Читать книгу Das armenische Tor - Wilfried Eggers - Страница 6
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ОглавлениеAnahid Bedrosian saß in der sechstletzten Reihe, gerade so weit hinten, dass sie den Überblick hatte, und nicht so weit vorn, dass man sie für einen neutralen Gast halten konnte. Sie war früh gekommen, an diesem Freitagabend im April, um zu sehen, welches Publikum in der Alten Turnhalle erscheinen würde.
Der kalte Luftzug von der sich öffnenden Tür her kündigte die neuen Besucher an. Hauptsächlich Türken. Natürlich. Anahid strich sich die schwarzen Haare hinters Ohr, damit sie besser zur Seite sehen konnte, ohne neugierig zu wirken. Sie hatte keine Illusionen. Wenn man einem Volk angehörte, das man versucht hatte auszurotten, konnte man sich keinen Optimismus leisten. Optimismus war etwas für Leute, die vor dem Bösen ihre Augen verschlossen, weil sie gemütlich leben wollten. Gemütlich lebt nur, wer die Welt ignoriert.
»Wird schon«, das war der Spruch, den sie am meisten hasste. Nichts wird. Vor allem nicht von allein. Konnte man als Armenierin in Deutschland leben, das die europäische Judenheit ausgerottet hatte?
Was du den anderen tust, tust du auch mir.
Wer als Armenier nach Deutschland kam, war wie ein Hamster, der mit dem Fuchs Freundschaft schloss, nachdem der ein Karnickel gefressen hatte. Trotzdem war sie hier, seit mehr als zehn Jahren, festgewachsen, obwohl es keine Heimat war. Sie war hier hängen geblieben, nachdem sie in Kiel studiert, in Hannover ihre Referendarzeit abgeleistet, einen Job in Hemmstedt gefunden und sich von Karl getrennt hatte. Karl hatte nur die Frau Anahid haben wollen, nicht die Armenierin Anahid. Er war des Themas überdrüssig geworden und sie hatten ihr Leben nicht mehr teilen können. Vielleicht hätte ich nach Frankreich gehen sollen, dachte Anahid, dort gibt es zwar eine Menge Maghrebiner, aber wenig Türken, dafür eine halbe Million Armenier, in Deutschland nur so viel wie Hemmstedt Einwohner hatte, ungefähr vierzigtausend. Alle verstreut, jeder für sich, einzeln. Einsam. Auch heute würde sie allein kämpfen müssen.
Wir werden verschüttet, wenn wir nicht kämpfen. Dann kriegen sie recht, hundert Jahre danach.
Hohe Fenster, gegenüber die Fachwerkwand mit alten Ziegeln, davor das flache Podium, Mikrofone, knarrender Parkettboden, eine Wendeltreppe mit eisernem Geländer zum Dachboden – ein denkwürdiger Raum. Früher war das eine Turnhalle gewesen, schon zur Nazizeit, als dein Körper der Nation gehört und du Gymnastik gemacht hast, damit die rhythmischen Urbewegungen funktionierten und die innere Heiterkeit zustande brachten, die du gebraucht hast, um künftige Soldaten zu gebären. Hatte ihr die Nachbarin Else erzählt, neulich am Samstag, beim Unkrautjäten, über den grünen Zaun des Reihenhausgartens hinweg, wo Anahid wohnte, allein, seit sie mit Karl Schluss gemacht hatte. Keine zehn Pferde würden sie da wieder hinbringen, hatte Else gesagt, ihr komme sonst der Konfirmationskaffee hoch.
»Urbewegungen! Was sollte das wohl sein, hä?« Sie hatte den rechten Zeigefinger in den Kreis von Daumen und Zeigefinger der linken Hand gesteckt. So eine war Else. So alt, aber immer noch Sprüche zum Rotwerden.
Jetzt nutzte man den Raum für After-Work-Partys, Musikveranstaltungen und Kleinkunst, überhaupt für alle Zusammenkünfte, die kein oder wenig Geld brachten und deshalb nicht im Kultureum stattfinden konnten, das jedes Jahr eine Million aus dem Hafersack der Stadt fraß, weswegen man dort die Wildecker Herzbuben sehen und hören konnte und haufenweise sogenannte Comedians, die neuen Wanderprediger ohne Bibel.
Und heute hier der Vortrag dieses Ali Söylemezoğlu mit anschließender Diskussion unter dem Motto ›Türkei und Armenien – Das schwierige Verhältnis‹. Der Mann hatte ein Buch zu dem Thema verfasst und einen Verein gegründet, den er ausgerechnet Dialog für den Frieden nannte, wahrscheinlich gemeinnützig und steuerbegünstigt.
Der Ausländerbeirat hatte eingeladen. Es solle ein Austausch stattfinden, der dem Konflikt zwischen den Türken und den Armeniern ein Ende machen, jedenfalls zu einer Annäherung führen sollte. Beide Seiten sollten sich aussprechen, ihre Herzen ausschütten, frei ihre Meinung sagen. So jedenfalls stand es in dem Veranstaltungshinweis auf der Kulturseite des Hemmstedter Tageblatts. Klang friedlich. Aber zwischen Armeniern und Türken war nichts friedlich, es herrschte kalter Krieg.
Zum Glück waren die alevitischen Familien da, die es in Hemmstedt gab, eine davon sogar aus Tunceli. Die Aleviten aus Tunceli und die Armenier verstanden sich, haben sich schon immer verstanden, waren sie doch beide der Türken Feinde, sind sie doch beide fast ausgerottet worden und leben heute verstreut in aller Welt, die kleinen Geschwister der Juden. Anahid hatte die E-Mail bekommen, die unter den Türken herumgeschlichen war. Welch ein Glück, dass sie von ihrer Großmutter Türkisch gelernt hatte!
Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands – so hatte es da gestanden! – ist es gelungen, in einem staatlichen Rahmen eine Veranstaltung zu organisieren, in der wir die Behauptung vom armenischen Genozid als das entlarven können, was sie ist: eine Lüge und eine Beleidung des Türkentums. Wir müssen im ganzen Land Institutionen dazu bringen, solche Veranstaltungen abzuhalten. Für alle Türken ist es eine patriotische Pflicht, an diesem Abend dabei zu sein.
Anahid hatte diese größenwahnsinnige Mail übersetzt und sie dem Bürgermeister und dem Pfarrer geschickt, der als Moderator fungieren sollte. Beide hatten, vielleicht nach einem Blick ins Netz, ihre Teilnahme hektisch abgesagt, worauf Anahid stolz war. Hätten sie das Buch gelesen, wären sie früher darauf gekommen. Diese harmlosen Deutschen. Dachten, sie wären die Einzigen, die einen anständigen Völkermord hinkriegen. Bosheit trauten sie nur sich selbst zu. Nichts sollte mit dem Holocaust vergleichbar sein. Niemand sollte Auschwitz relativieren. Richtig für die Deutschen, falsch für mich, dachte Anahid. Die Armenier, die Griechen, die Lasen, die Assyrer, die Aramäer und die Aleviten Dersims, alle massakriert vom Türkenstaat. Und alles geleugnet. Nichts war damit vergleichbar.
Allmählich füllten sich die Reihen. Fast alles Türken mit grünen Mongolengesichtern, Nachkommen der Hunnen, Reiter, Herrenmenschen, Eroberer, Träger von Ehre und Gesicht, die ihr Leben lang lügen, um keines von beiden zu verlieren, Großmeister des Beleidigtseins, nicht wissend, dass gerade das, ach, Scheiße, ich vergesse mich, ich will gerecht sein, ich habe doch türkische Freunde.
Türken haben damals meine junge Urgroßmutter gerettet, als sie am Ende des Kriegs in Urfa gestrandet war, in einen Hauseingang haben sie sie gezerrt, ins Haus gebracht und versteckt, die schwangere Witwe, als der Mob hinter ihr her war, überlebt hat sie in Hinterhof und dunklen Zimmern. Und drei Monate später ist sie runter in den Libanon, zu den Franzosen, wo sie ihr Kind gebar, meine Großmutter, und das armenische Blut floss weiter. Es gäbe mich nicht ohne diese Türken in Urfa, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Es sind Türken, denen ich meine Existenz zu verdanken habe, verdammt.
Ein paar Kurden kamen auch. Eigentlich waren sie keine Kurden, sondern Zaza und die meisten von ihnen, die in Hemmstedt und Umgebung lebten, kamen aus der Gegend von Bingöl und Elazığ und drum herum, die Döner, Pide und Köfte in der Hemmstedter Fußgängerzone verkauften und sich nur deshalb ›Kurden‹ nannten, weil die Kurden sie ›Kurden‹ nannten und weil es zu kompliziert war, den Deutschen zu erklären, dass es in der Türkei fünf Millionen Zaza gab. Aber natürlich waren die meisten Hemmstedter Zaza sunnitisch, schaafitische Sunniten, strenge Vertreter ihres Glaubens also, damals wie heute die Kollaborateure, noch im kleinsten Dorf in den zentralanatolischen Bergen hatten sie ihre Spaten aus den steinernen Schobern geholt und ihren armenischen Nachbarn damit die Köpfe gespalten, denn sie, obwohl selbst von der türkischen Herrenrasse verachtet, wollten auch einmal Herr sein, auch einmal verachten, ausrauben und schänden dürfen.
Viele von ihnen waren in die Türkei zurückgekehrt, seit Erdoğan regierte. Er hatte den Kurden und Zaza erlaubt, ihre eigene Sprache zu sprechen, auf der Straße, im Radio und Fernsehen. Das Leben auf den Knien war beendet, der Bürgerkrieg abgeflaut, sie waren wieder Menschen geworden und hatten jetzt, seit es mit der Wirtschaft vorangegangen war, sogar Geld in der Tasche und eine Zukunft. Eine Hoffnung auf Glück. Dafür würden sie Erdoğan ewig dankbar sein.
Die meisten lebten im Ostpreußenviertel. So hieß das Quartier, in dem hundertsiebzig Sprachen gesprochen wurden, ein Haufen heruntergekommener Hochhäuser, die wechselnde Miethaie ausgepresst hatten, bis die Stadt ein Sanierungsprogramm auf Kosten der Steuerzahler hatte auflegen müssen.
Rundherum babylonisches Sprachengewirr, vor allem Türkisch, Zaza und Kurdisch in allen Dialekten, aber auch Italienisch, Spanisch, Arabisch. Und hier und da Deutsch. Außer den Türken wusste natürlich niemand, was anstand. Mittlerweile war es fast halb neun geworden und immer noch kamen Leute herein. Der Saal füllte sich.
Hat man je eine türkische Veranstaltung erlebt, die pünktlich angefangen hatte?
Auf dem Podium hatte sich ein grauhaariger Mensch hinter einem aufgeklappten Rechner verschanzt. Er trug ein braunes Jackett, hatte aschgraue Haut, machte einen wissenschaftlich-nüchternen Eindruck, den er durch seine ruhige Erscheinung und die übereinandergelegten Hände betonte, und hieß Söylemezoğlu. Neben ihm der Vorsitzende des Ausländerbeirats, der Afghane El Mokhtarzada, ein distinguierter Apotheker, der Hilfslieferungen in die Kriegsgebiete seiner alten Heimat organisierte. Vielleicht hatte er es für seine Pflicht gehalten, den Abend nicht platzen zu lassen. Schließlich gab es nichts einzuwenden gegen den Versuch der Verständigung.
Als El Mokhtarzada das Wort ergriff, lehnte sich Anahid zurück und atmete tief durch. Sie wollte ruhig bleiben, unter allen Umständen. Söylemezoğlu räusperte sich, reckte den Hals in diverse Richtungen wie ein Hahn, klopfte mit dem Kugelschreiber an sein Wasserglas, bis sich die Gesellschaft nach und nach beruhigte und der Letzte begriffen hatte, dass die Veranstaltung begann. Nachdem El Mokhtarzada die Abwesenheit des Bürgermeisters und des Pfarrers bedauernd erwähnt hatte, übergab er das Wort an Söylemezoğlu. Wie oft hatte Anahid das, was jetzt kam, schon gehört, so oft, dass sie fast nicht mehr in der Lage war zuzuhören, zumal sie das Buch dieses Leugners unter Qualen gelesen hatte – das stümperhafte Werk eines viertklassigen Autors, dem kein kritischer Geist Glauben schenken konnte.
Die berühmte Dolchstoßlegende, die seit bald hundert Jahren durch stete Wiederholung fast so wahr geworden war wie die Protokolle der Weisen von Zion. Es gab immer genug Ungebildete, Nachplapperer und Idioten, die das glaubten, und weil es unter den Türken von dieser Sorte reichlich gab, fand man unter ihnen die meisten. Die Armenier hätten im Ersten Weltkrieg gemeinsame Sache mit den Russen gemacht, sich mit ihnen verbündet, um den Türken den Osten des Landes zu entreißen, es habe geheime Waffenlager gegeben, nämlich in Van, zur Vorbereitung eines Umsturzes, und zahlreiche gewaltsame Angriffe auf die muslimischen Nachbarn. Bedrängt von den Entente-Mächten, sei der jungtürkischen Regierung nichts anderes übrig geblieben, als die Armenier in kontrollierbare Wohngebiete im Süden des Landes umzusiedeln, wobei durch inkompetente Durchführung und Übergriffe der Zivilbevölkerung, »was ich unter diesen Umständen nachvollziehen kann«, einige Tausend von ihnen umgekommen seien, was wirklich schrecklich und traumatisch und sehr zu bedauern sei, jedoch nicht mit dem Begriff des ›Genozids‹ belegt werden könne. Damit aber nicht genug. Nicht die Türken hätten systematisch Armenier getötet, sondern umgekehrt: Drei Millionen Muslime seien von Armeniern ermordet worden, die sich anschließend bei den Russen im Kaukasus verschanzt hätten.
Anahid kannte Söylemezoğlu und seinesgleichen. Er war Mitglied einer türkischen Apologetenarmee. Immer wenn irgendwo vom armenischen Genozid die Rede war, schwärmten sie aus, in die Zeitungen, Radiosendungen und Fernsehdiskussionen. Manche, meistens Journalisten von Beruf, machten sogar einen Lebensunterhalt daraus und einer davon war Söylemezoğlu.
Die Veranstaltung in Hemmstedt war nicht die erste dieser Art. Er warb mit schönen Sprüchen: »Hass ist keine Lösung« und »Aufruf zum Dialog und Frieden«. Er deckte »geschichtliche Hintergründe« auf. Eine riesige Kraftanstrengung fand statt in allen Ländern, in denen über dieses Thema diskutiert wurde, hauptsächlich in Frankreich, der Schweiz, in Kanada, den USA, dort, wohin viele der überlebenden Armenier geflüchtet waren. Diese Armee der Leugner war die Ergänzung, vielleicht auch Bestandteil der türkischen Außenpolitik. Jedem, der vom armenischen Genozid sprach, musste unter allen Umständen der Mund gestopft und die Schreibfeder genommen werden.
Der Mann redete fast eine Stunde lang. Er belegte seine Meinung mit vielerlei Zitaten von Quellen aus seinem Buch, bekam zwischendurch Beifall, hier und da erhob sich zustimmendes Gemurmel. Anahid spürte die fragenden Blicke der italienischen Frau, die neben ihr saß.
Du entkommst deinem Schicksal nicht, wenn du Armenierin bist. Wie diskutiert man mit Fundamentalisten? Wie macht man einem Dieb klar, dass er gestohlen hat, einem Alkoholiker, dass er trinkt, einem Schläger, dass er schlägt, einem Lügner, dass er lügt? Warum jemandem etwas beweisen, was der selbst am besten weiß?
Anahid war kalt ums Herz und ruhig im Blut geworden, denn es war nicht das erste Mal, dass sie in solche Schlachten zog.
Du hältst sie nur aus, wenn du kalt bleibst. Der Aufgeregte schießt schlecht.
Am Ende sagte Söylemezoğlu, nun sei es an der Zeit, das schwierige Verhältnis der Türken und Armenier auf der Grundlage von Ehrlichkeit und Wahrheit zu revidieren. Der Apotheker dankte Söylemezoğlu für seinen engagierten Vortrag und schlug eine Diskussion vor.
Anahid stand auf. »Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Ja bitte.« Söylemezoğlu lächelte.
Er kannte sie nicht. Manchmal konnte man Armenier nicht von Türken unterscheiden. Beide hatten dunkle Haut, braune Augen und schwarzes Haar.
»Es gibt ein Dokument des deutschen Vizekonsuls in Mossul. Das war ein Mann namens Walter Holstein. Er hat berichtet, er habe auf manchen Stücken des Wegs von Mossul nach Aleppo so viele abgehackte Kinderhände liegen sehen, dass man damit den ganzen Weg hätte pflastern können. Kennen Sie diese Quelle, haben Sie sie verwertet?«
»Äh, ich habe …«
»Ich stelle fest, Sie kennen sie nicht und haben sie nicht verwertet. Walter Holstein hat auch berichtet, er habe beobachtet, dass Gendarmeriepatrouillen in Diyarbakır und Mardin die Bevölkerung aufgefordert hätten, die Armenier umzubringen. An der ganzen Strecke südlich Nusaybins habe er, wie er sich ausdrückt, alle Mohammedaner mit krummen Schwertern herumlaufen sehen. ›Ermeni‹, also Armenier, hätten sie immerzu gerufen, das sei ihr einziger Gedanke gewesen. Und kennen Sie die Autobiografie des amerikanischen Botschafters in Istanbul, Henry Morgenthau? Er war mehrfach bei Talaat Pascha, um auf ihn einzuwirken, dass die Massaker an den Armeniern aufhören. Kennen Sie diese Quelle und haben Sie sie verwertet?«
»Morgenthau? Dieser, äh, Jude, meinen Sie? Seine Darstellungen sind nachgewiesenermaßen ungenau, einige Daten sind widerlegt und es ist offenbar, dass er …«
»Wer weist das nach – Sie?«
»Ich habe …«
»Ich stelle fest, dass Sie sich nicht damit auseinandergesetzt haben. Und Sie wollen ja wohl nicht ausgerechnet in Deutschland behaupten, dass ein Jude nicht vertrauenswürdig sei, nur weil er Jude ist? Aber etwas anderes: Kennen Sie die im Osmanischen Reich und in der Türkei bis auf den heutigen Tag gebräuchliche Foltermethode, wonach man dem Opfer gewaltsam einen Knüppel in den Anus treibt, also in den Darm?«
»Was hat das mit unserem Thema zu tun?«
»Sehr viel. Martin Niepage, ein Lehrer an der Deutschen Schule in Aleppo von 1913 bis 1916, hat berichtet, was ihm die Ingenieure von der Bagdadbahn – alles Deutsche übrigens, unter der Leitung von Wilhelm Pressel, alles Verbündete der Türkei damals, ich betone das – erzählt haben, ich kann das auswendig, ich zitiere: ›Sie berichteten, dass am Bahndamm bei Tell Abyat und Rasulayn geschändete Frauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen von ihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrieben.‹«
Die italienische Frau auf dem Nachbarstuhl beschattete ihre Augen mit der Hand und murmelte: »Questo è terribile.«
»Und nun, bitte, nennen Sie mir einen einzigen nicht türkischen Historiker, der Ihre Auffassung teilt! – Es gibt keinen«, fuhr sie fort, als Söylemezoğlu nicht gleich den Mund aufmachte. »Es gibt nur türkische Autoren, die den Völkermord an den Armeniern Anatoliens leugnen, und jeder einzelne von ihnen sagt die Unwahrheit. Das Schlimme aber ist, sie kennen die Wahrheit, sie wissen, dass sie lügen. Und sie wissen, dass alle anderen es wissen. Und deswegen müssen sie sich ständig rechtfertigen und Veranstaltungen machen, sogar in Hemmstedt, wo es fast keine Armenier gibt, mit denen sie Freundschaft schließen könnten.«
Anahid war zufrieden. Sie hätte noch den Pfarrer Lepsius und den Schriftsteller Armin T. Wegner bringen können und das ganze Archiv des Auswärtigen Amts, das vollgestopft war mit Dokumenten, Berichten, Depeschen, Fotos. Ganz zu schweigen von den Aufzeichnungen des Dikran Andreassian, die Franz Werfel für die Vierzig Tage des Musa Dagh ausgewertet hatte.
Söylemezoğlus Hals wurde länger, er machte den Mund auf, doch der Apotheker aus Afghanistan war schneller.
»Bitte«, sagte er. »Wir sind alle keine Historiker. Ich möchte die Fragen oder vielmehr eigentlich Feststellungen, die Frau … Äh, bitte, wie ist Ihr Name?«
»Ich heiße Anahid Bedrosian, ich bin Armenierin und ich wiederhole meine Frage an Herrn Söylemezoğlu. Gibt es einen einzigen nicht türkischen Historiker, der Ihre Auffassung teilt? Nennen Sie mir einen einzigen, ich bitte Sie!«
Söylemezoğlus Hals wurde wieder kürzer, als könnte er ihn aus- und einfahren wie eine Schildkröte. »Die Untersuchung der Archive«, begann er, »sie ist dringend erforderlich, denn bisher ist auf unvollständiger Tatsachengrundlage …«
Der Apotheker, ein wahrhaftiger Mann, wie Anahid jetzt erkannte, unterbrach Söylemezoğlu und erklärte: »Es gibt also keinen?«
Söylemezoğlu antwortete nicht sofort und es erhob sich ein Murmeln in den Reihen.
»Zur!«, hörte sie hinter sich, von dort, wo die alevitischen Familien saßen. Das war Zaza und bedeutete ›Lüge‹. Sie hatte gewonnen. Sie spürte die türkischen Blicke kalt im Wirbel und ihr wurde übel.
Wenn ich hier sitzen bleibe, muss ich kotzen.
Anahid stand auf und bahnte sich einen Weg durch die Sitzenden Richtung Ausgang.
An der Theke standen drei Männer. Anahid sah die Blicke nicht mehr, die sie sich zuwarfen, denn sie hatte den Saal verlassen und war hinausgegangen in den Aprilabend. Wohin sollte sie ihre Schritte lenken? Sie hätte jetzt Gesellschaft gebrauchen können. Sie lief durch dunkle Gassen zum Alten Hafen. Dann verspürte sie Müdigkeit und beschloss, nach Hause zu gehen. Ein Bad würde ihr guttun.
Sie ließ die kleine Altstadt hinter sich. In der Fußgängerzone nur noch wenige Menschen, nachdem die Geschäfte geschlossen hatten. Die Wallanlagen am Burggraben auf dem Weg, der an der Insel mit dem Freilichtmuseum vorüberführte. Sie hörte das Knirschen des Schotters unter ihren Füßen. Oder war es ein anderes Knirschen, andere Füße?
Sie blieb stehen, hielt den Atem an, sah sich um. Nur zwanzig Meter Weg, dann eine Kurve. Büsche. Nichts. Nur laute Stimmen von drüben, wahrscheinlich vom Italiener am Burggraben her, eine Festgesellschaft. Also weiter. Links der Wald, rechts die Aue. Es war dämmrig geworden, aber nicht dunkel genug, dass sie sich in den Büschen verstecken konnte. Sie versuchte, auf Zehenspitzen zu gehen und gleichzeitig nach hinten zu lauschen. Ich spinne schon, dachte sie, mein Herz ist dümmer als mein Verstand, jetzt reicht es. Sie drehte sich um und kehrte zurück, noch schneller, als sie in Richtung Bundesstraße gegangen war. Nachdem sie an der Wallstraße angekommen war und immer noch niemanden gesehen hatte, der ihr gefolgt war, atmete sie auf, machte abermals kehrt und nahm ein zweites Mal den Weg zur Bundesstraße. Die meisten Autos fuhren jetzt mit Licht.
Dort bog sie ab auf den Fußweg durch die Auewiesen.
Es geschah nach ungefähr fünfhundert Metern, an der Einfahrt zu einer Wiese.