Читать книгу Das armenische Tor - Wilfried Eggers - Страница 13
8
Оглавление»Ich habe mich entschlossen, Strafanzeige zu erstatten«, sagte Anahid Bedrosian.
Es war, als sitze eine andere Frau vor Schlüter als neulich im April, vor fast einem Monat, bei ihrem ersten Besuch in seinem Büro. Zwar hatte sie noch dunkle Ringe unter den Augen, aber keinen Teig mehr im Gesicht, ihre Haare waren straff nach hinten gespannt und fielen ihr in einem Pferdeschwanz lang auf den Rücken. Und sie hockte nicht, sondern saß aufrecht auf dem Besucherstuhl. Vielleicht stimmte der Spruch, dass der Mai alles neu macht.
»Sie sind eine mutige Frau«, erwiderte Schlüter. »Und ich bin ein schlaues Kerlchen, weil ich Sie zu Püschel gefahren habe.«
Sie lachte. »Ich habe erkannt, dass ich wahrscheinlich mehr darunter leide, nichts zu tun, als eine Strafanzeige zu erstatten.«
»Tja«, machte Schlüter. »Aber es kann hart werden.«
Schlüter vertiefte seinen Vortrag über den Strafprozess, den er auf der gemeinsamen Fahrt nach Hamburg gehalten hatte. Falls man einen Täter finden würde, komme es darauf an, welchen Verteidiger sich der nehme. Zum Beispiel diesen Hümmelsee, der in karierten Hosen umherlaufe und sich im größten Auto von Hemmstedt vorzeige, auch wenn er mitunter die Inspektionskosten nicht bezahlen könne. Dass sich der Mann von manchen Mandantinnen die Kosten in Naturalien zahlen ließ, verschwieg Schlüter, davon hatte ihm eine Mandantin berichtet und darüber machten ein paar männliche Kollegen schmierige Witze. Oder der Kompagnon dieses Mannes, der mit hohen Absätzen und hochgegelten Haaren seiner Mickrigkeit aufzuhelfen suche. Diese beiden Justizhuren hätten eine perfide Art, die Opfer zu quälen, es könne sein, dass sie, Anahid Bedrosian, in Weißglut oder Verzweiflung gerate, jedenfalls aus der Fassung, und es sei schwer, normale Zeugin in eigener Sache zu bleiben. Der Verteidiger dürfe für den Angeklagten sprechen, während sie, die Zeugin, selbst aussagen müsse. Andererseits, bei diesem Verteidiger wisse das Gericht schon vor der Hauptverhandlung, dass die Anklage zutreffe. Und man dürfe hoffen, dass der Täter einen Verteidigerzuschlag bekäme.
»Richter sind auch nur Menschen«, schloss Schlüter seinen Vortrag und erlaubte sich ein mokantes Hüsteln.
»Und – diese Verteidiger: Haben die gar kein Gewissen?«, wollte Anahid Bedrosian wissen.
»Haben Juristen normalerweise nicht. Wo bei anderen das Gewissen sitzt, ist bei denen das Gesetzbuch. Sie vollziehen ja nur Gesetze. Da brauchen sie sich nicht mit einem Gewissen zu belasten. Hat Tradition. War bei den Nazis nicht anders. Massenhaft Juristen in Gestapo und SS. Ein Verteidiger redet sich damit raus, dass er dem Täter ja nur die Option auf Freispruch zu erhalten habe.«
»Den Tätern«, sagte Anahid Bedrosian.
»Wie bitte?«
»Es waren drei.« Die junge Frau blickte Schlüter gerade ins Gesicht.
»Mein Gott!«
»Wo der zu dem Zeitpunkt gewesen ist, frage ich mich auch. Nicht das erste Mal übrigens. Das fragen sich viele auf der Welt. Aber es gibt keine Antwort, ich weiß.«
»Scheiße.«
Mehr war dazu nicht zu sagen. Es blieb dabei, dass sich der Große Chef nicht um die Belange seiner Schöpflinge kümmerte. Da konnten sie noch so viel beten und jammern und glauben, sie würden geprüft oder bestraft, was auch immer, sie würden es nie herausbekommen. Es ergab keinen Sinn, warum Gott sein Ebenbild, seine Kinderchen, die er doch selbst in seiner Allmacht und Allfähigkeit und Unfehlbarkeit so fehlbar geschaffen hatte, ständig prüfen und strafen musste. Nein – die Wahrheit war: Er überließ sie dem blinden Schicksal, den Launen der Natur und dem Bösen, das in einem jeden von ihnen steckte. Er ließ es zu, dass Unschuldige starben, in Gaskammern, auf Folterbänken und Scheiterhaufen, vor Maschinengewehren und in Wüsten. Ihre Mörder dagegen, nachdem sie ihre Opfer vergast, erwürgt, verbrannt, ertränkt, vergewaltigt, verhungern lassen oder erschossen hatten, kamen ungeschoren davon, führten ein Leben in Saus und Braus und starben einen sanften Tod, hoch geachtet, mit gutem Gewissen und im Kreis einer trauernden Familie. Vielleicht war diese Unbegreiflichkeit der Grund dafür, dass der Mensch die Hölle erfunden hatte, damit er sich einbilden konnte, der Schuldige werde, wenn nicht auf Erden, wenigstens dort seine gerechte Strafe erhalten.
Nachdem sie zu Ende geschwiegen hatten, sagte Schlüter: »Ich brauche Ihre Aussage, am besten …«
Anahid Bedrosian beugte sich zu ihrer Handtasche und zog eine Klarsichtfolie hervor, befreite daraus drei Blatt Papier und schob sie Schlüter über den Tisch.
»Ihre Aussage?«
Überflüssige Frage.
Die Frau nickte. »Dafür habe ich drei Tage gebraucht. Drei scheißige Tage. Schicken Sie es ab. Die Kerle haben sich einen Teil von mir genommen, ich will den wiederhaben.«
»Sie sind eine mutige Frau.«
»Sagten Sie schon. Ich weiß nicht. Ich habe kaum geschlafen, viel geduscht und ein paarmal gekotzt.«
»Ich werde es jetzt durchlesen müssen. Und prüfen, ob alles drinsteht, was notwendig ist.«
Schlüter vermied es, den Text zu überfliegen, bevor er richtig las. Er begann vorn. Wort für Wort, Zeile für Zeile. Anahid Bedrosian schilderte, wie sie an jenem Freitagabend im April zu der Veranstaltung gegangen war, die dieser Söylemezoğlu organisiert hatte, um die Ausrottung des armenischen Volkes von Anatolien zu leugnen, sie schilderte den Verlauf der Veranstaltung, ihre Wortbeiträge, teilweise waren sie in wörtlicher Rede wiedergegeben. Und sie schilderte, was danach geschehen war.
Dann verließ ich die Veranstaltung, erstens, weil ich die Gegenwart dieses Mannes auf dem Podium und seiner Kumpane im Publikum nicht mehr ertragen konnte, zweitens, weil ich meine Aufgabe, die ich mir für diesen Abend gestellt hatte, als erfüllt ansah, und drittens, weil mir übel war und ich dringend an die frische Luft musste. Ich wollte nach Hause. Ich gehe immer durch die Stadt und die Auewiesen. Ich lege eine Skizze bei. Meinen Weg habe ich eingezeichnet. Es sind knapp zwei Kilometer und er dauert ungefähr zwanzig Minuten. In Höhe des Kultureum, ungefähr dort, wo die Aue in den Burggraben mündet, also zwischen Brücke und Bundesstraße, hörte ich ein Knirschen hinter mir. Ich sah mich um, bemerkte aber niemanden und vergaß es wieder.
An der Bundesstraße bog ich ab Richtung Auewiesen. Der Weg führt ein Stück an der Aue entlang. Es war dunkel. Als ich von der Aue abbiegen wollte, zu meiner Straße, in der ich wohne, hörte ich ein Knacken und im nächsten Augenblick lag ich auf dem Boden. Ich wurde von mehreren Fäusten gepackt und vom Weg fortgezogen hinter die Reihe von Büschen und Bäumen, die den Weg säumen. Und dann fingen sie an. Es waren drei Männer, das habe ich gesehen, weil es wegen des Mondlichts nicht stockdunkel war. Sie müssen mir aufgelauert haben, denn sie waren vor mir da. Sie müssen gewusst haben, wohin ich gehe. Dann konnte ich nichts mehr sehen, weil sie mir die Bluse hochzogen und mir übers Gesicht spannten, so fest, dass ich nicht atmen konnte und Panik hatte, dass ich ersticke. Deswegen konnte ich nicht schreien. Ich strampelte wie verrückt, aber ich wurde von ihren Fäusten niedergehalten. Einer sagte: »Das, was unsere Großväter begonnen haben, das werden wir vollenden!« Das sagte er auf Türkisch. Sie rissen mir die Schuhe ab und die Hose herunter. Sie hielten mich an den Haaren. Und dann …
Schlüter ließ sein Herz und das Papier sinken.
»Bitte«, sagte er. »Darf ich das später lesen? Es ist … Ich kann es nicht lesen, wenn Sie da sitzen. Ich muss es aber lesen. Ich mache das später, mit Ihrer Erlaubnis. Wenn ich meine, dass etwas Wichtiges fehlt, also vom reinen Geschehensablauf, sage ich es Ihnen und Sie können es ergänzen. Wenn nicht, schicke ich es ab, einverstanden?«
Anahid Bedrosian nickte. »Sind wir durch?«, fragte sie, als ginge es um einen Mietvertrag.
»Ja. Sind wir.«
Schlüter zog eine Vollmacht aus der Schublade, füllte sie aus mit Vorfall vom und dem Datum des Geschehens, setzte unten das Tagesdatum ein, drehte das Formular um und bat die Mandantin um Unterschrift.
Anahid Bedrosian studierte den Zettel, strich das Wort Vorfall durch und ersetzte es durch Vergewaltigung. Sie unterschrieb und schob den Zettel zurück.
»Ich bin für klare Worte«, sagte sie und fügte hinzu: »Wir Armenier sind für genaue Sprache. Das Wort ist das Einzige, das wir haben, um uns zu behaupten. Wir haben keine Gewehre und oft nicht einmal Gesetze. Nur das Wort.« Sie nahm ihre Handtasche und schickte sich an zu gehen, hielt jedoch inne. »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen? Kennen Sie sich aus im Ausländerrecht?«
»Nee.«
Seit der Sache mit Gül und Cengi, die fast zehn Jahre zurücklag, war es Schlüter gelungen, Ausländersachen zu meiden. Ein Rechtsgebiet, das spezielle Kenntnisse verlangte. Die gingen einem Zivilrechtsanwalt ab, der meistens Familiensachen bearbeitete.
»Ich bin nach einem Anwalt gefragt worden. Ein armenisches Schicksal. Ein anderes. Es ist dringend.«
Dringend. Wie oft hatte er dieses Wort schon gehört? Doch aus dem Mund dieser malträtierten Frau klang es nach dem, was es bedeutete.
»Berichten Sie. Bitte nehmen Sie wieder Platz.«
Eine Freundin habe sich an sie gewandt. Eine armenische Familie, die in Jesteburg lebe, brauche Hilfe. Ein Ehepaar, das mit ihrem Sohn vor gut zehn Jahren aus Aserbaidschan nach Deutschland geflohen sei, nachdem einer ihrer Söhne beim Militär zu Tode gekommen sei. Der zweite Sohn, mittlerweile erwachsen, habe mit einer deutschen Frau ein Kind. Der Asylantrag der Eltern sei rechtskräftig abgelehnt, der Aufenthalt stets nur befristet genehmigt worden, im Verlauf des letzten Jahres immer nur für einen Monat. Und neulich habe man den Vater verhaftet und in Abschiebehaft nach Hannover gebracht. Dort habe er sich nach drei Tagen erhängt.
»Was?«, fuhr Schlüter auf.
»Ja. Er hat sich erhängt. Mit dem Kabel seines Wasserkochers.«
»Fürchterlich.« Fast hätte Schlüter gefragt: Geht das? Er schüttelte den Kopf und stellte sich den Wasserkocher in seiner Teeküche vor. Konnte man sich mit so einer Schnur erhängen? Offensichtlich ja. Wie lange dauerte es, bis man ohnmächtig wurde? Würde man nach Luft ringen?
»Und warum?«, fragte er. »Ich meine, die Abschiebung, war das der Grund?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Anahid Bedrosian. »Ich glaube, er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Aber es liegt auf der Hand, finde ich. Die Familie ist völlig fertig, besonders die Frau. Sie hat jetzt Angst, dass sie auch abgeschoben wird, trotz dieser – Geschichte.«
»Ich habe davon null Ahnung«, warnte Schlüter.
Er hatte solche Anfragen stets an den Kollegen Muth verwiesen, der anständig war und den Leuten nichts vorgaukelte. Doch Muth war vor zwei Jahren in Rente gegangen und in die Lücke auf dem Paragrafenmarkt war der Kollege Kötherau gestoßen, der sich sonst als Strafverteidiger von Drogen- und Kleinkriminellen verdingte, deren Ausbeutung sich für Hümmelsee nicht lohnte. Hümmelsee wollte fettes Brot, keine Krumen. Er wollte lange Verfahren, die ihm ein kalkulierbares Staatseinkommen als Pflichtverteidiger boten.
Schlüter kannte Kötherau kaum, hatte allerdings von Genta, der kosovarischen Putzfrau, die zu Hause im Hollenflether Moor aushalf, nichts Gutes gehört. Kötherau ließ sich hohe Vorschüsse zahlen und kassierte außerdem Prozesskostenhilfe ab, was ungesetzlich und sogar strafbar war. Vorschüsse, die sich die abschiebungsbedrohten Mandanten von der Sozialhilfe, also vom Munde absparen mussten, denn selten hatte einer von ihnen eine Arbeitserlaubnis und konnte verdienen.
»Würden Sie sich die Papiere trotzdem einmal ansehen? Übrigens, das ist am selben Tag geschehen, als ich – vergewaltigt wurde.«
Sie umschrieb es nicht, sie wich dem Wort nicht aus.
»Moment«, rief Schlüter. »Ich bin ja so dumm!« Ihm war eingefallen, dass seine Kanzlei Schlüter & Martens hieß. Er drückte auf den Telefonknopf. Matthias meldete sich, Schlüter bat ihn, kurz vorbeizuschauen, und nach einer Minute stand er in der Tür, mit seinem exakt gescheitelten und über der Stirn dezent mit Gel veredelten Kurzhaar. Er sah zwar aus wie ein Klugscheißer im fünften Semester, doch er war tatsächlich ziemlich klug und in Wirklichkeit schon fünfunddreißig. Vielleicht verdankte er seine Erscheinung der Tatsache, dass er nicht rauchte, keinen Tropfen Alkohol trank und Optimist war.
»Was liegt an?«, fragte Matthias der Gerechte. Er hatte die Gabe, stets guter Laune zu sein, trotz seines fanatischen Gerechtigkeitssinns, der, so wie die Welt nun einmal war, häufig zu Enttäuschung und dem Gefühl von Ohnmacht führen musste, ganz abgesehen von dem Ärger, den verlorene Prozesse einbrachten. Wer Rechtsanwalt war, musste verlieren können, denn das Blatt, mit dem man spielte, hatten stets andere gemischt.
»Wir müssen dir die Laune verderben«, sagte Schlüter. Er berichtete. Martens’ Gesicht wurde ernst. Das stand ihm nicht schlecht, denn jetzt sah er aus wie im neunten Semester. Vielleicht würde er es nach ein paar verlorenen Prozessen so weit bringen, dass er so alt aussah, wie er war.
»Seit mehr als zehn Jahren in Deutschland?«, vergewisserte sich der Gerechte.
Anahid Bedrosian nickte.
»Und nichts Böses getan?«
Sie schüttelte den Kopf.
Martens stand mit seinen bunten Schuhen in der Tür. Die hatte er sich in Hamburg gekauft, hatte er berichtet. Grün, blau und rot. ›Papageienschuhe‹ hatte Schlüter sie genannt, um den Kollegen ein wenig zu ärgern. Angela finde sie »geil«, hatte Martens erwidert.
»Und woher kommen die?«, fragte Martens und stellte sich ins Zimmer.
»Aus Nachitschewan. Aus Julfa«, klärte Anahid Bedrosian auf, als hätte es sich um ein Land wie Dänemark und eine Stadt wie Kolding gehandelt.
»Hä? Wo ist das denn?«, wunderte sich der Gerechte und wippte auf seinen Buntschuhen. »Das klingt wie Transnistrien oder Kabardino-Balkarien und riecht nach Gesetzlosigkeit.«
»Richtig. Auf jeden Fall, was die Armenier dort betrifft. Das gehört zu Aserbaidschan. Aber die Einzelheiten … Das führt jetzt vielleicht …«
»Wo liegt das?«, insistierte Martens. »Zeig mir das mal«, wandte er sich Schlüter zu.
Schlüter tippte den Namen des Landes ein. »Da«, sagte er und drehte den Bildschirm so, dass die anderen sehen konnten.
Martens beugte den Kopf. »Hab ich nie gehört.«
»Ich auch nicht.« Schlüter drückte auf die Satellitenfunktion.
Ein schmaler Landstrich, gebirgig und eingeklemmt zwischen dem Iran und Armenien, mit einem Flaschenhals Richtung Türkei.
»Nachitschewan gehört zu Aserbaidschan«, erläuterte Anahid Bedrosian. »Eine Exklave. Da ist Jerewan.« Sie zeigte auf den Monitor. »Armenien. Dahin wollten sie den Mann abschieben. Allein.«
»Nach Armenien? Obwohl er aus Aserbaidschan kam? Da stimmt was nicht! Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, legte Martens los. »Zehn Jahre und immer noch keine Klarheit? Und dann Selbstmord? Was machen die Behördenfritzen mit den Menschen? Natürlich müssen die anderen hierbleiben, was sonst! Ich übernehme den Fall!«
Anahid Bedrosian warf einen erstaunten Blick auf Schlüter und einen dankbaren auf Martens, der an seinen Papageienschuhen kleben blieb.
»Na ja«, meinte Schlüter. »Ich rege mich eher im Stillen auf, ich …«
»Das muss raus!«, rief Matthias der Gerechte. »Selbstmord, Herr Kollege!«
Anahid Bedrosian winkte ab. Das sei unwichtig, sagte sie, ob und wie sich einer aufrege. Sie versprach, die Papiere der armenischen Familie aus Jesteburg so schnell wie möglich zu besorgen und Herrn Martens vorzulegen. Sie würde dafür sorgen, dass sich die Leute meldeten.
»Ich hol ’nen Kaffee«, verkündete Martens. »Wollen Sie auch einen?«
Sie nickte, Martens verschwand.
»Netter Kollege, den Sie da haben.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Schlüter. »Entschuldigung, dass ich … Gibt es Armenier in Täbris? Das liegt im Iran.«
»Ich weiß, wo das ist«, antwortete Anahid Bedrosian. »Natürlich gibt es dort Armenier. Seit Jahrhunderten.« Das Gebiet sei seit Urzeiten, ebenso wie ganz Anatolien, Siedlungsgebiet der Armenier gewesen, nicht nur der Kaukasus. Immerhin habe es einmal ein großarmenisches Reich gegeben, vom Schwarzen bis zum Mittelmeer. Viele Bauwerke würden im Iran von alter armenischer Kultur und Baukunst zeugen. »Haben Sie einmal etwas von der Thaddäus-Klosterkirche gehört? Man nennt sie die ›Schwarze Kirche‹.«
Schlüter schüttelte den Kopf. Wie sollte er?
»Das liegt im nordwestlichen Zipfel vom Iran.« Sie stand auf und deutete auf einen Fleck unterhalb von Nachitschewan. »Da ungefähr ist es. Das ist die älteste Kirche der Christenheit, die allererste in der Welt. Ich war mal dort«, sagte sie stolz und lächelte das erste Mal. So große schöne Augen. Diese Kirche, berichtete sie, die allererste, auf deren Ruinen die heutige stehe, sei schon im Jahr 68 errichtet worden, zu Ehren des Apostels Thaddäus, der dort als Märtyrer gestorben sei, ermordet wegen seines Glaubens, wie so viele nach ihm. Diese Kirche sei ein Wallfahrtsort nicht nur für die Armenier im Iran, sondern auch für die aus der Türkei, aus Armenien und der ganzen Welt, manche kämen sogar von Kalifornien her, wie die Tochter des verstorbenen Herrn Hakobyan. Die habe sie da kennengelernt, seither stünden sie in Verbindung, von ihr sei sie um Hilfe gebeten worden. Jedes Jahr finde in den Bergen des nordwestlichen Iran und nur einige Fahrstunden von Täbris entfernt ein Festival statt, drei Tage lang. Essen, trinken, feiern, Gottesdienst, man tanze und lache zusammen, Buden und Zelte rings um das Kloster, wie auf einem lustigen Jahrmarkt. Viele ließen sich taufen, denn es heiße, wer in der Schwarzen Kirche des Thaddäus getauft sei, werde besonders festen Glaubens. Das sei sehr bewegend, besonders, wenn sich ein Erwachsener taufen lasse. »Und wenn ich einmal Kinder habe, werde ich versuchen, sie dort taufen zu lassen.«
Taufen im Iran?, wunderte sich Schlüter. Wie sei das denn möglich?
»Die Armenier haben es im Iran jedenfalls besser als in der Türkei. Sie haben ihre Kirchen. Sie haben ein Kreuz obendrauf und die Glocken läuten zum Gottesdienst. Sie können ihren Glauben leben, wenn sie wollen.«
»Ich dachte, die Mullahs würden …«
»Das weiß keiner. In welcher Kirche sind Sie?«
»In keiner«, erwiderte Schlüter. Irgendwie kam er sich klein vor bei dieser Antwort. Es klang wie ein Persönlichkeitsmakel.
»Das können Sie sich leisten? Und weshalb haben Sie mich nach Täbris gefragt? Kennen Sie dort jemanden?«
»Äh, nein«, gab er zurück.
»Mich hat noch nie jemand auf Täbris angesprochen. Weshalb fragen Sie?«
Schlüter zögerte. Jetzt kehrte Martens mit drei Tassen zurück und schob die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Tee für Schlüter und zwei Tassen Kaffee. Er setzte sich auf einen der Besucherstühle.
»Wir reden über … über den Iran«, klärte Schlüter seinen Kompagnon auf. »Wo wir nun gerade Geografiestunde machen.«
Dann fragte er die Mandantin, ob sie Zeitung gelesen habe. Hatte sie nicht. Sie lese keine deutschen Zeitungen. Nur türkische, arabische und armenische, mitunter englische, für deutsche habe sie keine Zeit. Und da sie, »seit ich vergewaltigt worden bin«, krankgeschrieben sei, habe sie auch keine Lust dazu. Schlüter berichtete von dem Mord an dem Unbekannten, den man einen Tag später in der Nähe des Burggrabens gefunden habe. Ja, davon habe sie gehört, eine Kollegin habe ihr davon am Telefon erzählt und sie habe gemerkt, dass dieser Mord an jenem Abend geschehen sein müsse.
»Der Mann hatte eine Quittung in der Tasche, von einem Café in Täbris. Und man hat einen Zettel im Gebüsch gefunden, den man ihm zuordnet.«
Die Augen der Frau waren noch größer geworden. Schlüter zog die Schublade seines Schreibtischs auf und legte die Kopie des Zettels darauf, auf dem die armenischen Namen standen.
»Aber das ist ja …!«
»… armenische Schrift.«
Sie las und murmelte die Namen wie ein Gebet.
»Er konnte nicht richtig Armenisch«, sagte sie. »Es sind Fehler drin. Er hat Buchstaben verwechselt.«
»Oder er war ein Legastheniker.«
»Nein. Es sieht so aus, als sei er nur ungeübt gewesen.«
Schlüter fragte sie, ob man in der armenischen Szene über den Mann gesprochen habe, ob er dort vielleicht bekannt sei. Anahid Bedrosian schüttelte den Kopf. Sie kenne alle Armenier in Hemmstedt. Das seien nicht viele. Genau genommen nur zwei, nämlich sie selbst und eine weitere Frau, die mit einem Kurden verheiratet sei und seit Langem in Hemmstedt lebe. Dann eher Hamburg, sie werde sich dort umhören. Der Ehemann ihrer Freundin könne nicht das Opfer sein, dann hätte die Witwe sie sofort informiert.
»Der Mann wollte zu mir.«
»Und was wollte er von Ihnen?«
»Das ist es ja! Wir wissen es nicht. Er wollte mir vielleicht diesen Zettel mit den Namen geben. Aber was bedeuten die Namen? Welchen Auftrag wollte er mir geben? Damit könnte man dem Täter auf die Spur kommen.«
»Ich rieche, das sind Menschen, die leben nicht mehr«, flüsterte Anahid Bedrosian. »Schon lange nicht mehr. Es gibt nur noch wenige Armenier in der Türkei! Und die meisten leben in Istanbul, in der Anonymität der Großstadt. Das sind Namen von Menschen, die 1915 ermordet wurden. Und dann«, fügte sie nachdenklich hinzu, »dieses letzte Wort. Wenn es ›Leben‹ bedeutet, was sagt es uns?«
»Wenn wir das wüssten«, sinnierte Martens, der genau zugehört hatte, »dann wären wir ein Stück weiter.«
»Was macht übrigens die Tochter in Kalifornien?«, erkundigte sich Schlüter.
»Rechtsanwältin. Sie hat es geschafft«, antwortete Anahid Bedrosian.
»Kollegin«, bemerkte Martens. Er nahm seine Tasse. »Entschuldigen Sie, ich muss noch zwei Klagen abdiktieren, die sollten heute raus, das habe ich den Mandanten versprochen.« Er war produktiv und nutzte seine Zeit.
»Feine Schuhe haben Sie.« Anahid Bedrosian lächelte.
»Siehste«, triumphierte Martens. »Sag ich doch.«
Als sie wieder allein waren, fragte Schlüter: »Können Sie eigentlich vorübergehend woanders wohnen, wenn ich die Strafanzeige abgeschickt habe?« Er dachte an den letzten Satz, den der unbekannte Diskutant der Mandantin über das Netz geschrieben hatte. Wenn der …
»Ich war schon die ganze Zeit bei einer Freundin. Ich will nicht auf der Flucht sein!«
»Aber es könnte …«