Читать книгу Das armenische Tor - Wilfried Eggers - Страница 10
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Оглавление»Man hat mich vergewaltigt«, sagte die Frau.
»Wer – man?«, fragte Schlüter.
Statt einer Antwort griff die Frau nach ihrer Tasche und zog ein Bündel Blätter hervor. Sie hatte eine starke Nase und große braune Augen.
»Die.« Sie legte die Papiere auf den Schreibtisch.
Schlüter wagte es nicht, die Unterlagen zur Seite zu schieben und weitere Fragen zu stellen. Die Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs saß mit gesenktem Kopf, die schwarzen Haare vor den Augen, biss sich auf die Lippen und schwieg. Ein falsches Wort und sie würde das Vertrauen verlieren. Seit Matthias der Gerechte in seine Kanzlei eingezogen war, hatte er, der Senior, gewisse Freiheiten und eine davon war, Mandantengespräche zu führen, so lange er wollte, und in diesem speziellen Fall die, zu schweigen und zu lesen. Es half nichts. Was sollte das für eine Woche werden? Gestern hatte er einen Toten besichtigt und heute musste er sich eine Vergewaltigung anhören. Anahid Bedrosian hatte im Terminkalender gestanden.
Schlüter fächerte die Papiere auseinander. Es handelte sich um Text auf weißem Grund und die Kopie eines Zeitungsartikels, Hemmstedter Tageblatt. Er nahm sich die Blätter mit dem Text und las:
Talaat
Wenn ich eine gegenteilige Sichtweise der Berichte christlicher Quellen äußern darf, dann ist der sogenannte Genozid, der den Türken zur Last gelegt wird, eine internationale Lüge. Meine Intention war es, Menschen zu erreichen, die frei, unabhängig, analytisch und kreativ denken, die die Wahrheit kennen, nur auf Tatsachen vertrauen und sich auf die guten Werte unserer ruhmreichen Vergangenheit besinnen. Der Völkermordvorwurf, der durch zahllose Publikationen geistert, ist eine Farce, eine Maskerade, die für die internationale Gemeinschaft aufgeführt wird. Sie verspotten die Menschen und lügen die ganze Welt an. Unsere Nation kann nicht länger diejenigen dulden, die die großzügigen, in unserer Verfassung verankerten Freiheiten missbrauchen, diejenigen, die das demokratische System durch irgendeine Art von Faschismus, Anarchie, Zerstörung und sogar Separatismus ersetzen wollen. Diese Scharade dauert jetzt lange genug an. Was die Armenier angeht, so sind fast alle an Krankheiten gestorben. Allah hat damit die Besitzverhältnisse unmissverständlich geklärt. Wer wen auf welche Art wegmacht, wer wen vertreibt und wer sich in der Ausführung eines Genozids befindet, zeigen die Vorkommnisse von Berg-Karabach ganz offen und ganz klar.
»So etwas wie ein Genozid liegt unserer Gesellschaft fern. Wir werden einen solchen Vorwurf niemals akzeptieren.« (Recep Tayyip Erdoğan)
Anape
Wer mit ruhmreicher Vergangenheit anfängt, hat meist eine Scheißgegenwart und eine noch beschissenere Zukunft. Und Scharade bedeutet übrigens Schattenspiel, was soll das?
Talaat
Es macht mich traurig, dass du mich so beschimpfst. Ich versuche, objektiv zu sein. Die Briten haben auch versucht, Beweise für die angeblichen Kriegsverbrechen zu sammeln, damit ein Gerichtsverfahren eröffnet werden konnte. Zu jener Zeit waren die osmanische Hauptstadt Istanbul und andere wichtige Städte von den Entente-Mächten besetzt. Alle Archive des Osmanischen Reichs konnten von den Briten eingesehen werden. Trotzdem haben sie es nicht geschafft, Belastungsmaterial vorzulegen. Schließlich waren die Briten gezwungen, am 31. Oktober 1921 auch die letzten auf Malta festgehaltenen Türken freizulassen. (Ali Söylemezoğlu, türkischer Schriftsteller)
Anape
Ist das etwa eine verlässliche Quelle? Ich will mit Genozidleugnern nichts zu tun haben. Der Völkermord an den Armeniern ist eine Tatsache, die sich nicht leugnen lässt. Die Historiker sind sich einig, nur die Türken behaupten, die Armenier hätten selbst zu den Waffen gegriffen, es habe sich um eine Umsiedlungsaktion gehandelt mit ein paar unglücklichen Todesfällen, die Kurden seien leider etwas aggressiv geworden und so weiter und so weiter.
Talaat
Ich bitte dich, objektiv und sachlich zu bleiben und mich nicht gleich als Genozidleugner zu ächten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass bei solch einem umstrittenen Thema die Leugnung des Völkermords keine Straftat und kein Verbrechen ist. Ob tatsächlich ein Völkermord begangen wurde, ist unter 190 Staaten weltweit strittig. Das hat das Straßburger Gericht entschieden. Nur 20 Staaten gehen von einem Völkermord aus. Das Straßburger Gericht hat außerdem entschieden, dass man zwischen dem Holocaust an den Juden und der Umsiedlungsaktion der Armenier klar unterscheiden muss. Ein weiterer Umstand, der mich unglücklich macht, ist: Was habt ihr denn vorzuweisen, außer mir Nationalismus, Geschichtsklitterung und Genozidleugnung vorzuwerfen? Ich bin unglücklich darüber, dass du so mit mir umgehst und mich stigmatisierst. Man sollte eine Kommission einsetzen und alle Quellen prüfen und dann erst ein Urteil fällen.
Anape
Hast du nicht gelesen, was ich gerade geschrieben habe? Die Historiker sind sich einig!!!! Ich werde dir nicht mehr antworten!!!!! Nur noch eins: Nicht umsonst wollte der Regierungschef der Jungtürken damals die Versicherungsprämien für die ermordeten Armenier abkassieren – nämlich weil sie alle tot waren, umgebracht von deinen Großeltern oder von mir aus Urgroßeltern!!!
Talaat
Ich versuche, mit dir ein Gespräch über eine Frage zu führen, die man objektiv beantworten kann. Wir sind verschiedener Meinung, aber das ist kein Grund, mich zu beschimpfen. Wenn du mit mir hier nicht reden willst, habe ich fast Lust, dich einmal zu besuchen, damit wir das persönlich klären können. Ich weiß ja, wo ich dich finden kann.
»Anape, das sind – Sie?«
Die Frau nickte.
»Und wer ist Talaat?«
»Einer von denen. Sein Nickname.«
»Sein was?«
»Nickname. Das ist der Name, den man sich in Foren gibt. Mit dem man seine Posts kennzeichnet.«
»Posts?«, fragte Schlüter.
»Ja. Wenn man da was schreibt. Dann ist das ein Post.«
»Also wenn der Absender etwas schreibt, dann gibt er sich dabei einen falschen Namen?«
»Ja. Sozusagen.«
»Warum das denn? Meine Post verschicke ich immer unter meinem richtigen Namen.«
Die Frau zog hörbar die Luft ein und machte eine ausholende Bewegung mit der Hand. Egal, Schwachsinn, verstand Schlüter. Er war einer von denen, die zwar gelernt hatten, den Computer und das Internet zu nutzen, soweit es erforderlich war, er würde aber nie heimisch werden in der virtuellen Welt. So wie sein Vater nie gelernt hatte, ordentlich Auto zu fahren. Dafür hatte er mit Pferden gut umgehen können, denn er war Gastwirt in Husum gewesen, damals, als die Bierfässer noch vom Kutscher gebracht wurden.
»Sagen wir Indianername dazu«, entschied Schlüter. »Man gibt sich einen neuen Namen, wenn man eine Heldentat verrichtet hat. Oder eine behauptet. Oder so ähnlich.«
Die Mandantin verzog keine Miene. Aus ihren braunen Augen leuchtete eine dunkle Wut. »Talaat ist kein Heldenname«, sagte sie gepresst.
»’tschuldigung.«
»Und auch kein Indianername. Es ist ein Verbrechername, ein Name wie – Goebbels, Heydrich, Göring. Wenn Ihnen das was sagt.«
»Das sagt mir was. Muss mir ja was sagen. Aber Talaat sagt mir nichts. Wer ist Talaat?«
Talaat Pascha, so sein offizieller Name, erklärte die Frau mit monotoner Stimme, als halte sie einen Vortrag, den sie auswendig gelernt hatte, als habe sie diesen Vortrag schon oft gehalten, als sei sie müde, es wieder sagen zu müssen. Talaat Pascha sei der Innenminister des Osmanischen Reichs unter der sogenannten jungtürkischen Regierung gewesen, 1915, im Ersten Weltkrieg. Die Regierung habe damals beschlossen, die osmanischen Armenier auszurotten, und Talaat sei derjenige gewesen, der den Völkermord organisiert habe, dem 1,5 Millionen Armenier zum Opfer gefallen seien. Und er sei der einzige Massenmörder der Weltgeschichte, dessen Heimatland ihm Denkmäler setze, bis heute.
Davon hatte er gehört. Von den Denkmälern nicht.
»Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts«, warf Schlüter lehrbuchmäßig ein.
»Nein«, korrigierte sie ihn. »Der erste war der deutsche Völkermord in Südafrika. An den Herero und Nama.«
Davon hatte er ebenfalls gehört, wenn auch wenig. Deutsch-Südwest oder so. Windhuk oder Timbuktu oder wie das hieß. Schlüter wurde es ungemütlich. Diese Frau, die ihre Wurzeln offenbar in einem fernen Land hatte, hielt mit ihm deutschen Geschichtsunterricht ab. Musste sie so weit ausholen?
»Aber was haben Sie mit …?«
»Ich bin Armenierin! Verstehen Sie? Ich habe etwas dagegen, wenn sie an seinem Todestag in Berlin marschieren und in Istanbul an seinem Mausoleum Fahnen schwenken! Stellen Sie sich vor, es gäbe in Berlin ein Hitler-Mauseoleum und die Leute pilgerten hin zu Tausenden! Der Mann hat schon 1915 erklärt, niemals werde die Türkei zugeben, dass sie die anatolischen Armenier ausgerottet habe!«
»Aber …«
»Das hat er dem amerikanischen Botschafter ins Gesicht gesagt. Jedenfalls indirekt. Stellen Sie sich das vor!«
»Woher …?«
»Steht in den Memoiren des Botschafters. Henry Morgenthau. Man kann alles nachlesen …« In hastigen Worten referierte Anahid Bedrosian. Am 7. Juni 1915 habe Morgenthau den Innenminister aufgesucht. »Er ist hinbestellt worden, wegen – ach, das spielt keine Rolle, sonst sitzen wir morgen noch hier, wenn ich damit auch noch anfange. Jedenfalls hat Morgenthau ihm gesagt, die Osmanen machten einen fürchterlichen Fehler. Was sie den Armeniern antäten, das werde die Türkei in den Augen der Welt zerstören und das Land werde sich von dieser Schande nie wieder erholen. Und wissen Sie, was Talaat Pascha dazu gesagt hat?« Sie machte eine Kunstpause.
»Nein. Woher soll ich das wissen?«
»Talaat hat gesagt, die Osmanen würden niemals bereuen, was sie den Armeniern angetan hätten. Und kein Armenier könne je wieder ein Freund der Türken sein! Das hat er gesagt! Und genau so ist es gekommen, bis auf den heutigen Tag! Die Türken sind damals aus der Zivilisation ausgetreten. Und sie werden erst wieder eintreten, wenn sie endlich zugeben, was sie verbrochen haben!«
Anahid Bedrosians zornige Augen hielten Schlüter hinter dem Schreibtisch fest.
»Morgenthau hat die Türken übrigens für primitiv gehalten.«
Schlüter machte ein fragendes Gesicht. Sollte er protestieren? Man konnte doch kein ganzes Volk als …
»Und dafür hat er seine Gründe gehabt. Er formuliert das recht hübsch. Die Türken waren damals ungebildet. Sind sie meistens heute noch. Vielleicht ist es sogar schlimmer geworden.«
»Aber …«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Keine Vorurteile und so. Die Türken haben früher schon keine Bücher gelesen, auch nicht das eine, den heiligen Koran, das ging gar nicht. Die erste türkische Ausgabe ist erst 1950 rausgekommen. Da mussten sie sich den Inhalt eben von sogenannten Schriftkundigen vorbeten lassen. Fünfmal am Tag schreit der Muezzin arabische Suren vom Minarett, und das nur, weil Mohammed Araber war! Die meisten hielten es für sinnlos oder sogar Gotteslästerung, das Buch zu übersetzen, das hört man heute noch überall, denn das Wort Gottes darf ja keinesfalls verfälscht werden und eine Übersetzung ist eben eine Verfälschung. Wie soll so Bildung entstehen? Wir Armenier lesen unsere armenische Bibel seit tausendsechshundert Jahren und Sie haben die deutsche Bibel immerhin seit ungefähr fünfhundert Jahren. Deshalb waren wir Armenier schon immer gebildet und sprachkundig und deshalb waren wir Anwälte, Kaufleute, Ärzte und Handwerker. Und folglich waren wir reich, wir Armenier, damals unter den Osmanen. Sie finden heute noch keine Buchläden in den Städten. Oder fast keine.«
»Tja …«
»Haben Sie von Hrant Dink gehört?«, fragte sie.
Bevor Schlüter antworten konnte, dass der Name ihm schon einmal begegnet sei, er aber nichts mit ihm verbinden könne, berichtete sie.
Und bevor er ihren Bericht kommentieren konnte, befahl sie: »Lesen Sie weiter, wir müssen fertig werden!«
Schlüter atmete tief durch, froh, dass der Ritt durch unbekanntes Gelände zu Ende war, und faltete die Zeitung auseinander, eine einzelne abgetrennte Seite von der gestrigen Ausgabe. Montags bestand das Hemmstedter Tageblatt meistens nur aus Sportnachrichten. Dies war jedoch der Bericht über eine Veranstaltung vom letzten Freitag. Mittendrin ein Bild von einem Saal und einem Podium, auf dem ein Herr in braunem Sakko saß, neben ihm ein rundgesichtiger Schwarzhaariger, im Vordergrund vielfarbiges Publikum auf Stühlen, Schleier, Kopftücher, Mützen. Ein langer Artikel, daneben eine Extraspalte, überschrieben mit Völkermord an den Armeniern und der Unterzeile Historiker sind sich einig. Der Artikel selbst trug die Überschrift Tumult in der Alten Turnhalle, darunter die fett gedruckte Zeile Veranstaltung zur Völkerverständigung endet in Chaos.
Schlüter las:
Am Freitag, dem 13. April, fand in der Alten Turnhalle ein Diskussions- und Vortragsabend mit dem türkischen Schriftsteller und Publizisten Sahin Ali Söylemezoğlu statt oder besser: hätte stattfinden sollen. Söylemezoğlu ist Autor des Buches Die andere Seite der Medaille. Hintergründe der Tragödie von 1915 in Kleinasien. Das Werk befasst sich mit der Vernichtung der Armenier im 1. Weltkrieg vor 92 Jahren in Anatolien. Der Publizist hatte eingeladen unter dem Motto ›Türkei und Armenien – Das schwierige Verhältnis‹. Söylemezoğlu argumentiert, es habe keinen Völkermord an den Armeniern gegeben, sondern umgekehrt hätten diese drei Millionen türkische Muslime ermordet. Vor der berechtigten Rache der Türken hätten sich die Armenier hinter dem Kaukasus in der späteren Sowjetrepublik Armenien verschanzt. Bekanntlich ist Armenien seit dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion ein selbstständiger Staat. Die Armenier, die damals in Ostanatolien gelebt hätten, so die These des türkischen Publizisten, seien den Türken gemeinsam mit den Russen in den Rücken gefallen. Also habe man sie deportieren, nämlich umsiedeln müssen. Am Wege lebende Kurden und Tscherkessen hätten die Armenier ausgeraubt und manchmal getötet, womit die damalige sogenannte jungtürkische Regierung nichts zu tun gehabt habe, im Gegenteil, sie habe sogar versucht, die Armenier zu schützen.
Seit bald hundert Jahren ist diese Darstellung die offizielle türkische Staatsversion. Drei türkische Generationen sind mit dieser Falschdarstellung aufgewachsen (siehe Kasten auf dieser Seite).
Der Vorsitzende des Hemmstedter Ausländerbeirats erklärte auf Nachfrage, man habe diese Veranstaltung in dem guten Glauben organisiert, dass man mit einer offenen Diskussion zur Völkerverständigung beitrage. Ein Dialog müsse stattfinden, Armenier und Türken sollten sich aussprechen, sich die Herzen ausschütten und ihre Meinungen darlegen.
Im Vorfeld der Veranstaltung hat die armenischstämmige A. B. (Name der Redaktion bekannt) per E-Mail die Thesen von Ali Söylemezoğlu in Umlauf gebracht. Auf Befragen nahm sie Stellung, sie habe darauf aufmerksam gemacht, dass das städtische Haus missbraucht werden solle, der türkischen Lüge von der »armenischen Lüge« Raum zu geben. Sie sei von alevitischen Freunden (eine muslimische Glaubensrichtung in der Türkei, Anmerkung des Verfassers) auf die Veranstaltung hingewiesen worden. Diese hätten ihre Mitglieder aufgefordert, hinzugehen und die Veranstaltung zu stören. Auch habe sie den Bürgermeister und den Landessuperintendenten und unsere Zeitung sowie den Vorsitzenden des Ausländerbeirats Hemmstedt, Enrico Coletta, informiert.
Die Reaktionen reichten von Überraschung bis Entsetzen. Die Veranstaltung wurde zwar nicht abgesagt, denn dazu sei es zu spät gewesen, wie das Büro des Bürgermeisters mitteilte. Es gelte der Grundsatz, dass städtische Gebäude nicht für politische Veranstaltungen zur Verfügung stünden, dafür sei die Privatwirtschaft da. Die Veranstaltung fand also ohne Beisein des Bürgermeisters und des Vertreters der evangelischen Kirche statt, der seine Teilnahme als Moderator abgesagt hatte. Für ihn sprang der bekannte syrische Apotheker El Mokhtarzada ein.
Fast 200 Zuhörer, davon mehrheitlich Türken, nahmen an der Veranstaltung teil. Herr Söylemezoğlu sprach in seiner Einleitung zunächst von der »schwierigen Geschichte zwischen Türken und Armeniern« und warf den Armeniern ein »vorurteilsbeladenes Verhältnis zu den Türken« vor. Er bezeichnete die Genoziddebatte als »Mythos vom Dolchstoß«. Die Armenier, so Söylemezoğlu, wollten die Türkei vernichten und ihre eigene Schuld dem türkischen Volk anhängen. Die Veranstaltung solle »ein Beitrag zur Versöhnung und Annäherung« sein.
Die armenischstämmige Hemmstedterin A. B. ergriff nach dem Vorwort des Söylemezoğlu das Wort und wies auf die Geschichtsforschung hin, die nahezu einheitlich zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die osmanischen Armenier einem Völkermord zum Opfer gefallen seien. Sie verwies auf überlieferte Dokumente, unter anderem auf den großen Roman des jüdischen Schriftstellers Franz Werfel Die vierzig Tage des Musa Dagh, der auf Tatsachen beruht. Nachdem sie vorzeitig nach ihrem Wortbeitrag die Veranstaltung verlassen hatte, brach im Saal ein Tumult aus, der von einem Teil der türkischstämmigen Besucher ausging. Bei diesen, erklärt Frau B. auf Nachfrage, habe es sich um die alevitische Community Hemmstedts gehandelt. Eine Fortsetzung der Veranstaltung war nicht möglich. Es bildeten sich zwei Gruppen im Saal, die sich gegenseitig lautstark zu überzeugen versuchten. Dass es nicht zu Handgreiflichkeiten gekommen ist, ist dem rechtzeitigen Eintreffen der Polizei zu verdanken, die der Betreiber der Alten Turnhalle herbeigerufen hat.
Hemmstedt, so Frau B., solle nicht in die Geschichte eingehen als der Ort, an dem Geschichtsrevisionismus und Genozidleugnung auf offene Türen und Tore stoße, und das mit dem Anschein halbstaatlicher Billigung. Tag um Tag werde deutlich, wie handlungsbestimmend und identitätsprägend Geschichtsbilder für das Leben in Gegenwart und Zukunft seien. Wer von Integration und friedlichem Zusammenleben spreche, müsse sich zunächst der Selbst- und Fremdbilder, der herrschenden Ideologien klar werden, die die türkische Gemeinschaft bestimmten. Die vielen Söylemezoğlus in Deutschland wüsste man dann besser einzuordnen.
Herr Söylemezoğlu war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. IG
Schlüter ließ die Zeitungsseite sinken. Die Schnecke der Furcht kroch auf kaltem Schleim über seinen Rücken. Heydrich, Goebbels, Göring, Stalin, Pol Pot und Mao. Und jetzt also auch dieser Talaat Pascha. Er sah den Rauch aus den Öfen der Krematorien, er hörte die Schreie der Verdammten und das Wimmern verhungernder Kinder.
»Scheiße«, sagte er. »So eine beknackte Scheiße. Und jetzt?«
»Jetzt sitze ich hier und weiß nicht weiter.«
»Wann ist es passiert?«
»Letzten Freitag. Nach – diesem Abend.«
Dann begann Anahid Bedrosian zu weinen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen, schluchzte, zitterte, wiegte sich, jammerte in einer fremden Sprache, flüsterte etwas, das wie Namen klang. Was sollte er tun? Durfte er die Frau in den Arm nehmen? Durfte er einen Menschen in seiner Verzweiflung beglotzen? Schlüter stand auf, drehte sich um und starrte aus dem Fenster, das zu klein war, er sah die Hemmstedter Ziegeldächer nicht und nicht die Schafherde, die am Aprilhimmel weidete. Er biss sich auf die Lippen. Es raschelte hinter ihm und er drehte sich um.
Die Armenierin hatte sich erhoben. Mit tränennassem Gesicht und apathischem Blick stand sie da, sie schwankte, Speichel tropfte ihr aus dem Mund, ihre Mundwinkel zitterten und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
Er langte nach seinem Telefon, drückte Angelas Nummer, gleichzeitig die Lautsprechertaste. »Kommen Sie bitte, sofort, jetzt!«
Die fünf Sekunden, die Angela bis zu ihrem Chef brauchte, schienen Schlüter ewig zu dauern. Endlich öffnete sich die Tür.
»Nehmen Sie Frau Bedrosian in den Arm«, bat er, »bitte seien Sie so lieb.«
Nur einen winzigen Augenblick lang flackerten Unsicherheit, Erstaunen und Zögern in Angelas Gesicht auf, dann hatte sie die Frau schon umarmt und hielt sie, schweigend. Schlüter verließ das Zimmer, drehte eine Runde durchs Büro, überlegte, ob er bei dem Gerechten hereinschauen sollte, ließ es aber, erwog, ob er einen Tee kochen sollte, ließ es ebenfalls, stellte sich vor Angelas Fenster und betrachtete abwesend die Kakteensammlung, die der Paragrafenluft das Leben abtrotzte, wippte auf den Zehenspitzen, ignorierte das klingelnde Telefon. Als er wieder denken konnte, dachte er, eine Vergewaltigung geht ja noch, jedenfalls, wenn er das Opfer vertrat. Doch Völkermord? Was hat das damit zu tun? Manchmal wusste man nicht, worauf man sich einließ, wenn man ein Mandat annahm.
Nicht schon wieder, das ertrage ich nicht.
Noch nie hatte er ein Mandat abgelehnt, nachdem er ein Gespräch angefangen und seine Poren geöffnet hatte. Er wusste nicht, ob das Feigheit oder Treue war.
Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Die beiden Frauen saßen sich auf den Besucherstühlen gegenüber, ihre Knie berührten sich und sie drückten sich die Hände.
»Ich kann nicht damit leben«, flüsterte Anahid Bedrosian. »Wissen Sie, wie viele armenische Frauen von den Türken vergewaltigt worden sind? Es muss einmal ein Ende haben, es muss, es muss, es muss!« Ihr Gesicht war zu bleichem Teig geworden, die Augen trübe von Tränen.
»Sie müssen zum Arzt. Sofort«, befahl Schlüter.
»Aber ich …«
»Zu Ihrem Frauenarzt. Bestimmt haben Sie einen. Oder eine?«
»Aber ich weiß noch gar nicht, ob …«
Schlüter dachte nach. »Dann fahren wir besser gleich zu Professor Püschel ins UKE nach Hamburg.« Püschel hatte schon den Barschel obduziert, er war eine Koryphäe, ein Mann, dem nichts unter dem Himmel verborgen blieb.
Angela streichelte der Frau die Hände.
»Sie müssen jetzt keine Strafanzeige erstatten«, fuhr Schlüter fort. »Der Professor dokumentiert. Absolut gerichtsfest. Und Sie haben danach Zeit. Wenn Sie heute nichts tun, ist die Sache entschieden, und wenn es Sie später reut, können Sie es nicht mehr umdrehen. Dann ist es zu spät und Strafanzeigen ergeben dann keinen Sinn mehr. Bitte! Ich fahre Sie hin.«
»Gut«, sagte die Mandantin. »Ich nehme Ihr Angebot an.«
Schlüter griff sich seine Jacke. »Unter einer Bedingung.« Er wartete, bis sie ihn ansah. »Dass wir erstens sofort losfahren und zweitens unterwegs kein Wort über die Tat sprechen. Alles nur bei Püschel, Sie allein, geheim, vertraulich, verschlossen. Schweigepflicht eben. Sie haben die Herrschaft und niemand anders. Mit mir: kein Wort. Okay?«
Sie nickte.
Schlüter warf sich in die Jacke und tastete nach dem Autoschlüssel. »Melden Sie uns bitte an, Angela. Püschel. Rechtsmedizin. UKE. Finden Sie im Netz. Und sagen Sie dem Gerechten, ich komme heute nicht wieder.« In der Tür drehte er sich um. »Und rufen Sie bitte meine Frau an und sagen ihr, dass ich nach Hamburg fahre.«
Die Frage, die er hatte stellen wollen, hatte er vergessen.