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ОглавлениеSie gingen die knarzende Treppe hinunter – Schlüter voran, die Hand am Rosenholzgeländer – und verließen das Haus. Schlüter hatte seinen japanischen Wagen hinter dem Kino geparkt. So konnte er stets ein paar Schritte an der frischen Luft gehen, vor oder nach der Arbeit, und außerdem war es der einzige einigermaßen erreichbare Parkplatz, der nichts kostete.
Der zweite Tag der Woche ging zur Neige, die schwarze Hand der Nacht senkte sich herab. Anahid Bedrosian folgte ihm schweigend. Sie stiegen ein und Schlüter startete den Wagen. Bevor er den ersten Gang einlegte, drehte er den Zündschlüssel wieder zurück.
»Was ist?« Anahid Bedrosian war irritiert.
»Wo sind Ihre Sachen?«, fragte Schlüter. »Ich meine die, die sie anhatten, als …«
»Mülltonne.«
»Und die Müllabfuhr?«
»War noch nicht da. Ich habe nur alle vier Wochen Abfuhr. Kommt nächste Woche.«
»Gut. Müssen wir holen. Jetzt. Wegen der DNA.« Schlüter atmete auf.
Anahid Bedrosian wohnte am Rand der Auewiesen in einer Reihenhaussiedlung aus den Siebzigern, im Süden der Stadt, nicht weit vom Krankenhaus entfernt am Fuß eines Geestbergs, den die nordeuropäischen Eismassen vor zwölftausend Jahren aufgeschoben hatten.
Schlüter wies seine Mandantin an, die Kleidung in einen neuen Müllsack zu stecken. Er parkte den Wagen vorm Haus, folgte ihr bis zur Gartenpforte und wartete dort, bis sie mit blassem Gesicht wiederauftauchte, einen blauen Müllbeutel in der Hand, und beobachtete, wie sie den Deckel der Mülltonne in der Garage vor dem Haus aufklappte, einen zweifelnden Blick hineinwarf, hineinlangte und schließlich die weggeworfenen Kleidungsstücke mit spitzen Fingern hervorzog und in den Beutel fallen ließ.
»Auf geht’s«, verkündete Schlüter.
Nach wenigen Minuten waren sie an der Kreuzung der beiden Bundesstraßen, wo Schlüter Richtung Hamburg abbog. Das Wetter war umgeschlagen. Es gab nichts zu sehen außer den Nebeldrachen, die den Lastwagen nachwirbelten, und den Milchaugen der Fahrzeuge. Es gab keine grünen Wiesen, keine Obstplantagen, keine Waldränder und keine Blicke auf die Niederungen der Elbmarschen. Alles war im Dunst verschwunden, alles war nass und grau und mehr Winter als Frühling. Und doch saßen sie trocken im Auto.
Schlüter erklärte seiner Mandantin, weshalb er mit ihr über die Straftat nicht reden wolle und warum es das Beste sei, wenn sie mit niemandem sonst darüber spräche, auch nicht mit nahestehenden Personen, es sei denn, sie entschlösse sich, endgültig und unwiderruflich von einer Strafanzeige abzusehen. Das Dilemma des Opfers. Einerseits half es, wenn man erzählen durfte, was einem widerfahren war. Andererseits war die Erinnerung ein unzuverlässiger Freund, denn mit jedem Wort, das man daherredete, verschob sie sich ein wenig.
Besonders wenn du engagierte Zuhörer hast, die fleißig nicken und dich bestätigen. Je öfter und mit je mehr Leuten du darüber sprichst, desto weniger wirst du dich erinnern können an das, was tatsächlich geschehen ist. Zuletzt erzählst du nur noch, was du dir selbst erzählt hast, du betonst, was bei deinen Zuhörern besonders gut angekommen ist, du kannst flüssig berichten, aber dein Bericht enthält nichts Authentisches mehr. Ein Richter hat keine Lebenserfahrung, denn er kennt nur den Gerichtssaal und verwechselt ihn mit dem Leben draußen. Er freut sich über deine glatte Aussage, nur wehe, es gibt einen Verteidiger, der dich auseinandernimmt, und einen Gutachter, der dich seziert. Im Zweifel für den Angeklagten. Dem Strafgesetzbuch ist das Opfer egal, es kümmert sich nur um den Täter, es schützt ihn vor Willkür. Das Opfer muss sich selbst helfen. Opfer sind noch unbeliebter als Täter. Und das Ganze nennt man ›Gerechtigkeit‹.
Anahid Bedrosian würde lange schweigen müssen, denn der Staat hatte zwar das Monopol übernommen, die Übeltäter zu bestrafen, ließ sich allerdings eine Menge Zeit dabei. Zeit, in der das Opfer in der Macht des Täters stand. Nicht einmal eine vielleicht notwendige Therapie sei möglich, erläuterte Schlüter. Denn eine wahrheitsgemäße und authentische Zeugenaussage müsse, wolle sie Erfolg haben, die erste Priorität sein. Auch in der Therapie müsse sie über das Geschehen sprechen, und das könne das Erinnern vernebeln, verändern, verfälschen, verschieben. Warten also, die Pein ertragen. Das Opfer sei der Wirt des verbrecherischen Bandwurms, es müsse ihn an seinen Innereien fressen lassen, bis nach der Zeugenaussage im Hauptverfahren. Ein Hauptverhandlungstermin würde womöglich lange auf sich warten lassen, selbst wenn Anahid Bedrosian schon morgen Strafantrag stellen würde. Besser, darüber ebenso zu schweigen, zunächst. Er bat sie nur, einen schriftlichen Bericht anzufertigen, möglichst bald, für alle Fälle, und dafür, wenn nötig, auf die letzten Kräfte zu setzen.
Also schwiegen sie.
Da das Leben bunt und vielfältig war, hätten sie über alles Mögliche reden können. Über das Wetter, den letzten Urlaub oder die halb fertige Autobahn, auf der sie jetzt nicht fahren durften, denn man hatte vor wenigen Monaten nur die Gegenrichtung freigegeben, nach fünfzigjähriger Planungs- und Bauzeit, mit feierlicher Einweihung und einer Höchstgeschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern. In Richtung Hamburg musste man sich immer noch auf der Bundesstraße in langen Kolonnen durch die Dörfer quälen, die die Elbe säumten. Denn die Hamburger Pfeffersäcke wollten die Autobahn nicht, weil man darauf nicht nur hin-, sondern auch wegfahren konnte, zu billigeren Gewerbegrundstücken. Sie trauten sich bloß nicht, das zu sagen, sie planten und planten. Doch es war, als hätte Schlüters Schweigeverdikt alle anderen Themen erstickt, denn Anahid Bedrosian schwieg und Schlüter konnte in den Tiefen seiner Gedanken versinken.
Er dachte darüber nach, wann er heute Abend etwas zu essen bekommen würde oder wenigstens eine Tasse Tee, wann der Lastwagen vor ihm endlich abbiegen würde und wie viele Wochen es noch bis Pfingsten waren und wann er den Professor kennengelernt hatte. Vor Jahren in einer Strafsache. Schlüter hatte in der Nebenklage einen Vierzehnjährigen vertreten, der vom Nachbarn missbraucht worden war. Grässliche Geschichte. Die Verteidigerin hatte behauptet, das Glied eines erwachsenen Mannes hätte den Anus des Knaben wenigstens anreißen müssen. Der sei aber unversehrt gewesen. Deshalb könne der Angeklagte die Tat nicht begangen haben.
»Was meinen Sie, was da alles reingeht«, hatte der Sachverständige geantwortet und sich nicht von dem überdimensionalen Dildo abschrecken lassen, den die Verteidigerin des Angeklagten daraufhin aus ihrer Handtasche hervorgeholt und in der Luft geschwenkt hatte, vor den Augen der Schöffinnen, die Mühe hatten, ihr Entsetzen zu verbergen. Immerhin hatte dieser Prozess der Verteidigerin den Kosenamen ›Dildo-Berthold‹ eingetragen, ein Name, der bleiben und ihren Ruhm der Nachwelt überliefern würde.
»Kennen Sie sich in Hamburg aus?«, verscheuchte Schlüter seine Gedanken.
»Ja, einigermaßen.«
»Ich nicht.«
»Haben Sie kein Navi?«
»Nein, ich trau den Dingern nicht, und außerdem … Butenfeld heißt das da. Im Handschuhfach ist eine Karte.«
Schlüter war schon lange nicht mehr mit dem Auto nach Hamburg gefahren. Vor einigen Jahren hatte Hemmstedt einen S-Bahn-Anschluss und ein zweites Gleis bekommen und man war nicht mehr auf die bemalten Kartoffelkisten der Bundesbahn angewiesen.
Nach knapp zwei Stunden bog Schlüter auf das Klinikgelände ab. Nach einer weiteren Viertelstunde saß er allein unter dem gleißenden Neonlicht eines Wartezimmers und las in einer zwei Jahre alten Zeitschrift einen Artikel über die suizidale und akzidentielle Kohlenmonoxidintoxikation durch das Abbrennen von Holzkohle in geschlossenen Räumen.