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PROLOG
ОглавлениеFebruar 1979
Ich liege im warmen Sand am Strand von Koh Samui, einer kleinen, unbekannten Insel im Süden von Thailand. Heute morgen sind wir, meine Frau und ich, hier angekommen. Es ist meine erste richtig weite Reise, wir waren ein paar Tage in Bangkok, wo ein Studienkollege, mit dem ich gelegentlich in der Bibliothek ein paar Worte gewechselt hatte, seit kurzem das Südostasien-Büro des Deutschen Entwicklungsdienstes leitet. Ein gemeinsamer Freund und jetziger Mitarbeiter in dem von mir geleiteten Forschungsprojekt an der Uni Bonn hatte ihn kürzlich besucht, mir von Thailand vorgeschwärmt und die geheimnisvolle Magie Ost-Asiens, das mich seit meiner Jugend anzog, wieder geweckt. Ich hatte ihm eine Salami und Schwarzbrot mitgebracht, er nahm uns dafür mit auf seine erste Dienstreise zu deutschen Entwicklungsprojekten in Südthailand. Koh Samui war die letzte Station, er ist wieder auf dem Rückweg, wir bleiben noch eine Woche hier.
Hier begegnet mir mein Südseetraum. Palmen und tropische Bäume mit breiten Kronen, Sand und warmes Meer, ein paar Bambushütten am Strand, ein bisschen Zivilisation, gerade so viel, dass man mit einem der wenigen Pickups über Sandpisten vom Hafen hierher und wieder zurück fahren kann, eine kleine Theke mit Arbeitsplatte, Wasser, Gaskocher und einem „Kühlschrank“, der mit Eisblöcken gefüllt ist, die täglich per Fähre vom Festland kommen, ein paar Holztische und Stühle unter einem Palmdach als „Restaurant“, einfaches, aber gutes Essen und, ja, auch Bier, das mehr kostet als ein Abendessen, eine Toilette mit einem Wasserbottich und einer Kelle zum Spülen und eine Dusche im Freien hinter der Hütte, abends für kurze Zeit etwas Licht mit Strom von einem Generator. Ansonsten Stille.
Aus dem Meer erhebt sich riesengroß der Mond, es ist Vollmond. Die Kronen der Palmen bilden ein offenes Dach über mir, mein Körper verschmilzt mit der Erde. Nach dem Abendessen habe ich ein paar Züge von einem Joint geraucht – alle, die noch nicht einmal zehn Rucksacktouristen wie die Einheimischen, rauchen hier Gras. Ich bin zwar Nichtraucher und die zwei Mal, die ich zu Hause mit etwa zwanzig an einem Joint gezogen hatte, hatten mich nicht sonderlich beeindruckt, so dass ich kein Bedürfnis nach mehr hatte, aber hier schien es zur Stimmung zu passen und ich wollte nicht abseits stehen. Während mein Körper in der Erde versinkt, so dass ich mich ganz eins damit fühle, höre ich das leise, langsame und regelmäßige Schwappen des Meeres, das hier ganz ruhig ist und dessen leichtes Hinströmen über den Sand der Stille einen Rhythmus gibt: Schwapp – – – schwapp – – – schwapp. Ganz leicht, ganz langsam. Plötzlich sehe ich: Das ist es, das ist alles, das ist die Welt, das ist das Leben: Schwapp – – – schwapp – – – schwapp. Seit Abermillionen Jahren, Tag für Tag: Schwapp – – – schwapp – – – schwapp.
Für Momente bin ich eins damit, nur mein Geist, der dies wahrnimmt, ist noch da, aber auch er ganz still. Frieden, tiefster Frieden. Dann kommt langsam das Denken wieder: „… und unter dieser ewigen Bewegung, mitten in diesem ewig gleich gültigen Schwapp frisst ein Fisch den anderen, wird geboren, gekämpft und gestorben.“ Ich sehe, dass das dazu gehört, dass es kein Widerspruch ist, das Gefühl tiefen Friedens bleibt. Ich spüre wieder meinen Körper, weiß aber nicht, wo er aufhört und der Boden oder die Luft beginnt, und plötzlich bricht aus der Tiefe meines Bauches ein lautes Lachen heraus. Ich sehe mich in Deutschland in meinem Forschungsprojekt, sehe, wie wir uns streiten und spreizen in internen Diskussionen und auf Konferenzen, sehe, wie wichtig wir das alles nehmen, wie wir glauben, die Welt verändern oder wenigstens gestalten zu müssen, und kann nicht mehr vor Lachen: „Doktor Wilfried Nelles, Politikwissenschaftler“ brüllt es aus mir heraus. Meine Frau, die zwanzig Meter hinter mir vor unserer Hütte sitzt, kommt und fragt, was los sei. „Alles okay“, antworte ich, „ich habe nur die Wirklichkeit gesehen.“
Alles okay und doch nichts mehr wie vorher. Viele Jahrzehnte später werde ich Leonhard Cohens Lied Anthem kennenlernen und oft in meinen Kursen zitieren (und gelegentlich singen): „There is a crack in ev’rything/that’s how the light gets in“. An jenem Abend ist ein Riss durch mein Leben gegangen und ein kleines Licht hereingekommen, das nicht mehr erloschen ist. Der Riss scheint mir dadurch entstanden zu sein, dass ich mich sowohl äußerlich (an einem tropischen Strand) als auch innerlich (infolge des Marijuana) an einem ganz anderen Ort als gewöhnlich befand, so dass ich plötzlich, nachdem ich für kurze Zeit in diesen fremden Welten versunken war, meine gewohnte Welt und das Leben darin von außen sehen konnte. Drei Jahre später war das Forschungsprojekt und mit ihm auch mein tiefes Anliegen, die Welt zu verändern und zu verbessern, beendet, und ich ahnte, dass auch meine Arbeit in der Wissenschaft nicht mehr von Dauer sein würde. In den Jahren danach wurde der Riss immer größer und das Licht etwas heller. Die spirituelle Suche, die Hinwendung zur Innenseite des Lebens, begann, zuerst ganz persönlich, dann auch beruflich.
40 Jahre danach, Oktober 2019
Wieder sitze ich am Wasser in Thailand, diesmal auf einem hölzernen Bootssteg am River Kwai unweit der Grenze zu Myanmar. Nach drei Wochen mit einer Reihe von Kursen in China entspanne ich mich hier in einem sehr schönen 4-Sterne-Dschungelresort, dessen Bungalows zwischen den Bäumen verschwinden. Hier gibt es nichts außer dem Fluss und dem Dschungel, großen Höhlen mit Fledermäusen, einem Mon-Dorf (die Mon sind heute eine kleine ethnische Minderheit, aber neben den Khmer sind sie die ältesten Bewohner Thailands) und dem „Hellfire Pass“, wo die Engländer im Krieg gegen die Japaner gekämpft haben und der durch den Film „Die Brücke am Kwai“ mit Alec Guinness berühmt geworden ist. Täglich kommen und gehen Touristen aus aller Welt, werden mit Langbooten zum Hotel gebracht, bleiben 1-2 Nächte, machen eine Tour und verschwinden wieder. Abgesehen davon ist Stille.
Das Wasser fließt ruhig flussabwärts. Ich schaue auf sein Fließen und denke: Alles geht den Bach hinunter, seit Millionen Jahren. Alles verändert sich, und alles bleibt. Ein Tag wie der andere. Hermann Hesses „Siddharta“ kommt mir in den Sinn, wie er mit Vasudeva, dem alten Fährmann und Freund, am Fluss sitzt und plötzlich im Fließen des Flusses sein eigenes Leben und alle Gestaltungen des Lebens sieht, das Gebären, Lieben, Hassen, Sich anstrengen, Suchen und Sterben, und im leisen Klang des Fließens erkennt: „Alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluss des Geschehens, war die Musik des Lebens.“ Ich sehe das stetige Fließen und denke: In der Natur ist alles gleich gültig, und auch alles gleichgültig gegenüber allem, was geschieht.
Am gegenüber liegenden Ufer, in der senkrechten, annähernd zweihundert Meter hohen Karstwand, die von großen Höhlen durchlöchert ist und wo auf kleinen Felsvorsprüngen hundert Meter hohe Bäume ihre Wurzeln in den löchrigen Fels bohren, beginnt eine Horde Affen durch die Baumkronen zu jagen. Das tun sie jeden Tag, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet, genauso wie um Punkt sechs Uhr, beim Einbruch der Dämmerung, die Grillen ihr ohrenbetäubendes Konzert beginnen, und eine Stunde später, wenn es ganz dunkel ist, damit aufhören – seit Millionen von Jahren, Tag für Tag. Alles und jeder ist in Bewegung, aber niemand „tut“ etwas, alles bewegt sich und wird bewegt nach den Gesetzen der Natur. Und zwischendrin rennt der Mensch umher und denkt, er und sein Leben (und sogar sein Denken) seien wichtig und er müsste alles be-greifen und dann im Griff haben.