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ОглавлениеSchlüter mühte sich, die Unterhaltssache Rimmel gegen Rimmel in den Griff zu kriegen, während der Gerechte zum Termin bei Gericht war. Heute war Gerichtstag, am Mittwoch fanden die meisten Verhandlungen statt. Er konnte sich nicht konzentrieren, der gestrige Tag hatte zu lange gedauert. Er war erst abends gegen zehn Uhr von Hamburg nach Hause zurückgekehrt. Nachmittags würde er freimachen. Hoffentlich verlangte Christa nicht, dass er ihr im Garten half. So würde er vielleicht zum Lesen kommen. Er würde seine abseitige Lektüre fortsetzen und Knut Hamsuns Buch studieren, das der Mann als über Achtzigjähriger im Knast geschrieben hatte, nachdem er wegen Hochverrats verurteilt worden war. Er hatte die Nazis toll gefunden. Hamsun war der Beweis, dass Schriftsteller gleichzeitig dumm und genial sein können, sehr interessant.
Das Telefon klingelte, Angela stellte Staschinsky durch und der fragte, ob er vorbeikommen könne, es gebe neue Erkenntnisse. Schlüter sagte zu.
Der Tag war gelaufen. Schlüters Elan, die Klageerwiderung zu diktieren, erlahmte schlagartig. Ich muss aufhören, Familiensachen zu machen, dachte er. Es gab so viel Elend unter den Dächern Hemmstedts und Umgebung. Unter jedem Dach ein Ach, so hieß es. Wo liegen Himmel und Hölle am dichtesten beieinander? In der Familie. Liebe und Hass. Himmelhoch, abgrundtief. Dazwischen nur ein dünner Vorhang, durchsichtig natürlich. Jeder Tag bot die Gelegenheit zum Wechsel. Familiensachen zogen ihn tief hinunter. Aber was blieb ihm übrig, nachdem er sich schon seit vielen Jahren weigerte, Strafverteidigungen zu übernehmen? Nicht dass er etwas gegen Straftäter hatte oder, wenn man vorurteilsfrei denken wollte, solche, die einer Straftat verdächtig waren. Das waren, wie er gelernt hatte, Menschen wie du und ich. Nur hatten sie in einem unbedachten Moment die falsche Entscheidung getroffen oder sich nicht unter Kontrolle gehabt. Wer konnte von sich behaupten, er hätte sich stets unter Kontrolle? Mörder konnten sehr nett sein. Besonders die mit der kalten Scheidung. Die ihre Frau getötet hatten. Auf dem Gebiet brach das Patriarchat durch. Der Grund allen Übels, die ungehorsame Frau, sie war beseitigt, es konnte Frieden einkehren. Der Mann hatte seine Ruhe, und was will ein Mann mehr? Er bereute natürlich, wie es sich gehörte im christlichen Abendland. Das nächste Mal würde er eine bessere nehmen. Die anderen aber, die noch im Streit lebten und den Menschen, den sie hassten, vorerst weiter ertrugen, waren nicht milde, sondern ungeduldig, aggressiv, rechthaberisch und kleinlich.
»Damit soll sie nicht durchkommen. Ich sehe nicht ein, dass …«
Und Herr Rimmel war partout nicht bereit, der Frau, die ihm nicht mehr zu Willen war, den ihr zustehenden Trennungsunterhalt zu zahlen. Und natürlich war er der betrogenste Ehemann der Welt, einzigartig und unwiederholbar, er trug das längste Horn auf seiner Stirn. Herr Rimmel arbeitete in dem großen amerikanischen Chemiekonzern, der mit seiner Filiale an der Elbe das einst freundliche Gesicht von Hemmstedt in einen Hintern verwandelt hatte, aus dem die Abgase in den Himmel stiegen. Obwohl mit den einfließenden Gewerbesteuern die Altstadt renoviert worden war.
Die Welt war voller Rimmels.
Schlüter warf die Akte zurück auf seinen Sorgenstapel und stand auf, um sich einen Tee zu kochen, während er sich fragte, ob das, was er heute im Büro tat, wirklich sein freier Wille war.
»Wollen Sie auch einen?«, fragte er Staschinsky, als der eingetroffen war.
»Nee, danke. Aber wenn Sie Kaffee haben …«
»Beamtenkaffee oder einen, den man trinken kann?«
»Quälen Sie mich nicht!«
Schlüter klingelte bei Angela durch und bat sie, für Kaffee zu sorgen. Frischen Kaffee hatte der Polizist wahrscheinlich seit Monaten nicht getrunken, nur diese Behördenplörre. Er selbst würde Tee trinken, Ostfriesentee, wie immer, aus einer großen Tasse, in die man die Nase stecken konnte.
»Was gibt’s Neues?«, erkundigte sich Schlüter.
»Nichts. Wir wissen immer noch nicht, wer der Tote ist. Keine Vermisstenmeldung. Als hätte er nie existiert.«
»Mhm«, machte Schlüter. »Haben Sie in England nachgefragt?«
»Klar. Nichts.« Staschinsky zog eine Klarsichtfolie aus der Mappe. »Aber sehen Sie hier. Ich habe eine Kopie machen lassen. Vergrößert. Und da ist die Übersetzung. Die Krückstöcke sind entziffert. Gratuliere, das ist tatsächlich Armenisch.« Er schob zwei Blätter über den Schreibtisch.
Schlüter las:
35. Krikoris Berberjan, Yozgat
36. Hagop Svazlian, Van
37. Mikajel Jardemjan, Sebastia
38. Sarkis Vartanian, Al Tevle
39. Harutjun Chajacanjan, Harput
0. Torkom Incerabejan, Sancak
Leben
»Eine Namensliste und Orte. Kenne ich nicht alle.«
Staschinsky nickte. »Blöd sind wir nicht. Immerhin haben wir zwei herausbekommen, Yozgat und Van mit V. Städte in der Türkei. Die anderen nicht: Sebastia, Al Tevle, Harput und Sancak. Wahrscheinlich Orte, die nirgendwo auf den Karten stehen.«
»Harput, das ist heute Elazığ. Große Stadt, das. Halbe Million Einwohner. Türken, Kurden, hauptsächlich Zaza.«
»Zaza? Ach, ich weiß, Sie meinen diese Leute, die …«
»Genau. Aber das ist egal hier. Die beiden anderen sind wahrscheinlich Namen, die es nicht mehr gibt.«
Schlüter erklärte dem Polizisten, dass in der Türkei alle Orte umbenannt worden seien, eine der vielen Maßnahmen von Herrn Atatürk zur Zerstörung der Kultur des Landes, der Kurden, Zaza und aller anderen Minderheiten. Ein Land, eine Sprache, eine Religion, eine Rasse. Allen Menschen, die noch keinen Nachnamen hatten, und das waren die meisten, wurde ab 1934 ein neuer türkischer Nachname verordnet.
»Sie wurden regelrecht umgetürkt. Zum Beispiel Öztürk, das bedeutet so viel wie reinrassiger Türke, wahrer Türke. Ein Mann, der nur türkisches Blut hat. Oder Aktürk: makelloser Türke. Davon haben die massenhaft. Das ist wie Schulze und Müller.« Schlüter zog das Blatt mit der Übersetzung heran. »Sancak liegt in den Bergen nördlich von Bingöl«, ergänzte er. »Ein paar Hundert Kilometer vor der irakischen Grenze. Ein armseliges Kaff, in dem es nur Steine und gestapelte Schafscheiße gibt.«
»Mann, Sie kennen sich aus. Sie sind ja der reinste Experte!«
»Nee, bin ich nicht«, widersprach Schlüter. »Ich bin ein Opfer und habe eine posttraumatische Belastungsstörung.« Er grinste gequält. »Kriegszittern hieß das früher.«
»Haha.«
Schlüter beließ es dabei. Man soll die Wahrheit sagen, dachte er, auch wenn es keiner glaubt.
»Al Tevle und Sebastia kenne ich nicht. Und das letzte Wort?«, fragte er, noch unsicher in der Stimme. »Leben. Was soll das?«
»Da ist der Zettel abgerissen. Wir haben nur einen Teil eines Wortes. So wie die unterste Zahl, das war wohl die Vierzig. Der Übersetzer sagt, dass das wahrscheinlich ›Leben‹ bedeutet. Es fehlt dazu aber ein armenischer Buchstabe. Sicher ist er sich nicht. Darauf können wir uns bislang noch keinen Reim machen.«
Sie saßen beidseits des Schreibtischs und starrten auf die Zettel, als müssten sie nur still sein und die Zettel würden anfangen zu sprechen und ihre Geschichte erzählen.
»Diese Namensliste«, sinnierte Staschinsky, »die war dem Toten so wichtig, dass er mit dem Mörder darum gekämpft hat. Im Sterben hat er diesen Schnipsel gerettet. Ich könnte mir denken, er wollte Ihnen die Liste geben und Sie sollten etwas tun im Zusammenhang damit. Nur was?«
Schlüter nahm einen langen Schluck aus seiner Tasse. Dann stand er auf, drehte Staschinsky den Rücken zu und starrte an die Wand. Atmete fünfmal tief durch. Das half manchmal, wenn die Angst nach ihm griff.
»Ist was?«
»Und ob«, antwortete Schlüter. »In Elazığ war ich mal. Und an anderen Orten. Unter sehr hässlichen Umständen. Ich …« Er schnappte nach Luft und zwang sich, einen weiteren Schluck Tee zu nehmen. Atmete wieder fünfmal tief durch. Schüttelte stumm den Kopf.
»Ist was?«, fragte Staschinsky noch einmal.
»Ich muss pinkeln«, sagte Schlüter mit halber Stimme und verließ den Raum. Durchquerte den Flur. Öffnete die Tür zu seinem ehemaligen Arbeitszimmer, das er an den Gerechten abgetreten hatte. Der war vom Termin zurück und saß hinter seinem Drei-Quadratmeter-Schreibtisch und reckte sich im Drehsessel, als er seinen Senior sah. Ein munterer Bursche ohne Falten, innerlich wie äußerlich. Unangefochten und ansteckend optimistisch. Nur drei Akten, wie machte der Kerl das nur?
»Zu Diensten!«, sagte der Gerechte und deutete einen Soldatengruß an. »Ist was?«
Schlüter blieb stumm. Lehnte schief an der Türfüllung. Ließ den Atem ausstreichen. Zog die Hände aus den Hosentaschen. Sie zitterten nicht mehr. Sah sich lange das fröhliche Gesicht des Gerechten an. Wunderte sich, wie man nach zwei Staatsexamen so jung und unverbraucht aussehen konnte, wie im fünften Semester.
»Ich habe eine Frage«, sagte Schlüter.
»Geht es dir nicht gut? Du bist ziemlich blass, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Deine Stimme …«
Schlüter schüttelte den Kopf. »Ich leide mal wieder. Ab und zu erlaube ich mir, mich zu wichtig zu nehmen. Danke dir. Und du? Was macht die Herzdame in Hamburg?«
»Welche Herzdame?«, fragte Martens mit düsterem Gesicht.
»Ach du Sch…«
»Vergiss es.« Martens wurde unwirsch. »Das Leben geht weiter.«
Schlüter überlegte, ob es daran gelegen hatte, dass Martens aussah, als hätte er noch die Eierschalen an den Ohren. Frauen wollten Kerle, keine Grünschnäbel. Dachten jedenfalls die Männer.
»Deine Frage?«
»Kannst du mit dem Namen ›Sebastia‹ was anfangen? Könnte ein Ort sein.«
Matthias der Gerechte wandte sich dem Rechner zu, zog die Tastatur heran, tippte, tanzte mit der Maus und sagte nach kaum einer Minute: »Könnte ein Dorf in den palästinensischen Autonomiegebieten sein, bei Nablus, viertausendfünfhundert Einwohner. Oder, Moment, ein Stadtteil von Jerewan, Armenien. Oder es ist der armenische Name von Sivas, Anatolien, Türkei.«
Schlüter konnte wieder grinsen. »Wieso bist du eigentlich nicht zur Polizei gegangen?«
Bevor der Gerechte antworten konnte, machte Schlüter die Tür zu und kehrte zu Staschinsky zurück, langte nach der Folie, in der der Krückstockzettel lag und die Übersetzung, und verließ sein Arbeitszimmer ein zweites Mal mit der Bemerkung: »Muss ich meinem Junior zeigen.«
Er eilte zu Angela, warf die Krückstöcke auf den Kopierer und erlaubte sich einen Blick auf die Kakteen.
»Verwahren Sie das bitte für mich«, bat er und ging langsam zurück.
Er setzte sich nicht hinter seinen Schreibtisch, sondern auf einen der Besucherstühle, neben den Polizisten. Er berichtete von der Kurzrecherche seines Kompagnons.
»Ein paar Computerfritzen würden euch guttun«, sagte er. »Wenn Sie mich fragen, liegen die Orte alle in der Türkei. Al Tevle sicher auch. Der Name ›Jardemjan‹ gehört zu Sivas. Der armenische Name der Stadt war Sebastia. Jardemjan aus Sivas. Ich war mal da im Zusammenhang mit – einem Völkermord. Einem – anderen Völkermord. Das ist, wie ich schon sagte, eine andere Geschichte. Vielleicht wissen Sie, dass die Armenier von den Türken massakriert worden sind. 1915. Mindestens eine Million Menschen …«
»Ich habe mal davon gehört.«
Leben.
»Es geht um Leben auf diesem Zettel. Und um Tod.«
Um Namen auf einem Zettel, die dem Mörder wichtiger waren als das Leben des Toten.
»Ansprüche«, murmelte Schlüter. »Rechtsanwälte verteidigen Straftäter und sie zeigen welche an. Ich nicht mehr, damit das klar ist. Damit bin ich durch. Das scheidet sowieso aus, denke ich. Ansprüche, darum geht es. Rechtsanwälte machen Ansprüche geltend. Sie verlangen Schadensersatz, sie erheben Forderungen. Sie wollen Geld. Der Mann wollte zu mir wegen Geld. Er hatte Forderungen.«
»Wie? Und von wem? Wir müssen wissen, wer der Tote war. Vielleicht finden wir dann ein Motiv. Und dann finden wir vielleicht den Mörder.«
»Haben Sie DNA?«
»Klar. Immer jetzt. Massenhaft. Die Maschinerie läuft. Dauert noch. Aber wir wissen nicht, wo wir nach Vergleichsmaterial suchen müssen. Da hilft die beste DNA nichts.«
»Was bedeutet das?«
»Nichts. Erst mal. Wir brauchen Zeit.«
»Die Schrift sagt uns, dass der Tote möglicherweise Armenier war. Doch er sprach perfektes Englisch und in der Türkei gibt es keine Armenier mehr«, überlegte Schlüter laut. »Oder so gut wie keine. Und die letzten werden drangsaliert. Oder gleich umgebracht. Haben Sie mal was von Hrant Dink gehört?«
Staschinsky schüttelte den Kopf. Schlüter berichtete, was Anahid Bedrosian ihm erzählt hatte. Ein Sechzehnjähriger mit Namen Ogün Samast habe den armenischen Schriftsteller und Verleger im Januar auf offener Straße in Istanbul erschossen. Eine auf Versöhnung und Aufklärung bedachte Stimme Armeniens sei für immer verstummt. Der Täter sei verurteilt worden, aber die Hintermänner, die den Mordauftrag erteilt hätten, liefen frei herum. Dass es Hintermänner gebe, sei klar. Als Vollstrecker würden Minderjährige benutzt werden, sie bekämen eine geringere Strafe. Altes Mafiaprinzip. Taugt zur Mannwerdung. Der Initiationsritus des Bösen. Als die Polizisten den Jungen verhafteten, hätten sie zuerst ein Erinnerungsfoto gemacht, sie selbst mit Samast und dessen Eltern, allesamt unter der türkischen Flagge.
»Sie haben mit Samast posiert, auch die Leute vom Geheimdienst. Sie haben ihm den Rücken geklopft. Alle lächelten stolz, herausgedrückte Brust. Die Polizisten sind alle noch im Dienst!«
»Nicht so laut!«, bat Staschinsky und legte die Hände an die Ohren. »Und mit denen verhandeln sie über Europa. Wie soll das gehen?«
»Nie«, grunzte Schlüter. »Nicht in meinem Leben. Nicht in zweihundert Jahren. Ein Staat, der seine christlichen Minderheiten ausrottet und seine eigene Geschichte leugnet, ist kein zivilisierter Staat! Lügen als Staatsräson! Dieses Land hat ein verfaultes Fundament! Das ist ohne Beispiel in der ganzen Weltgeschichte. Abgesehen von dem Massenmord an den Kommunisten Indonesiens.«
Staschinsky hatte schon wieder seine Ohren angelegt. »Wir werden nie im Paradies sein«, flüsterte er. »Wahrscheinlich brauchen wir eine zweite Sintflut.«
Schlüter holte Luft und machte den Mund wieder zu. »Kriegen wir ja vielleicht. Was bedeuten diese Namen?«
»Mhm«, machte Staschinsky. »Keine Ahnung. Jedenfalls riecht das Ganze nach internationalen Verwicklungen. Können wir das?«
Schlüter klappte die Arme auseinander. »Ich weiß nicht.«
»Apropos ›können‹. Der Übersetzer hatte Schwierigkeiten. Er sagt, dass einige der Namen und Orte falsch geschrieben sind. Hier ist sein Kommentar.« Er zog ein Blatt aus seiner Tasche. »Bitte.«
Schlüter überflog den Text. Der Übersetzer, ein Mann namens Acatyan, teilte mit, dass etliche Buchstaben falsch geschrieben seien und einige fehlten und der Urheber des Textes entweder die armenische Schrift nur unvollkommen beherrsche oder Legastheniker sei, was er mangels Fachkenntnis nicht entscheiden könne. Es folgte ein gelehrter Kommentar zum armenischen Alphabet.
»Auch das noch«, seufzte Schlüter. »Vielleicht ist unser Mann kein Armenier. Vielleicht hat er den Text abgeschrieben und sich dabei verhauen und in Wahrheit nichts davon selbst verstanden.«
»Eine Frage noch«, sagte Staschinsky. »Die Stimmen am Telefon. Die englische Stimme haben Sie beschrieben. Akzentfrei. Aber die andere, wie ordnen Sie die zu?«
Schlüter dachte nach. Die andere Sprache habe er nicht verstanden. Vor allem habe er zu wenig davon gehört. Die könne er nirgendwo zuordnen.
Dann saßen sie und schwiegen und sinnierten. Schlüter nutzte die Sendepause, um ihre Becher mit Kaffee und Tee zu füllen, und als sich seine Beine bewegten, kam auch sein Geist wieder in Schwung. Der Mensch muss gehen, Sitzen macht dumm.
»Was ist mit dem Zettel?«, fragte er, als er wieder zur Tür hereinkam, mit vollen Tassen. »Diese Quittung oder was Sie neulich auf der Dienststelle hatten.«
»Das Beste kommt zuletzt«, freute sich Staschinsky. »Tja, was soll ich sagen? Das ist tatsächlich eine Quittung. Ein Restaurant. Unser Mann hat gespeist. In, äh, Täbris.«
»Wo?«
»Täbris. Das liegt im Iran. Haben Sie eine Karte?«
Schlüter stand auf, umrundete seinen Schreibtisch, klickte sich ins Netz und holte die Karte von Täbris auf den Bildschirm. Drehte ihn um und setzte sich neben den Polizisten.
»Du heilige Scheiße«, murmelte Schlüter. »Da können wir lange warten, bis die uns den gemeldet haben. Achse des Bösen.«
»Und für mich besonders böse. Ich kriege den Mord nicht aufgeklärt, wenn ich aus dem Iran nichts bekomme. Angeblich arbeiten die mit Interpol gut zusammen. Der Generalstaatsanwalt hat den schönen Namen Ghorbanali Dorri-Najafabadi. Das habe ich schon mal ermittelt, tolle Wurst. Den werden wir fragen. Und in sechs Monaten eine Antwort kriegen. Vielleicht.« Staschinskys kleine Gestalt sackte zusammen. »Ich hasse unaufgeklärte Morde«, schimpfte er.
Warum hatte der Tote Schlüter die Liste mit den Namen zeigen wollen? Und warum war er ermordet worden? Welchen Auftrag hatte er Schlüter erteilen wollen? Diese Fragen würden vermutlich nie beantwortet werden.
»Und welches Restaurant?«, erkundigte sich Schlüter.
»Leo Café Restaurant heißt der Laden.« Staschinsky legte eine weitere Klarsichthülle auf den Schreibtisch. »Persisch. Haben wir ebenfalls übersetzen lassen. Der Mann hat am 11. Januar 1386 um zwanzig Uhr vier seine Rechnung bezahlt.«
»1386?«
»Islamische Zeitrechnung.« Staschinsky zog ein Notizbuch aus dem Jackett und schlug es auf. »Sie müssen von unserem Jahr sechshunderteinundzwanzig Jahre abziehen. Dann kommen Sie auf 1386.«
»Und wieso sechshunderteinundzwanzig Jahre?«, wollte Schlüter wissen. »Ist Mohammed da geboren?«
»Nein. Aber in dem Jahr – also in unserem Jahr 621 – ist Mohammed mit seinem Gefolge aus Mekka nach Medina geflohen. Das nennen sie die ›Hidschra‹, sagt der Übersetzer. Ein wichtiges Datum. Damit fing wohl der Islam an und deshalb fangen die von da an neu zu zählen.«
»Und wieso Januar?«
Staschinsky wedelte die Frage weg. »Spielt keine Rolle. Ich erkläre es trotzdem. Hab ich den Übersetzer auch gefragt. Das Jahr fängt im Iran mit dem Frühling an und das ist der 20. März. Ergibt doch Sinn. Der 11. Januar im Iran ist deshalb bei uns der 31. März. Der Mann war am 31. März in Täbris. Jedenfalls glaube ich das jetzt. Genau vierzehn Tage vor seinem Tod.«
»Diese Mullahs!«, stöhnte Schlüter.
»Das waren nicht die Mullahs. Unser Übersetzer hat gesagt, dass der iranische Kalender seit 1925 gilt, als das Land noch Persien hieß.«
»Meine Landeskenntnis beschränkt sich auf ein paar Namen. Den Schah Reza, seine Frau Farah Diba und den Mullah Khomeini. Die Besetzung der amerikanischen Botschaft. Achse des Bösen. Ach, Benno Ohnesorg fällt mir noch ein. Den einer Ihrer Kollegen am 2. Juni 1967 in Berlin erschossen hat, am Rand einer Demonstration gegen den Schah. Damit fing bei uns auch eine neue Zeitrechnung an.«
»Danke. Übrigens, der Übersetzer sagt, Iran heißt ›Land der Arier‹.«
»Im Ernst?«
Staschinsky nickte.
»Wenn das die Nazis wüssten! Müsste man denen mal klarmachen. Sind sowieso schlechte Zeiten für Nazis, seit wir wissen, dass wir hier in Europa nur degenerierte Afrikaner sind, die sich mit den zurückgebliebenen Neandertalern vermischt haben. Aber Spaß beiseite. Also vorletzte Woche war der Mann in Täbris?«
Staschinsky nahm sich die Übersetzung vor. »Ja. Einen sezer salad hat er gegessen. Also einen Caesar Salad. Für hunderttausend Rial. Und drei chiz chips, also Cheese Chips, für zweihundertvierzigtausend Rial, dreihundertvierzigtausend Rial hat er insgesamt bezahlt.«
»Ganz schön teuer«, wunderte sich Schlüter.
»Keine Ahnung, was das in Euro ist.«
»Caesar Salad. Chips. In Täbris. Soso.«
»Wir wissen sogar, wo das Lokal liegt. In der Straße Valman Nummer dreiundzwanzig. Zeigen Sie mal.«
Schlüter gab die Adresse ein, mit zwei Fingern wie üblich, die Karte schnurrte zusammen auf einen Stadtteil von Täbris, ein roter Pfeil erschien.
»Da ist es«, sagte Staschinsky. »Da muss er gewesen sein.«
»So nah und doch so verdammt fern.«
»Wenn ich da hinkönnte«, murmelte Staschinsky. »Ich müsste bekloppt sein, wenn ich dann nicht weiterkäme mit meinen Ermittlungen.«
»Täbris und Armenier«, sinnierte Schlüter. »Gibt’s da welche?«
»Woher soll ich das wissen?«
Armenische Namen. Leben. Täbris. Ein unbekannter Toter am Burggraben von Hemmstedt. Was hatte er, Schlüter, damit zu tun?
»Sarkis Vartanian, Al Tevle«, sagte er. »Wieso ist das unterstrichen?«
Als Staschinsky gegangen war, holte Schlüter die Kopie der armenischen Schrift, legte sie auf seinen Schreibtisch, setzte sich dahinter auf seinen Stuhl und starrte das Papier an, als wollte er es zwingen, sein Geheimnis preiszugeben.