzt sage, muss vorerst unter uns bleiben. Ich habe auf Grund meines Verdachtes mit den Taschen ein Bild von einem befreundeten Zeichner machen lassen. Er hat aus fünf Überwachungsfotos, auf denen ein Aktenkoffer von immer der gleichen Marke zu sehen war, ein Phantombild gezeichnet. Obwohl die Personen sich weder von der Statur noch vom Ausdruck her ähnelten, hat er versucht, aus den sehr geringen Gemeinsamkeiten ein einziges Gesicht herauszuarbeiten. Hier siehst du die drei Vorstufen.“ Er gab der Kommissarin die Zeichnungen. „Das ist das endgültige Ergebnis. Ich glaube jetzt erst recht, dass der Mann mit den Aktenkoffern ein und derselbe ist. Was sagst du, Susanne, liege ich richtig mit der Vermutung? Nun, sag schon, geben die Bilder etwas her?“ Ungeduldig wartete der Hauptkommissar und stellvertretene Leiter der SoKo „Dreist„ auf ihre Antwort.

„Ja, Horst.“ Die Kommissarin betrachtete konzentriert die Zeichnungen. „Du hast wahrscheinlich recht. Jetzt kann ich Ähnlichkeiten erkennen. Man muss nur drauf gebracht werden. Dein Verdacht könnte stimmen. Den anderen willst du sicher noch nichts sagen, vermute ich mal.“

„Nein, vorerst nicht. Ich möchte mir erst sicherer sein, dass das wirklich unser Mann ist oder wenigstens einer aus der Gruppe. Ich brauche noch mehr Kofferfotos zum Vergleich.

Kannst du sie mir unauffällig besorgen? Ich möchte sie ungern selbst anfordern. Das verstehst du doch, Susanne? Ich will mich mit meiner Vermutung weder beim Polizeirat noch bei den Mitarbeitern blamieren.“

„Ja, Horst, ich verstehe das. Wir tappen mit unseren Ermittlungen seit Monaten im Dunklen, da willst du mit deiner Hypothese keine übertriebenen Erwartungen wecken. Ich mache mich gleich an die Arbeit und suche dir die Kofferbilder raus. Mach mir bitte eine Kopie vom Phantombild. Ich werde es zuerst allein mit den Überwachungsabzügen vergleichen, dann nehmen wir uns gemeinsam noch einmal alle Quellen vor. Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht endlich einen Ermittlungsansatz finden würden. Du kannst dich auf mich verlassen. So wie immer, mein Lieber.“ Traurig und stumm verließ sie Kruses Büro, hatte sie nach seiner offenen Annäherung auf eine andere Reaktion gehofft, wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, wurde sie enttäuscht.

Wenn es mir gelingt, Horsts Hypothese zu stützen, wäre die halbe Miete im Sack, dachte sie aufgeregt, ließ sich aber nichts anmerken, als sie Kommissar Reuter von der hessischen Arbeitsgruppe um seine Überwachungsabzüge bat. „Ich nehme diese vier kurz mit, mache davon Kopien und bringe Ihnen die Originale gleich wieder zurück.“

Sie legte die sechs ohne Aktenkoffer auf Reuters Schreibtisch, eilte ungeduldig zum Sekretariat der Abteilung am anderen Ende des Flures.

„Frau Wolf“, bat sie die Sekretärin. „Könnten Sie mir bitte von diesen vier Fotos Kopien machen. Ich sage es ungern, es eilt sehr. Der Chef wartet ungeduldig auf sie. Wie wir ihn alle kennen, gehört Warten nicht zu seinen Kardinaltugenden.“

Widerstrebend und missmutig verließ Frau Wolf ihren Arbeitsplatz hinter der Schreibmaschine. „Es eilt ja immer, Frau Richter. Warten Sie einen Moment, dann können Sie die Kopien gleich mitnehmen.“

„Danke, Frau Wolf, Sie haben etwas gut bei mir.“

Die Kommissarin eilte mit den vier Kopien aus dem Sekretariat und brachte, bevor sie ihr Büro betrat, Reuters Originale zu ihm zurück.

In die Mitte des Schreibtisches legte sie Kruses Phantomzeichnung, Reuters Kopien gruppierte sie im Kreis. Versonnen goss sie sich im Stehen Kaffee in die Tasse. In kleinen Schlucken trank sie ihn, starrte dabei auf die ausgebreiteten Abzüge und die Zeichnung.

Lange Minuten vergingen, bis sie sich besann, eine starke Lupe aus der Schublade zog und Schritt für Schritt die Körper und Gesichter miteinander verglich.

Sehen will gelernt sein

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