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Mensch sein heißt bewusst sein – oder: Die Frage nach dem Sinn

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Unser Bewusstsein ist das, was uns von einem Tier unterscheidet, das, was das Menschsein ausmacht. Deshalb verehren wir auch Menschen, die ein ganz hohes oder weites Bewusstsein erlangt haben, etwas Jesus oder Buddha oder Laotse und viele andere, die keine Religion gestiftet haben. Viele von ihnen waren ganz einfache Menschen ohne hohe Bildung, aber ihr Bewusstsein war mit allem eins. Viele, die ganze heutige spirituelle Szene, möchten auch dorthin oder zumindest ein möglichst hohes Bewusstsein erlangen, aber die wenigsten darunter sehen, dass unser Bewusstsein auch unser größtes Problem ist und dass ein „höheres Bewusstsein“ (und Bewusstheit überhaupt) zunächst einmal auch mehr Schmerz bedeutet, denn mit steigender Bewusstheit sterben alle Vorstellungen, die wir über das Leben haben, und mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins ist die Einheit mit der Natur (der Garten Eden) in uns gestorben und der Mensch als Wesen, das der Natur gegenüber steht (und nicht mehr in ihr ist), geboren worden. Adam und Eva mussten es schmerzlich erfahren: Weil ihnen die Einheit des Paradieses zu langweilig wurde und sie auf die Einflüsterung der Schlange hörten, vom Baum der Erkenntnis zu kosten, wurden sie sich ihrer selbst bewusst, sahen, dass sie nackt waren, und waren aus der Einheit herausgefallen. Es bedurfte dazu nicht Gottes Strafe, die Erkenntnis selbst, das Bewusstwerden ihrer selbst brachte dies automatisch mit sich. Im Moment der Selbst-Bewusstwerdung ist der Mensch aus dem Paradies (der Einheit mit der Natur) herausgefallen. Fortan muss er sein Leben der Natur – in deren Einheit er vorher aufgehoben war, die aber von nun an sein Gegenüber ist – abringen. Seitdem fragt sich der Mensch, wer er ist und welchen Sinn sein Leben hat.

Menschen sind Wesen, die um sich selbst wissen, die wissen, dass sie leben und dass sie sterben. Kein Tier weiß das. Deshalb haben Tiere keine Religion oder Philosophie, sie fragen nicht nach dem Sinn ihrer Existenz. Sie existieren einfach. Menschen haben Bewusstsein, sie sind sich ihrer selbst, ihrer Umgebung, ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihres Handelns, ihres Lebens, ihres Sterbens und in diesem Sinne der Zukunft bewusst. Wenn sie einen anderen Menschen oder ein Tier töten, dann wissen sie, dass sie töten. Tiere töten ohne zu wissen, dass sie töten, es ist einfach Teil ihrer Existenz. Ein Raubtier ist ein Raubtier, aber es weiß nicht, was ein Raubtier ist und kommt auch nicht auf die Idee, dass daran etwas falsch sein könnte. Der Mensch ist auch ein Raubtier, aber für uns ist das ein Problem, zumindest dann, wenn es uns bewusst wird. Ein Tier lebt einfach in und mit seiner Natur, Menschen haben und brauchen Kultur. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir unserer Natur enthoben seien. Sie ist nach wie vor in uns, auch wenn wir geistig nicht mehr in ihr beheimatet sind. Wir sind nach wie vor biologische Wesen, keine Kultur und keine Technik kann dies ändern. Sollte sich das ändern, sollte es gelingen, das Biologische im Menschen zu überwinden, wären diese Wesen keine Menschen mehr.

Dass wir Wesen mit Bewusstsein sind, dass wir uns unserer Existenz, unserer Handlungen und der Tatsache unseres Sterbens bewusst sind, ist nicht nur ein großer Vorteil und ein evolutionärer Sprung gegenüber Tieren, sondern zugleich unser größtes Problem. Ein Tier hat weder Schuldgefühle noch Ziele, die es glaubt verwirklichen zu müssen. Ein Tier fragt nicht nach dem Sinn seines Handelns und der Bedeutung seines Lebens, wir müssen dies. Der Mensch braucht einen Referenzrahmen, etwas, in dem sein Leben, sein Handeln und vor allem sein Tod einen Sinn machen, etwas, in das wir eingebunden sind. Ein Tier ist eingebunden in seine Natur, wir sind aus der Natur ausgebrochen. Die Natur ist sozusagen das Paradies, der selige Urzustand. Mit dem Biss in den Apfel der Erkenntnis, mit dem Erkennen, dass „ich bin“, ist dieser Urzustand, das rein natürliche Leben, zu Ende. Damit taucht ganz automatisch die Frage auf: Wer oder was bin ich? Warum bin ich? Wozu? Wozu leben, wozu sterben? Wozu dies tun, wozu jenes? All dies ist nicht mehr fraglos wie bei einem reinen Naturwesen. Aus diesen Fragen ist das entstanden, was wir im weitesten Sinne Kultur nennen.

Die Welt, in der wir leben

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