Читать книгу Die Welt, in der wir leben - Wilfried Nelles - Страница 15
Eine neue Erzählung? Über dieses Buch
ОглавлениеWie kann aber eine solche neue Erzählung aussehen in einer Zeit, in der nicht nur Gott tot ist, sondern auch die Vernunft? Wie kann sie aussehen, ohne zur Ideologie zu verkommen? Wie kann eine Psychologie und Therapie aussehen, die den Menschen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn gibt? Kann sie das überhaupt? Worauf kann sie gründen in einer Welt, in der es, wie Nietzsche sagt, „kein oben und kein unten“ mehr gibt, keinen archimedischen Punkt, von dem aus sich eine Ordnung oder wenigstens eine Richtung ableiten ließe? Im Außen, also oben (im Transzendenten) oder unten (im Physisch-Materiellen oder in der Geschichte, wo Marx und Engels ihn zu finden geglaubt haben), lässt sich dieser Punkt nicht mehr finden. Wenn es noch einen Ort geben kann, der uns eine gewisse Orientierung gibt, kann er nur innen sein. In uns selbst, in jedem einzelnen selbst.
Alles, was wir tun können, scheint mir zu sein, den Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie sich selbst und ihre eigenen Antworten finden können und ihnen den Übergang zu sich selbst zu ermöglichen – wobei niemand im Vorhinein sagen oder wissen kann, was dieses „Selbst“ ist. Dieser Weg ergibt sich aus dem Leben selbst und zeigt sich, wenn man sich dem Leben und seinen Stationen zuwendet und sie sorgfältig beobachtet.
Ich möchte Sie mit diesem Buch zu einer Reise durch das menschliche Leben und das den einzelnen Lebensabschnitten entsprechende Bewusstsein einladen und zeigen, wie sich unser Bewusstsein Stufe für Stufe entwickelt, verändert und weitet. Dabei entsteht so etwas wie eine Landkarte, die nicht nur unseren biologischen Lebensweg nachzeichnet, sondern auch beschreibt, wie unser Bewusstsein sich mit den Stationen dieses Weges verändert oder – dies gilt vor allem für die zweite Lebenshälfte – verändern kann, wenn wir uns ganz auf dieses Leben einlassen. Der Weg führt, ganz kurz gesagt, zunächst (bis zum Ende der Jugend) ins Leben und in die Welt hinaus und dann (mit dem Eintreten ins Erwachsensein) wieder ins Leben – in unsere jeweilige Lebenswirklichkeit, in das, was sich in uns verwirklichen will – hinein. Wenn wir dem folgen, landen wir bei uns selbst.
Wenn etwas sich ent-wickelt, dann bedeutet das, dass es bereits existiert – nur noch eingewickelt, noch nicht ausgewickelt. Wenn ein Mensch sich entwickelt, bedeutet dies entsprechend, dass er als genau dieser Mensch bereits existiert – er muss nur noch ausgewickelt werden oder eben: sich ent-wickeln. Dies kann aber keine Bewegung zu etwas anderem oder jemand anderem sein, zu irgendeinem Ziel, das man sich selbst setzt oder sich vorsetzen lässt, sondern nur eine Bewegung zu sich selbst, zu dem, was man – in eingewickelter Form – bereits von Anfang an ist. Mir scheint, dass dies der dem Leben innewohnende, aus ihm selbst herauskommende Sinn ist: sich zu ent-falten und zu ent-wickeln zu dem, was man im Innersten bereits ist, also zu sich selbst, ähnlich wie eine Blume ihre Erfüllung (ihren inneren Sinn) darin findet, dass sie aus dem Samen, in dem sie anfangs eingeschlossen ist, herauswächst, sich ent-faltet und als die Blume erblüht, die sie immer schon war. Dasselbe gilt für das Bewusstsein: auch das Bewusstsein strebt aus sich heraus danach, sich zu dem zu ent-falten, was es bereits ist, zu seinem innersten Wesen, zu sich selbst.
Wir werden, so gut dies geht, in die Anfänge unseres Bewusstseins zurückgehen, und zwar beim einzelnen Menschen wie auch in die Anfänge der Menschheitsgeschichte, und uns von dort – beim Einzelmenschen bis zum Ende des Lebens, beim allgemeinen, kollektiven Bewusstsein bis heute –, vorwärtsbewegen. Damit folgen wir der Bewegung des Lebens selbst, denn die geht immer und ausschließlich vorwärts5.
Dem Leben folgen heißt auch, dass ich die Entwicklung eines Menschenlebens von der Empfängnis bis zum Tod, die Räume, die wir dabei durchschreiten, die Bedingungen und Grenzen, die uns das Leben jeweils auferlegt, die Erfahrungen, die wir dabei machen, und die neuen Räume und Möglichkeiten, die sich mit jeder Lebensstufe auftun, im einzelnen beschreibe und als Grundlage dafür nehme, wie sich das Bewusstsein in diesem Prozess entwickelt und verändert. Diese Beschreibung bildet auch den Rahmen für die Frage, aus welcher Perspektive und mit welchen Methoden psychologische Beratung und Therapie in den jeweiligen Lebensstufen schauen und arbeiten sollten, um die Menschen auf dem Weg zu sich selbst zu unterstützen.
Dass meine Erzählung eine psychologische Geschichte ist, bedeutet nicht, dass ich mich nur mit der Psyche des einzelnen Menschen befasse. Das wäre eine viel zu enge Sicht. Wir sind immer Teil der menschlichen Seele oder des allgemeinen Bewusstseins, selbst wenn wir als Einsiedler leben. Und wir fühlen und handeln auch immer aus unserem jeweiligen Bewusstsein heraus, auch als Psychologen und Therapeuten. Deshalb scheint es mir unabdingbar, dass wir uns dieses Bewusstseins, des Standortes, von dem aus wir schauen und unsere so genannten „Lösungen“ nehmen, bewusst werden. Das gilt gleichermaßen für die persönliche Ebene wie die des allgemeinen Bewusstseins, in das wir eingebettet sind. Also betrachte ich immer beide Seiten: das Innenleben des Einzelnen und dessen Entwicklung und das Innenleben der Menschheit und deren Entwicklung. Beides greift immer ineinander, und beides gemeinsam macht das aus, was ich mit „Seele“ bezeichne: die Innenseite des Lebens.
Ich orientiere mich dabei nicht an theoretischen Annahmen oder philosophischen Positionen über das Bewusstsein, sondern an den beobachtbaren Prozessen des Lebens selbst. Mich an den beobachtbaren Prozessen orientieren heißt: Ich beschreibe und teile meine Wahrnehmung, und zwar so, dass jeder dem folgen kann. Ich tue dies in Form einer Erzählung – ich erzähle eine Geschichte. Eine Geschichte, die zwar auf dem heutigen Wissensstand, soweit er mir zugänglich und bekannt ist, basiert, aber keinen Anspruch auf Objektivität erhebt. Denn Objektivität ist nicht mehr möglich. Alle Geschichten, alle Theorien, alle Erzählungen sind subjektiv. Ihre allgemeine Gültigkeit beruht darauf, dass man sie mit den eigenen Erfahrungen vergleichen und dabei sehen kann, ob sie diese ebenfalls umfassen, oder darauf, dass man sich auf die Erfahrungen und Beobachtungen, die in der Geschichte erzählt werden, oder auf die Vorschläge, die ich zur Überprüfung mache, einlässt und sie als wahr empfindet.
Im vorliegenden Buch sind das die Beobachtungen, die ich
.erstens bei mir selbst gemacht habe, wozu all meine Lebenserfahrungen gehören; deshalb berichte ich dort, wo es mir angebracht erscheint, auch über diese persönlichen Erfahrungen, damit meine Schlussfolgerungen nachvollziehbar sind und der Leser angeregt wird, sich an seine eigenen Erfahrungen zu erinnern;
.zweitens die Beobachtungen, die ich bei vielen tausend Klienten und hunderten Schülern gemacht habe, also in meiner Arbeit mit allen Arten von psychischen Problemen, psychosomatischen Krankheiten, mit der Bewältigung von Schicksalsschlägen und gewöhnlichen Alltagsproblemen und einer Vielzahl von seelischen Themen;
.drittens das, was ich bei und mit den Menschen um mich herum, in der Familie und bei Freunden, insbesondere bei meinen eigenen und anderen Kindern, gesehen und erfahren habe, und
.viertens alles, was ich gelesen und studiert habe – etwa Karl Marx und die Kritische Theorie (hier vor allem Herbert Marcuse und Jürgen Habermas); das große Werk von Ken Wilber und das ebenso große und für mich noch tiefere von Wolfgang Giegerich (der mir auch C. G. Jung nahe gebracht hat) über Bewusstsein und Psychologie; die Arbeit von und mit Bert Hellinger, in die ich zehn Jahre lang vollkommen eingetaucht bin; vor allem aber Osho, dem ich mit Mitte dreißig begegnet bin und in dessen Geist ich mich seitdem zu Hause fühle, und ergänzend dazu die aus demselben Geist kommenden und inhaltlich identischen, aber ganz anders formulierten Lehren von Sri Nisardagatta und Ramesh S. Balsekar, um die wichtigsten und prägendsten zu nennen. Aus der Literatur schließlich waren für mich zwei Bücher von Hermann Hesse am bedeutsamsten – nicht, weil sie besser als alle anderen wären, sondern weil ich in ihren Protagonisten mir selbst begegnet bin: Narziss und Goldmund sowie Siddhartha.
Sehr wichtig war für mich auch, dass ich seit 2004 jedes Jahr zwei Mal für mehrere Wochen in China bin und dort Kurse mit inzwischen mehreren tausend Menschen geleitet habe. Nirgendwo haben mir die Menschen so offen ihr Herz ausgeschüttet wie in China. Ich verstehe China zwar noch immer nicht, aber ich habe nicht nur einen ganz anderen Einblick in die chinesische Kultur, die Gesellschaft und vor allem einen anderen Blick auf die Menschen bekommen, als es die Berichte in den deutschen Medien vermitteln6; vor allem hat mir die Arbeit dort es ermöglicht, auf unsere eigene Kultur von außen und mit einem inneren Abstand zu schauen, der mir sonst nicht möglich gewesen wäre, und dabei Dinge zu sehen, die ich sonst nicht wahrgenommen hätte – zum Beispiel unsere ideologische Verbissenheit, die Chinesen vollkommen abgeht, unser Schwarz-Weiß- und Entweder- oder-Denken, die Überheblichkeit, die wir Lehrern und Älteren gegenüber an den Tag legen, oder unser lieb- und respektloser Umgang mit alten Menschen. Das alles (und viel mehr) konnte ich erst sehen, als ich aus der Ferne auf unsere Kultur schaute. Das gilt auch für meine zwanzigjährige Arbeit in Mittel-Ost-Europa, namentlich in Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Hier ist der kulturelle Abstand zwar viel geringer, aber auch in diesen Ländern habe ich einen anderen Blick auf die Menschen dort und ihre Denk- und Lebensweise wie auch auf meine eigene Welt bekommen.