Читать книгу Das armenische Tor - Wilfried Eggers - Страница 9
4
ОглавлениеKaum hatte Schlüter seinen Hintern dem maroden Bürostuhl anvertraut, klingelte das Telefon.
»Ja?«
»Da ist ein Herr von der Polizei dran«, sagte Angela. »Ferber, glaube ich, heißt er.«
»Und? Was will er?«
»Mit Ihnen sprechen.«
»Haha, das ist ja wohl klar, in welcher Sache, meine ich?«
»Haben Sie schlechte Laune?«
»Ja!«
»Bin ich schuld?«
»Nein. Also: In welcher Sache?«
»Hat er nicht gesagt. Wollte er nur Ihnen sagen.«
Warum störte ihn diese Sorte Mensch, die nicht mit dem Personal sprechen wollte, damit man die Akte vorgelegt bekam und gleich zur Sache kommen konnte? Und das am Montagmorgen, bevor die Woche angefangen hatte! Wichtigtuer, unter deren Würde es war, mit Subalternen zu sprechen. Das waren früher die Herren, die ihre Knechte mit »Er« angesprochen hatten, mit abgewandtem Gesicht und vorstehendem Bauch, den zwei Hosenträger überquerten, darin die Daumen eingehakt.
»Polizei, sagten Sie?«
»Sagte ich.« Angela war auch schon auf hundert.
Schlüter fragte sich, ob er etwas verbrochen haben könnte. Immer wenn er es mit der Polizei zu tun hatte, sogar, wenn er nur einen Polizisten sah, stellte er sich diese Frage. War er zu schnell gefahren? Hatte ihn womöglich jemand wegen Verkehrsunfallflucht angezeigt? Neulich hatte er beim Einparken den Seitenspiegel des Fahrzeugs eingeklappt, an dem er rückwärts vorbeigefahren war. Ob es das war? Oder ob er sich für die Sünden seines Vaters schämte, die der unter Adolf auf sich geladen hatte?
»Geben Sie her.«
Es knackte in der Leitung.
»Schlüter.«
»Kriminalhauptkommissar Ferber hier, Kripo Hemmstedt. Haben Sie Zeitung gelesen?«
»Krimi… was?«
»Kriminalhauptkommissar. Kriminalhauptkommissar Ferber.«
»Ach so. Und womit kann ich dienen?«
»Haben Sie die Zeitung gelesen?«
»Welche?«
»Die von heute.«
»Ich meinte: welche Zeitung.«
»Sagte ich doch schon, die von heute.«
»Wie viele Zeitungen gibt’s in der Republik?«
»Ach so, das meinen Sie. Das Hemmstedter Tageblatt natürlich.«
»Habe ich abbestellt. Zu viele Schützenfeste. Zu viele Orang-Utans.«
»Wie? Affen? In der Zeitung?«
»Das sind Fußballspieler, die ein Tor geschossen haben.«
»Ach so. Ich dachte …«
»Außerdem hätte ich sie auch nicht gelesen, wenn ich sie noch abonniert hätte. Kommt bei uns draußen mit der Post. Nachmittags um drei. Weshalb rufen Sie mich an?«
»Wir haben in einer Ermittlungssache einige Fragen an Sie. Wir wollten Sie bitten …«
»Wieso?«
»Ein Mann ist erstochen worden. An Sie haben wir Fragen in diesem Zusammenhang.«
»Warum das denn? Was habe ich damit zu tun?« Ein schwarzer Klumpen hatte sich in Schlüters Eingeweiden gebildet.
»Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen, Herr Schlüter. Können Sie vorbeikommen? Herr Staschinsky aus meiner Kommission möchte mit Ihnen sprechen.«
Staschinsky?
»Welcher Staschinsky?«
»Spielt das eine Rolle? Wir haben nur einen und der reicht uns vollauf.«
Also der. Schlüter hatte den Kripomann Klaus Staschinsky vor Jahren kennengelernt, im Zusammenhang mit der Verhaftung des Bauern August von Borstel im Altenmoor. Damals war Staschinsky gerade von Bremervörde nach Hemmstedt versetzt worden, weil keiner der Bremervörder Kollegen mehr mit ihm hatte zusammenarbeiten wollen. Oder, wie Staschinsky es ausdrückte, keiner von ihnen Arsch genug in der Hose hatte, seine berechtigten Beschwerden zu unterstützen. Zivilcourage, so Staschinsky, sei auch bei der Polizei nicht vonnöten, schließlich sei man verbeamtet. Er war der einzige Polizist im gehobenen Dienst, der nach mehr als fünfzehn Jahren immer noch Kriminalkommissar und nicht zum Kriminaloberkommissar befördert worden war, weil, wie Staschinsky damals auf der gemeinsamen Fahrt nach Hemmstedt nicht ohne Stolz erläutert hatte, »weil ich meine Klappe nicht halten kann«. Seither waren sie sich immer wieder mal begegnet, im Gerichtssaal, in Zivil in der Stadt und sogar einige Male auf einen Kaffee. Seit Schlüter in Hollenfleth wohnte, zwanzig Kilometer entfernt im Moor, und vor allem, seit er keine Strafsachen mehr machte, waren die Begegnungen seltener geworden. Schlüter erinnerte sich, dass er Staschinsky damals, als er abgerissen und traumatisiert aus Anatolien zurückgekehrt war, bei einer Tasse Kaffee in der Stadt sein Herz ausgeschüttet hatte. Der Mann musste jetzt Mitte fünfzig sein. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Wie viele Jahre? Fünf? Ob er nun Zeuge sein sollte oder nicht, einen Kaffee mit Staschinsky war es wert.
»Ich komme sofort.«
Er hatte ohnehin keine Lust mehr zum Arbeiten. Eine böse Ahnung war in ihm erwacht. Der Gerechte würde die Stellung halten. Er hatte sicher aufgetankt am Wochenende und steckte vermutlich voller Schaffenskraft. Angela würde die Anrufe abwimmeln. Für einen kurzen Moment fühlte sich Schlüter frei und ledig aller Sorgen, ein Gefühl, auf das er achten musste, da es so viel wie Glück bedeutete, das niemals ein Dauerzustand sein konnte, weil es sonst der Gesundheit schadete. Alles ist eine Frage des Maßes, sagte Paracelsus.
Schlüter griff sich seine Jacke, gab Angela und dem Gerechten Bescheid, dass er eine Weile fort sei, und verließ das Büro. Er überlegte kurz, ob er zu Fuß gehen sollte, dann wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung, zum Hafen, da er jenseits davon, hinter dem neuen Kino, seinen Wagen abgestellt hatte.
Wer in der Stadt vom Norden in den Süden wollte, musste über die Bahnhofsbrücke fahren. Jedes Mal ärgerte sich Schlüter über dieses kleinstädtische Wahrzeichen des Autowahns. Kurz darauf rollte er mit seinem alten japanischen Wagen die Seestraße hinab und bog durch das Tor auf den mit Klinkern gepflasterten Parkplatz des Polizeikommissariats Hemmstedt, das in dieser Wohnstraße fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt in einem monströsen roten Backsteingebäude untergebracht war.
Im Krieg hatte das Bauwerk als Krankenhaus gedient, Schlüter hatte das damals, im Zusammenhang mit der Prozesssache Kaczek, einmal nachgelesen. Und hinter dem Backsteinriesen hatte es zu Kriegszeiten eine gesonderte Baracke für die Zwangsarbeiter gegeben, in der diese behandelt worden waren. Hinter dem Gebäude, einige Dutzend Schritte eine Straße entlang, befand sich der ewige jüdische Friedhof, der nach der Zerstörung durch die Hemmstedter Nazis wieder in seinen alten Abmessungen eingezäunt worden war, auf Veranlassung eines Hemmstedter Arztes, den die Politiker der alten Garde, die noch braunen Dreck unter den Fingernägeln hatten, als Querulanten abtaten. Er störte ihren Wirtschaftswunderstolz, unter dem sie ihr schlechtes Gewissen begraben hatten. Wie konnte man stolz darauf sein, etwas repariert zu haben, was man kaputt gemacht hatte? Sogar ein paar Grabsteine gab es noch, mit verwitterter hebräischer Inschrift, einen davon hatte ein couragierter arischer Bürger heimlich aufbewahrt, zu Ehren seines toten jüdischen Freundes.
Im Land der Sekundärtugenden war Zivilcourage selten, man verwendete seine Energie hauptsächlich darauf, sich dem Niveau der Umgebung anzupassen und nicht aufzufallen. In Hemmstedt hatte es kaum mehr als ein Dutzend Juden gegeben, zwei Familien nur, über die das Herrenvolk am 9. November 1938 hergefallen war. Vergangenheit verging nicht, sie lebte weiter im Atem der Gegenwart, und das besonders im Atem Staschinskys, der sein persönliches Nie-wieder lebte, indem er tat und sagte, was er für richtig und wahr hielt. Sie sind besser geworden, die Zeiten, dachte Schlüter, seit ich geboren bin, mit jedem Tag.
Dem Polizeipförtner, der Schlüter mit professionellem Misstrauen prüfte, musste er seinen Ausweis zeigen, bevor er in den zweiten Stock, Zimmer 209, geschickt wurde, durch einen niedrigen gelben Flur, der so lang und dunkel war wie eine Depression, eine Treppe mit Linoleumbelag und eisernem Geländer hoch, das leise unter seinen Händen wimmerte, durch einen identischen Flur zurück an vielen Türen vorbei und endlich bis vor eine offene, aus der ein unregelmäßiges dumpfes Klappern drang wie von einer Mühle mit kaputten Zahnrädern. Schlüter klopfte und räusperte sich.
»Hrreihnn!«, raspelte es norddeutsch.
Schlüter steckte den Kopf über die Schwelle. Ein höchstens einen Meter siebzig kleiner Mann mit Kugelbauch, runden Backen und grauem Vollbart stand hinter dem Schreibtisch. Er überragte den klotzigen Bildschirm nur um weniges.
»Guten Tag, Staschinsky mein Name«, sagte er.
»Meinen Sie, ich erinnere mich nicht mehr?«, rief Schlüter und markierte mehr Fröhlichkeit, als er empfand. »Was liegt an?«
»Hat er Ihnen das nicht gesagt?«
»Darf er nicht am Telefon, hat er gesagt. Hat nur gefragt, ob ich die Zeitung gelesen habe. Habe ich aber nicht.«
»Mein Gott, dieser Sesselpupser.« Staschinsky stöhnte. »Vorschriften sind für den nur zur eigenen Absicherung da, für sonst nichts. Alles Verwaltungshandeln findet statt nicht für die Menschen, sondern für die Akte, und die muss stimmen. Sonst wirst du nicht befördert, capito? Garantiert hat er einen Vermerk gemacht.«
»Und wieso ruft der mich an und nicht Sie?«, fragte Schlüter und freute sich, dass er sein Leben nicht in einem solch elenden Dienstzimmer verbringen musste.
»Weil er so tun muss, als würde er die MK ›Unbekannt‹ leiten, und sich aufbläst. Aber ich mach die ganze Arbeit, wie immer.«
»Und, endlich befördert?«, fragte Schlüter und wusste nicht, ob er grinsen durfte.
»KOK, bitte. Kriminaloberkommissar, und zwar einer, der einem unfähigen Kriminalhauptkommissar – KHK – namens Ferber untersteht. Mir scheißegal, ob das einer hört«, schob er ein, als sich Schlüter unwillkürlich in der offenen Tür umdrehte. »Aber kommen Sie rein. Ich habe ein paar Fragen. Vorher erzähl ich Ihnen was. Bitte Platz zu nehmen.« Staschinsky wies auf einen abgewetzten Stuhl, der rechts um die Ecke an der Wand stand.
Schlüter zog sich den Stuhl heran und setzte sich. Staschinsky war dafür bekannt, dass er sich nur an die Vorschriften hielt, wenn es ihm passte. Natürlich durfte man Zeugen keinen Einblick in die Ermittlungen geben.
Staschinsky erklärte, er werde sich um Kaffee kümmern, und verschwand.
Währenddessen hatte Schlüter Gelegenheit, sich im Dienstzimmer des Polizisten umzusehen. Die Zeit war stehen geblieben. Lag es daran, dass er sein Büro verlassen hatte, oder daran, dass in allen staatlichen Dienstgebäuden der Welt eine andere Zeit herrschte?
Staschinsky kehrte mit zwei Pappbechern Kaffee zurück, stellte sie auf dem Schreibtisch ab, umrundete ihn, setzte sich, griff sich einen der Becher, hob ihn und sagte feierlich: »Prost!«
Schlüter trank. Bitteres Zeug, dachte er, Beamtenkaffee.
»Wie hält man das in so einer Bude eigentlich aus?«, fragte er.
Staschinsky blickte sich um, als sei auch er das erste Mal hier, als würde er nicht seit Jahren hier sitzen, jeden langen Arbeitstag. Der Schreibtisch gelbes Leimholz aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts, wenn nicht älter, darauf ein Klotz von Bildschirm, ebenfalls aus dem letzten Jahrhundert, pissgelbe Gardinen, die so aussahen, als wären sie seit Kaisers Zeiten noch nie vorgezogen worden. Rotzgrüne Wände und hundekotbrauner Fußboden, rechts ein Bock, auf dem rote Akten lagen, die ihre Spuren an der Wand hinterlassen hatten. Aktenschwänze ragten schlapp heraus. Der Kalender, der an einem schiefen Nagel hing. Und mittendrin ein alternder KOK, der sich aus seiner Jugend eine Lederjacke mitgebracht hatte, die an einem Haken neben dem Kalender hing. Seine Frisur eine der letzten Vokuhilas von Hemmstedt, vorne kurz und hinten lang, über den Kragen wallend.
»Und das als Altrocker«, ergänzte Schlüter.
»Das weiß ich nicht.« Staschinsky seufzte.
»Das ist der Grund, warum ich kein Beamter geworden bin«, sagte Schlüter. »Damit ich nicht so ende.« Er musste niesen, dreimal hintereinander. »Und staubig ist es dazu!«
»Aufhören!«, rief Staschinsky. Er zog sich die Tastatur heran. »Kommen wir zur Sache.«
»Wieso schreibt ihr eigentlich alles selbst? Habt ihr keine Sekretärin?«, wollte Schlüter wissen.
Man sei eben seine eigene Sekretärin, erklärte Staschinsky, man verbringe Stunden des Tages mit der Schreiberei, nicht einmal einen Kurs im Zehnfingerschreiben habe er machen können, das werde nicht bezahlt, neuerdings lernten die Jungen das in der Ausbildung, die Alten dürften weiter im Terroristensystem schreiben, »mit Anschlägen ist zu rechnen«. Nicht auszudenken, wie viele Stellen im Lande mit schreibenden Polizisten besetzt seien anstatt mit Sekretärinnen, wie viel Geld man sparen und wie viel schneller man ermitteln könne, wäre man nicht dauernd blockiert durch die Schreiberei.
Als er fertig war, holte er tief Luft. »Grinsen Sie nicht so! Schluss! Ich kann meine Meckerei nicht mehr hören! Ich weiß, ich brauche einen flachen Bildschirm. Wollen Sie an meinem Freitod schuldig werden, wenn ich mich gleich aus dem Fenster werfe?«
Schlüter lehnte sich zurück und lachte. »Nein, nein. Was liegt an?«
Eine unbekannte Person sei tot in den Parkanlagen Hemmstedts gefunden worden, berichtete Staschinsky, in der Nähe des Burggrabens, der den alten Stadtkern umrundete und im Mittelalter einmal Teil einer Festungsanlage gewesen war, zwanzig Schritte entfernt vom nächsten Spazierweg, im dunklen Gestrüpp des Ufers, fünfzig Schritte entfernt vom italienischen Restaurant, in dem er, wie Staschinsky einflocht, neulich verkohltes Schaffleisch vorgesetzt bekommen habe, ungenießbar und teuer obendrein. Schlechtes müsse schließlich nicht billig sein. Das habe ihm fast das Date vermasselt.
Tote würden sonst immer von Joggern und Pilzesammlern gefunden werden, kam Staschinsky zur Sache, aber diesmal sei es ein Paddler gewesen, also quasi ein Wasserjogger, am Samstagmittag. Männliche Leiche. Todeszeitpunkt vermutlich zwischen Freitagnachmittag um fünf bis Samstagmorgen um zwei. Identität ungeklärt, keine Papiere gefunden, kein Handy, das habe wohl der Täter mitgenommen, denn der Tote sei durchsucht worden, das habe man an der Kleidung feststellen können. Sehr wahrscheinlich Ausländer, jedenfalls dunkle Haut und weitere Indizien. Keine Vermisstenanzeige, die zu dem Toten gepasst hätte.
»Und jetzt«, fuhr Staschinsky fort, »kommen wir zum Grund unseres fröhlichen Wiedersehens. Alles hat der Täter nämlich nicht gefunden. Keine Zeit. Ein Hilfeschrei. Und das Restaurant nebenan. Er musste damit rechnen, dass Leute kommen. Es war ja noch nicht dunkel …« Der Kommissar klappte einen Ordner auf und entnahm ihm eine Folie. »Das hier haben wir in der Innentasche seines Jacketts gefunden.« Er schob die Folie über den Tisch. »Kommt Ihnen das vielleicht bekannt vor?«
Der Zettel mochte von einem Notizblock stammen.
»Das ist meine Telefonnummer!« Schlüter schnappte nach Luft. Also doch, dachte er.
»Klar. War nur rhetorisch, die Frage. Wissen wir ja. Das kriegen wir grad noch raus. So dämlich sind wir nicht. Noch nicht.«
»Aber das ist nicht meine reguläre Nummer. Diese hier steht nicht im Telefonbuch. Das ist unsere Leitung, auf der wir nach draußen telefonieren.«
»Ist uns auch nicht neu.«
»Die muss einer aufgeschrieben haben, den ich schon mal angerufen habe, der hat meine Nummer auf seinem Display gesehen und abgeschrieben. Die steht nirgendwo.«
Schlüter fühlte, wie sein Blutdruck verrücktspielte. Er hatte plötzlich Schlieren vor den Augen, als würde er gleich die Besinnung verlieren.
»Wenn der das war …«, brachte er heraus.
Staschinskys Brauen führten einen Tanz auf.
Die Schlieren zogen sich zurück. Schlüter berichtete von dem mysteriösen Telefonat von Freitagabend, das so plötzlich unterbrochen worden war.
»Wann war das?«
Schlüter überlegte. »Neunzehn Uhr fünfunddreißig. Stand auf meinem Telefondisplay, als ich aufgelegt hatte.«
»Brav«, lobte Staschinsky. »Solche Zeugen wünschen wir uns. Bei uns ist nämlich ein Notruf eingegangen. Um neunzehn Uhr achtunddreißig am Freitagabend. Von einem der Gäste in diesem sogenannten Restaurant. Er habe einen Schrei gehört. Einen Hilferuf. Auf Englisch. ›Help!‹ Gibt ja noch aufmerksame Zeitgenossen. Ist etwas mit Ihnen?«
»So eine Scheiße«, murmelte Schlüter und klemmte seinen Kopf zwischen die Fäuste. Es sauste in seinem Schädel. Seine Hände zitterten.
Staschinsky verschwand hinter seinem Schreibtisch. Es raschelte. Als er wiederauftauchte, hielt er eine Flasche Kognak und ein schmieriges Glas in der Hand, schenkte ein und stellte es Schlüter unter die Nase.
»Notfalltropfen. Bitte.«
Schlüter goss den Kognak in die Kehle.
»Ein Mandant?«, fragte Staschinsky.
»Bestimmt nicht«, krächzte Schlüter. »Ich habe zurzeit keine Englisch sprechenden Mandanten.«
»Aber er wollte zu Ihnen.«
»Das schon. Vielleicht hat er die Nummer von einem meiner Mandanten. Oder von einem Gegner. Mitunter telefoniere ich auch mit Gegnern.«
»Hatte er einen Akzent?«
Der Anrufer habe ein Englisch gesprochen wie die Queen, wenn sie das neue Regierungsprogramm vortrug. Gefühlt akzentfrei. Jedenfalls habe er, Schlüter, diese Stimme nie zuvor gehört.
Staschinsky reckte die Schultern und nahm Schlüters Bericht auf, indem er laut vorlas, was er mit seinen zwei Fingern geschrieben hatte.
»Stimmt so?«, fragte er abschließend und begann mit den Korrekturen.
Schließlich druckte er das Geschriebene aus und ließ Schlüter unterschreiben.
»Verbindlichsten Dank«, sagte Staschinsky und erhob sich.
Dann setzte er sich wieder. »Weil wir so schön beisammensitzen. Ich frage Sie mal was. Sie wissen, dass ich das nicht darf.« Er öffnete den Ordner ein zweites Mal und zog eine weitere Klarsichtfolie hervor. »Hier. Dieser Zettel. Den haben wir im Gebüsch gefunden. Nass und zerrissen. Ein Fetzen nur. Sagt Ihnen das was?«
Ein Stück von einem groben Blatt Papier, zerknittert, etwa ein Fünftel eines normalen Bogens. Vergilbt. Und bedruckt. Mit merkwürdigen Zeichen.
Buchstaben einer fremden Schrift?
»Sehen aus wie kleine Krückstöcke. Kommt mir vor, als hätte ich so was schon einmal gesehen. Weiß ich aber nicht.«
»Na egal, das kriegen wir noch raus. Ich frage nachher gleich mal im Übersetzungsbüro nach, bei dem Demirkan, der hilft sicher weiter.« Dieses Dokument sei vermutlich dem Ermordeten zuzuordnen. Man werde es weiter untersuchen.
Staschinsky heftete die Klarsichtfolie wieder in seinen Ordner und wollte ihn zuklappen.
»Halt!«, rief Schlüter. »Was ist das?«
»Was?«
»Na, der Zettel da.«
Staschinsky folgte Schlüters Blick. »Ach, der. Ja. Haben wir in der äußeren Jackentasche gefunden, war nur eine Papierkugel. Wollen Sie das sehen?«
Er heftete die Folie aus und schob sie Schlüter hinüber. Schlüter sah ein längliches Stück Papier, oben und unten winzige Perforationszähne. Darauf eine fremde Schrift, eine andere, mikroskopisch klein, und oben mittig gesetzt und etwas größer ein Schriftzug, ungefähr so:
»Die Krümel da sind arabische Schrift, schätze ich. Deshalb hatte ich die originelle Idee, dass der Mann Ausländer ist. Äh, war.«
»Sieht wie eine Quittung aus«, bemerkte Schlüter. »Dem Format nach zu urteilen.«
»Die reinste Zettelwirtschaft«, meinte Staschinsky und verstaute die Hülle wieder in seinem Ordner.
Ein Zettel mit arabischer Schrift in der Tasche eines Toten, der akzentfreies Englisch gesprochen hatte. Und ein zweiter Zettel mit einer unbekannten Schrift. Ein dritter mit der Telefonnummer von Schlüters Büro.
»Ein Brite mit arabischen Wurzeln?«, mutmaßte Schlüter.
»Das kriegen wir raus.«
Das schien der Lieblingsspruch des Polizisten zu sein.
Staschinsky erhob sich. »Dann werden wir wohl ins Kühlhaus müssen«, erklärte er. »Haben Sie Zeit?«
»Muss ich?«, fragte Schlüter. Ob der Tote noch leben könnte, wenn ich sofort gesagt hätte, er soll kommen, dachte er. Er hat ins Telefon gekeucht, er war weggelaufen und aus der Puste, und er hat voller Angst auf meine Antwort gewartet, ist vielleicht sogar stehen geblieben, denn wer kann telefonieren, wenn er um sein Leben rennt? Einen Moment nur, während ich nach dem vermaledeiten Terminkalender gesucht und mich umständlich bis zum nächsten Montag durchgeblättert habe, und das nur, weil das verfluchte Leseband nicht eingelegt war – und dann hat ihn der Mörder erwischt. Zufälle, die über ein Leben entscheiden, Sekunden, die verstrichen waren, wertvolle Fluchtsekunden, die ein Bürokrat namens Schlüter verschwendet hatte. Denn die andere Stimme, das musste der Mörder gewesen sein. Der Gedanke war ein Schlag mit der Peitsche.
Das Glas war wieder voll.
Staschinsky wartete, bis Schlüter getrunken hatte. »Zur Sicherheit. Nicht auszuschließen, dass Sie ihn kennen. Der Mann liegt im Krematorium. Er kommt heute noch zur Gerichtsmedizin nach Hamburg.«
Schlüter hustete und erhob sich. Er kam sich so alt vor, wie er war. Der Alkohol verbreitete Wärme im Gedärm.
Staschinsky sah auf seine Uhr, ziemlich lange.
»Rechnen Sie aus, wann Sie in Pension gehen, oder was?«, krächzte Schlüter.
»Ich gebe Ihnen nie wieder Schnaps, Sie Sadist!«
»’tschuldigung. Ist Galgenhumor. Geben Sie mir noch einen.«
Staschinsky sah Schlüter prüfend an. »Können Sie dann noch gucken?«
»Und wie!«
Gemeinsam gingen sie am Pförtner vorbei, dessen Blick nicht weniger misstrauisch war als vorhin. Sie nahmen den Dienstwagen des Polizisten. Schlüter dachte, jetzt sehe ich aus wie verhaftet. Bin ja auch fast blau.
Sie fuhren durch verwinkelte kopfsteingepflasterte Wohnstraßen und landeten nach einigen Minuten auf der Bundesstraße, die Hamburg und Cuxhaven miteinander verband und Hemmstedt im Süden von den Feuchtwiesen des Flüsschens Aue trennte. Die Straße führte sie nach wenigen Kilometern in den Stadtteil jenseits der Bundesstraße, in dem die Gewerbe ihre Niederlassungen hatten. Baustoffhandel, Gartencenter, Baumarkt, Großhandel. Seit einigen Jahren gab es dort ein Krematorium, nicht weit von der ehemaligen Kaserne entfernt, die sich weiter im Süden an den Stadtteil anschloss und nun ein ziviles Wohngebiet geworden war. Hier hatte der Frieden Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet, damals, in der kurzen Zeit, als man geglaubt hatte, es wäre für immer. Ein findiger Unternehmer hatte gemerkt, dass die Feuerbestattung in Mode gekommen war, und das Geschäft mit dem Tod nicht den Hamburgern überlassen wollen.
»Wir haben da ein paar Fächer gemietet«, erklärte Staschinsky. »Falls mal jemand umgebracht wird.«
Er parkte den Wagen unter einer Reihe hoher Pappeln, sie stiegen aus und betraten das Gebäude aus dunklem Klinker. Vor dem Eingang standen beidseits der pietätgetönten Glastür zwei halbhohe tönerne Gefäße, in denen immergrünes Trauerkraut wuchs. Schlüter prüfte die Blätter im Vorbeigehen. Doch kein Plastik, dachte er.
Während Staschinsky die Formalitäten klärte, versuchte Schlüter, sein Seelenleben zu befrieden, den wirbelnden Gedanken Einhalt zu gebieten, damit sie Ruhe gaben für eine Minute oder zwei und sich der Staub setzte und sein Bewusstsein klar werden würde, gewappnet wäre für die Begegnung mit dem Tod. Der Tod, sagte man, ist der Lehrmeister des Lebens, aber niemand hat Lust, wieder Schüler zu werden. Das hat man hinter sich.
Sie betraten den Kühlraum. Ihnen schlug der kalte Hauch des Jenseits entgegen. Wie riechen Tote?, fragte sich Schlüter. Unterscheidet sich der Geruch von dem in einer Schlachterei? Die Toten lagen in ihren Särgen, die Deckel verschlossen, ungefähr zehn standen unregelmäßig hintereinander in dem Raum, man hatte sie hineingetragen und achtlos abgestellt. Hier war kein Fenster, das man öffnen konnte, um der Seele Freiheit zu geben, damit sie aus dem Verlies des Leibes fliehen konnte. Hier brannte keine Kerze und es gab kein Kreuz und keinen Trost. Staschinsky näherte sich einer metallenen Pritsche auf der linken Seite und lüpfte das Laken vom Gesicht des Toten.
»Kennen Sie den?«
Schlüter sah hinab auf ein junges Gesicht, aus dem eine markante Nase hervortrat, mit stumpfer Spitze und einer Kerbe im Übergang zur Stirn. Hautfarbe dunkel, fast bronzefarben. Glatt rasiert, erste dunkle Sprossen – vielleicht die Vorstufe der Mumifizierung, halblange schwarze Haare, ein paar graue darunter, halb geschlossene Augen, zwischen den Lidern ein mattes Blinzeln, der Mund leicht geöffnet, vielleicht vom letzten Atemzug, zwischen den Lippen zwei trockene Zähne.
Grau ist der Tod, nicht schwarz. Was unterscheidet einen Toten von einem Lebendigen? Wie verlässt das Leben den Leib? Wann entschließt sich das mutige Herz, dass es aufhören muss zu schlagen? Wie fühlt sich der letzte Atemzug an, wenn das Bewusstsein des eigenen Endes gewiss wird?
So jung, wohl keine dreißig Jahre alt, und so viele Pläne, und dann der Abgrund, das Nichts. Und was sind deine letzten Gedanken, bevor die Schwärze der ewigen Nacht dein Ich auslöscht? Oder bleibt es bestehen, da du es doch seit deinen frühen Tagen als einzigartig und ewig empfindest, den Kosmos deiner einmaligen Existenz?
»Dreizehnmal Kartoffeln pflanzen noch«, hatte Christa im Frühling gesagt, »dann ist Feierabend.« Und gelacht.
»Nein. Nie gesehen.«
Was hatte der Mann von Schlüter gewollt? Und was wäre passiert, wenn er, Schlüter, das Telefonat sofort angenommen hätte, anstatt nach dem Kalender zu suchen?
»Wie …?«
»Erstochen«, antwortete Staschinsky. »Augenscheinlich nach einem Kampf. Der zerrissene Zettel mit den Krückstöcken, um den könnte es gegangen sein. Er hat sich verteidigt, es gibt einen Schnitt in seinem linken Unterarm, er hat versucht, den Täter abzuwehren. Soll ich …?«
Schlüter wurde schwarz vor Augen. Er hielt sich am Handgriff der Bahre fest, bis er wieder sehen konnte, drehte sich um und verließ den Kühlraum. Als sie draußen waren, atmete er die frische Luft der lebendigen Natur ein und schaute sich um, als sähe er alles zum ersten Mal. Das Rauschen des Windes in den Ästen der Pappeln, die ersten gelben Kätzchen an den Weiden, ein Hauch von Grün war zu erahnen. April, der Monat, in dem alles erwachte und manche sterben mussten.
»Haben Sie einen Garten?«, fragte Schlüter.
»Nee, bloß nicht. Macht nur Arbeit.«
»Dann pflanzen Sie keine Kartoffeln?«
Staschinsky sah ihn von der Seite an.
»Ich brauche einen Kaffee«, sagte Schlüter. »Kommen Sie mit?«
Staschinsky nickte und sie stiegen in das Dienstfahrzeug. In der Nähe des Baumarkts gab es ein Café, gleich neben dem Fliesenmarkt. Sie holten sich jeder einen Pott Kaffee vom Tresen und setzten sich an einen der hohen Tische auf zwei Hocker. Nebenan verzehrten Handwerker in Latzhosen, den Zollstock am Schenkel, ihre Currywurst.
»Armenisch«, sagte Schlüter, nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte. »Das könnte armenische Schrift sein.«
Es ist bereits mitgeteilt worden, dass die Regierung beschlossen hat, alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten. Diejenigen, die sich diesem Befehl und diesem Beschluss widersetzen, verlieren ihre Staatsangehörigkeit. Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke, so tragisch die Mittel der Ausrottung auch sein mögen, ist, ohne auf die Gefühle des Gewissens zu hören, ihrem Dasein ein Ende zu machen.
Talaat Pascha, Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reichs und Führer der Jungtürken, am 15. September 1915