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Moritz Kahl hatte für heute den Antiquitätenladen abgeschlossen. Er ging zielstrebig ins Hinterzimmer, setzte sich an den Schreibtisch und begann die Papiere, die er gestern zu hohen Stapeln aufgeschichtet hatte, eilig durchzusehen. Er suchte nach Fragmenten und Entwürfen des „Puppen-Menschenspiels“.

Entgegen seines laut verkündeten Vorsatzes, das Schreiben zu lassen, wollte er das Stück jetzt doch zu Ende bringen.

Es war nicht so, dass er in dieser Zeit überhaupt nichts geschrieben hätte, ganz konnte er es nicht lassen, einige Ideen und Gedichte hatte er notiert, für später, doch die neue Arbeit am Stück, wusste er, wäre nur mit einer konzentrierten Herangehensweise zu schaffen, die sich dann in Struktur, Form und Dialogsprache niederschlagen würde.

Der erste Entwurf war nach einer Stunde fertig, die oft vermisste Freude wieder in ihm, als er sich erhob und auf den Weg zum „Schmendrik“ machte.

„Ich bin von Beruf Einbrecher, was anderes hab ich nicht gelernt. Meistens ließen sie mich in Ruhe, dass ich aber damals, kurz nach dem Kaufhofbrand, dem Baader seine erste Pistole besorgte, haben sie mir nie verziehen.“ Manfred Milzberger trank im überfüllten „Schmendrik„ hastig sein Bier aus. „Für mich wird es Zeit. Die in Preungesheim fackeln nicht lange, und gerade jetzt will ich mir meinen Freigang nicht versauen. Es war schön, dich getroffen zu haben, Moritz. So spät schon? Mit der Straßenbahn ist es nicht mehr pünktlich zu schaffen. Scheiße, verfluchte! Und Ines hat sich so auf das erste gemeinsame Wochenende gefreut.“ Er raffte am Tresen seine Sachen zusammen und rannte zur Tür.

„Manfred!“ Kahl war sich sicher, dass die zwei Bier nicht für 0,8 Promille ausreichten. „Manfred!“, rief er. „So warte doch. Ich fahre dich. Mein Auto steht direkt vor der Kneipe. Wie durch ein Wunder war in der Fichardstraße ein Parkplatz frei. Ich sage es nicht gern, ich bringe dich mit dem Wagen in den Knast zurück. Du bist pünktlich, dein Liebeswochenende ist gerettet, und ich erfülle meine tägliche gute Tat. Lass mal stecken, ich zahle für dich. Gerlinde, was macht das?“ Kahl gab ihr die Deckel. „Ach was, ich komme gleich wieder, leg sie hinter den Tresen. Wir müssen uns beeilen, Milzberger will in den Knast. Ich zahle nachher alles zusammen. Bis gleich. Na, komm jetzt, Manfred!“

Milzberger und Moritz Kahl eilten auf die Straße. Das erste Stück des Weges fuhren sie stumm, als sie die Friedberger Landstraße erreichten, brach Kahl das Schweigen. „Weißt du was, Manfred, am Samstag und Sonntag bin ich auf der Antiquitätenmesse in Mannheim. Wenn du willst, gebe ich dir und Ines das Hinterzimmer im Laden. Ihr habt ja sonst kein Fleckchen für euch. Nicht mal du schaffst es, auch nur eine Nacht im Lehrschwesternheim ungesehen zu überstehen. Komm am Freitag vor sieben in den Laden, dann gebe ich dir den Zweitschlüssel. Meine Ware wirst du hoffentlich, trotz deines erlernten Berufs als Einbrecher, in Ruhe lassen.“

„Ein Wunder ist geschehen, keine verstopften Straßen in Frankfurt. Wir haben es zehn Minuten vor der Zeit geschafft.“ Er parkte direkt vor der Schleuse. „Wir sehen uns am Freitag. Bis dann, Manfred“, verabschiedete sich Kahl von seinem Freund.

Das Tor der Schleuse öffnete sich wie von Geisterhand, und bevor es sich wieder schloss, blieb Milzberger die Zeit, um Kahl noch einmal zu winken, dann hatte ihn der Knast geräuschlos verschluckt.

Soll ich zurück in den „Schmendrik„ fahren? fragte sich Moritz Kahl. Das Gefängnistor hat mich mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen will. Das ist der zweite Berufsverbrecher, den ich zum Freund nahm, gestand er sich widerwillig ein.

Der andere, Robin Fischlauf, war sein Arbeitskollege in der Kommunalen-Wohnungs-Verwaltung-Pankow gewesen. Seine Kindheit fand sorgfältig behütet in einer sozialistisch kleinbürgerlichen Familie statt, doch schon bald führte ihn der Weg fort vom Pfad der Tugend.

Drei Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag wurde er erwischt, als er gemeinsam mit zwei Freunden in ein Objekt der Gesellschaft für Sport und Technik, kurz GST, deren eigentlicher Zweck darin bestand, die Jugend des Landes vormilitärisch zu erziehen, versuchte einzubrechen und volkseigene Luftgewehre widerrechtlich in sein privates Eigentum zu überführen.

Für die Straftat wanderte er für mehrere Jahre in den Jugendwerkhof, in dem die Erzieher das Wesen der Jugendlichen sofort brachen und sich danach intensiv mühten, aus den nun geborstenen Seelen allseits gebildete, sozialistische Persönlichkeiten zu formen.

Sie wunderten sich, dass es ihnen auch mit starkem Druck nicht gelang. Vielmehr entwickelte sich in dem verdeckten Jugendstrafvollzug eine eigene, nicht kontrollierbare Dynamik, die es, getreu der darwinschen Lehre, nur dem Stärksten und Skrupellosesten erlaubte, sich durchzusetzen. Die niedrigsten Instinkte blühten in der menschenfeindlichen Umgebung auf, und die körperliche Gewalt wurde zur Normalität.

Hier erhielt Robin Fischlauf die wichtigste Prägung, doch seine angeborene Intelligenz erlaubte ihm, von den meisten unbemerkt, alle anderen zu beherrschen. Das und die Bereitschaft Gewalt, wenn sie seinen Zielen diente, skrupellos anzuwenden, ließen das zarte Pflänzchen Solidarität und Menschlichkeit schnell verkümmern.

Als Kahl und Fischlauf Freunde wurden, hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, Fischlauf könne ein Doppelleben führen, vielmehr hatte Kahl den Eindruck, er wäre auf dem besten Wege, sich zu ändern.

Er war gewiss kein Waisenknabe, doch was er Fischlauf im Land vorlebte, schien ihm zu imponieren, und mit der Zeit drang das verschüttet Geglaubte doch nach oben.

Den vielen Lesestoff, den Kahl im Laufe ihrer Freundschaft ihm verabreichte, eignete er sich, nicht nur aus Höflichkeit oder um ihm einen Gefallen zu tun, in hoher Geschwindigkeit an, nein, die Bücher, als hätte er sie lange vermisst und nun gefunden, bereiteten Fischlauf immer größeres Vergnügen, und das Verlangen nach mehr wurde unstillbar.

Was hatte er damals alles nachzuholen, trotzdem blieb Zeit für das Neue. Die Literatur des anderen deutschen Landes, Böll, Grass, Lenz, Wellershoff und viele andere, las er aufmerksam und mit wachsendem Interesse, auch die seines eigenen Landes, Wolf, Fühmann, Wiens, Braun, Mickel, Plenzdorf, Biermann und Brasch, ließ er nicht aus. Sogar Kahls Lyrik und Prosa verschlang er, als hätte er nie etwas anderes getan.

Plötzlich stand sie wieder vor ihm, die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. Der Einzug Milzbergers in das Gefängnis, die geräuschlose Schleuse, die ihn spurlos verschluckte, riefen in Kahl die alten Erinnerungen wach, die drohten, ihn zu verschlingen. Der Irrsinn zwischen seiner Entlassung aus dem Gefängnis und der Ausreise aus dem Land beherrschte die Gedanken. Schnell fuhr Kahl auf der Eckenheimer Landstraße in Richtung Innenstadt. In diesen Zustand rutsche ich nicht noch einmal ab! befahl er sich energisch. Nie wieder sollen sie Macht über mich haben, nie mehr sich der eisigen Ohnmacht erwehren müssen. Jetzt ich bin in diesem Land, und alles wird gut. Ach was! schüttelte er die bösen Gedanken ab. Vielleicht ist mein Freund Beiser inzwischen in der Kneipe, und wir können eine Partie Schach spielen.

Nichts war von ihm zu sehen, als sich Moritz Kahl zu einigen Bekannten an den Tisch setzte.

Niemand versuchte in seinem Zustand, mit ihm ein Gespräch zu beginnen, und so konnte er sich ungestört finsteren Grübeleien hingeben. Robin Fischlauf ist schließlich doch zum Spitzel geworden, obwohl er sich anfangs heftig wehrte. Immer war er mit einem blauen Auge davongekommen, aber diesmal sollte es anders werden.

Er gab nach langem Bedenken sein Einverständnis, war es erst einmal gegeben, gab es kein Zurück mehr. Als es so weit war, zwickte ihn hin und wieder das Gewissen, aber jetzt war sein Trachten nur darauf gerichtet zu verhindern, dass je ein Außenstehender vom schäbigen Verrat erfuhr.

Die Voraussetzungen waren günstig, lag doch die Vermutung nahe, dass seine Berichte für alle Zeiten im Schoß des Ministeriums sicher verwahrt blieben und sein Doppelleben sich einrichten lassen, dass die eine Welt nicht mit der anderen kollidierte. So abgesichert, gelang es Robin Fischlauf, trotz gelegentlicher Selbstvorwürfe, trefflich zu leben, sich sogar als das wahre Opfer zu fühlen, hatte er doch die Tätigkeit des Spitzels nicht freiwillig angenommen, sondern wurde durch mancherlei Art gezwungen, und die Furcht vor den möglichen Konsequenzen, lehnte er ihr Angebot ab, gab ihm das Recht, sein Gewissen ruhig zu halten. Außerdem, beschwichtigte er sich, würden seine Berichte weder Kahl, dem Freund, noch jemand anderem wirklich schaden, denn nur was sie sowieso schon wussten, wollte er preisgeben.

Moritz Kahl schreckte hoch. „Eigentlich habe ich mit dir nicht mehr gerechnet.“ Gerlinde stellte ihm das Bier auf den Tisch. „Deine Augen sind wieder einmal hellgrün. Wenn sie diese Farbe annehmen, wirst du unberechenbar.“ Sie streichelte zärtlich seine Hand. „Umso schöner ist es, dass du jetzt bei mir bist und wiederrum auch nicht. Ohne all die anderen hier, wäre es mir lieber“, seufzte sie und nahm die nächste Bestellung auf.

Sehen will gelernt sein

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