Читать книгу Das armenische Tor - Wilfried Eggers - Страница 7
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ОглавлениеPeter Schlüter, von manchen seiner Kollegen auch ›der Fuchs‹ genannt, hatte eigentlich nachmittags freimachen wollen, um etwas früher ins Wochenende zu gehen, aber dann hatte er zugelassen, dass diese späte Beurkundung in seinem Terminkalender stand. Die Mandanten hatten sich gerade verabschiedet. Er griff zur Computermaus, um den Rechner auf seinem Schreibtisch herunterzufahren, besann sich jedoch anders, klappte die Akte wieder auf und zog die frisch unterschriebene Urkunde hervor. Besser, dachte er, ich berichtige den Text um meine handschriftlichen Änderungen. So könnte Angela die Urkunde am Montagmorgen gleich ausfertigen, ohne seine Klaue entziffern zu müssen. Sie würde neben jede Änderung einen Stempel machen und penibel die Leerstellen eintragen: Fünf Worte gestrichen, zehn Worte ergänzt, Zahl geändert, und er würde jeweils seine Unterschrift daruntersetzen. Die Urkunde würde in die Sammlung geheftet werden und für alle Zeit so bleiben, wie sie war.
Auf diese Minuten kam es nicht an. Schlüter hatte einen schönen Kaufvertrag beurkundet, mit Grundschuld. Alle waren glücklich. Der Verkäufer, weil er sein Haus los war, der Käufer, weil er es bekommen hatte, und der Notar Schlüter, weil er anstrengungslos einen Tausender verdient hatte. Selbst wenn sich die Sache etwas hingezogen hatte.
Die Lebensverhältnisse hatten sich geändert, global wie privat. ›Matthias der Gerechte‹ hatte Schlüters helles Arbeitszimmer bezogen. Schlüter selbst war in den meist verwaisten Besprechungsraum ausgewichen, ein bescheidenes Zimmerchen, das nach hinten hinausging, nur ein kleines Fenster hatte und deshalb recht dunkel war, sodass er die Lampe über seinem abgewetzten Schreibtisch angeknipst hatte. Matthias der Gerechte hieß bürgerlich Martens. Schlüter hatte ihn so getauft, weil der Mann noch an die Gerechtigkeit und die Weisheit der blinden Justitia glaubte. Diesen Glauben wollte er ihm nicht nehmen, Matthias würde ihn auch ohne die weisen Sprüche seines alternden Seniors verlieren. Eigentlich hatte der junge Mann Schlüter nur während Krankheit und Rekonvaleszenz nach dem Drama mit Horst Kurbjuweit vertreten sollen, aber er hatte sich so gut mit Angela, Schlüters Sekretärin, vertragen, dass sie verlangt hatte, den Neuen nicht wieder gehen zu lassen, eher werde sie selbst gehen, zumal er, Schlüter, über sechzig sei und allmählich das Recht habe, kürzerzutreten. Wenn nicht die Pflicht. »Irgendwann müssen Sie ja doch weniger machen, da hilft ja nun mal gar nichts.«
In der Tat. Als Christa, Schlüters Lebens- und Ehegefährtin seit frühen Studententagen, in die gleiche Kerbe gehackt hatte, war sein Holz morsch geworden und seither arbeitete er nur an vier Tagen in der Woche. Wenn er wollte, was meistens der Fall war. Und deswegen verwand er es, sein altgewohntes Arbeitszimmer zu verlassen um des jungen Kollegen willen, der Sonnenlicht gebrauchen konnte, denn er war einige Jahre Kellerknecht im Büro Nordhausen & Partner gewesen und hatte viele dunkle Jahre unausgesetzter Paragrafengrübelei vor sich. Jugend brauchte Licht. Matthias hatte gehofft, dort Sozius zu werden, die beiden Alten gönnten jedoch niemandem dieses Privileg, sie wollten alles Geld für sich. Nach kurzer Probezeit hatte Schlüter mit dem Gerechten einen Vertrag gemacht. Schlüter würde das Recht haben, in seinem Büro zu arbeiten, bis er seinen Notarstempel würde abgeben müssen, nämlich mit Vollendung des siebzigsten Lebensjahrs. Wenn er in das Lebensalter der Greisen eintrat. Und Matthias der Gerechte würde Schlüter vor die Tür setzen dürfen. Wenn er wollte.
Schlüter war kein Einzelkämpfer mehr. Das Büro im dritten Stock eines historischen Hauses am Alten Hafen Hemmstedts hieß jetzt Schlüter & Martens, Rechtsanwälte und Notar. Notar war der Gerechte nämlich noch nicht. Er musste warten, bis einer von den alten Notaren im Amtsgerichtsbezirk siebzig geworden war, seinen Stempel hatte abgeben müssen und eine neue Stelle ausgeschrieben war, auf die er sich bewerben konnte, nach bestandener Prüfung.
Angela war längst fort und den Gerechten hatte Schlüter schon vor drei Stunden zu seiner Herzdame nach Hamburg fortgeschickt, damit er nicht immerfort an die Arbeit denken musste, was auf Dauer zu schlechten Ergebnissen führte, wie jedermann wusste – abgesehen von den Unternehmensberatern.
Seit vielen Jahren hatte Schlüter einen Rechner auf dem Schreibtisch. Er hatte sich daran gewöhnt, die Urkunden selbst vorzubereiten, die neu erlernte Fertigkeit machte Spaß und sparte zudem Zeit, auch wenn er es nie lernen würde, mit mehr als drei Fingern zu tippen.
Er beeilte sich nicht und als er fertig war und den Rechner herunterfuhr, war es neunzehn Uhr dreißig. Viel zu spät, das Wochenende zu beginnen. Nachdem der Bildschirm blind geworden war, zog Schlüter den Stecker aus der Wand. Man war korrekt und sparte Strom. Es war das Zeitalter der Freiheit angebrochen und Freiheit war, nach Kant, Einsicht in die Notwendigkeiten. Und das bedeutete Verzicht und Selbstbeschränkung, was wiederum zur logischen, aber paradoxen Feststellung führte, dass die Freiheit des Menschen wuchs, je weniger er sich gönnte. Zuletzt würde er in einer Tonne wohnen und nur noch einen Wunsch haben: dass niemand einen Schatten darauf warf.
Schlüter schob seinen Schreibtischstuhl zurück, drückte den Dübel an der Armstütze in die Rückenlehne, wobei er den Gedanken an eine Reparatur beim Tischler wieder vertagte, und stand auf, reckte sich und genoss es, wie er allmählich ruhig wurde und das Gesumme in den Ohren nachließ. Er prüfte mit dem Zeigefinger den Puls an der Stirn. Ruhiger Herzschlag, guter Rhythmus. Seit der Sache mit Horst Kurbjuweit litt Schlüter an Störungen des Herzrhythmus, eine Konsequenz der Angst.
Schlüter zog tief die Luft ein und ließ die Schultern sacken. Feierabend! Ein schöner Abend würde es werden. Der heilige Freitagabend, an dem man sich nichts anderes vornahm als ein gemütliches Abendessen, vielleicht sogar auf der Terrasse. Wenn es warm genug war, denn hier, nicht weit von der Nordsee, machte der Wind später Feierabend als anderswo. Bestimmt hatte etwas Feldsalat im Garten den Winter überstanden und blühte noch nicht. Christa würde ein Baguette backen. Dazu ein gegrillter Ziegenkäse und eine Flasche kalten Riesling. Zum Nachtisch einen Espresso, ein Stück Schokolade und einen Slibowitz aus der Flasche, die Genta, die Putzfrau aus dem Kosovo, neulich mitgebracht hatte. Für Christa eine Filterlose. Sie würden ein Windlicht anzünden und die Woche ausklingen lassen. Kater Gustav, der seinen Namen vom Vorbesitzer des Hauses geerbt hatte, würde auf Jagd sein und sich zwischendurch Streicheleinheiten abholen. Vielleicht würden sie den Kauz lautlos durch die Dämmerung streichen sehen oder sogar, den Kopf im Nacken, dem geheimnisvollen Flug der Fledermaus folgen. Der weite Blick ins Moor, wie es sich im Frühlingsdunkel verbarg.
Ach, herrliche Zeit! Es war doch gut gewesen, nach Jahrzehnten im engen Hemmstedter Gerbergang aufs Land zu ziehen. Seit acht Jahren wohnten sie im Hollenflether Moor. Auf dem Land war die Zeit ein Wanderer mit gleichmäßigem Schritt, sie kannte keine Sekunden und keine Minuten, sondern nur Vormittage, Nachmittage, Abende und Nächte. In Hemmstedt aber, das kaum ›Stadt‹ zu nennen war, besonders bei der Arbeit in der Kanzlei, kam die Zeit zu keinem konstanten Gang: Sie machte einen Kopfsprung drei Tage voraus, stürzte nach einer Vollbremsung in die Gegenwart zurück und dann war sie schon wieder nach morgen gestolpert, bevor sie aus der Zukunft anbrauste. Wie sollte man unter diesen Umständen einen normalen Blutdruck haben?
Schlüter strich sich über die Reste seiner grauen Haare.
Jetzt einen letzten Blick auf den Terminkalender im Schreibzimmer, damit er wusste, was ihn in der nächsten Woche erwartete. Und dann ab. Schlüter ging in den Flur und die wenigen Schritte zu Angelas Reich. Wo war der Terminkalender?
Das Telefon klingelte. Es ist Feierabend, Leute! Seit mindestens zweieinhalb Stunden! Es ist Wochenende! Freitagabend! Der Arzt hatte vor zwei Jahren den Blutdruck für zu hoch attestiert und Pillen verordnet, Schlüter hatte Vorsätze gefasst, um, wie der Doktor gesagt hatte, »seine Lebenserwartung zu erreichen«. Einer davon hieß, nach Feierabend das Telefon zu ignorieren und entbehrlich zu sein. Schlüter zögerte. Vielleicht Christa, die ihn bitten wollte, ein Baguette mitzubringen, weil sie nicht dazu gekommen war, eines zu backen? Mit langem Hals näherte er sich dem Telefon. Das Display zeigte eine Handynummer. Also nicht Christa. Aber zu spät. Schlüter schaffte es nicht, den Blick vom Telefon zu lösen. Es klingelte. Dreimal, viermal. Einer, dem das Herz brannte, die Galle überkochte oder die Nieren kalt wurden? Schlüters Puls beschleunigte sich, gleich würde sich der Anrufbeantworter einschalten, wenn nicht …
Er nahm ab. »Schlüter.«
»Mister Schlüter, thanks God in heaven I reach you.« Eine aufgeregte männliche Stimme. »I urgently need your help. May I visit you right away …?« Der Mann war aus der Puste.
Schlüter kramte sein verrostetes Englisch hervor und erklärte dem Anrufer, dass er gerade im Begriff sei, Feierabend zu machen, ob es möglich sei, dass man sich am Montag zusammensetze, gern auch vormittags. Er werde den Terminkalender holen und sei gleich wieder am Apparat.
»I need to …«, hörte Schlüter noch, aber da hatte er schon den Hörer auf den Tisch gelegt und machte eine Runde durch das Schreibzimmer. Wo war der verdammte Terminkalender? Auf dem Posttisch lag er nicht. Vielleicht auf dem Aktenschrank? Endlich entdeckte er ihn unter einem Stapel Akten, zog ihn heraus, zog am Leseband, klappte ihn auf, blätterte zu Montag, dem 16. April, griff wieder zum Hörer und räusperte sich.
»You hear me?«
Es raschelte und knisterte in der Leitung. Schlüter hörte eine andere Stimme, einen unterdrückten Ruf, in einer fremden Sprache. Eine wütende Stimme – und einen Schrei.
Dann war die Leitung tot.
»Scheiße!«
Schlüter warf den Hörer auf die Gabel und starrte das Telefon an. Das Display zeigte neunzehn Uhr fünfunddreißig. Den ganzen Tag und die ganze Woche hatte er hier im Büro seine Prostata breit gesessen! Hatte dieser Kerl etwa nicht genug Gelegenheit gehabt anzurufen? Und kamen nicht die Obereiligen stets mit Angelegenheiten, die entweder überhaupt nicht eilig waren, die man bequem nächste oder gar übernächste Woche erledigen konnte – oder bei denen der Zug längst abgefahren war?
Das Telefon blieb tot.
Schlüter eilte in sein Zimmer, warf die graue Jacke über sein graues Jackett und floh vor dem Telefon, diesem unberechenbaren Spaßverderber. Er drückte die Tür hinter sich zu, schloss ab und ging die Treppe hinunter, so schnell, wie es sein unregelmäßiger Puls erlaubte. Er verließ das Haus am Alten Hafen, achtete nicht auf das trübe Wasser und das Schiffchen, das man der Touristen wegen dort eingesperrt hatte, und ging fort in Richtung Parkplatz, ohne sich umzusehen. Nie wieder würde er nach Feierabend ans Telefon gehen.
Aber es war zu spät für solche Vorsätze. Die Würfel waren gefallen.