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Symbiose

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Für das entstehende Kind ist die Mutter nicht verschieden von ihm, es existiert in Einheit mit ihr und kann ohne sie nicht existieren. Das Charakteristische dieser Phase ist die körperliche Symbiose mit der Mutter. Das unterscheidet diese Lebensstufe von allen anderen. Das ungeborene Kind ist ganz in den mütterlichen Organismus eingelassen, es hat an ihm teil und ist in ihn verwoben, ohne jedoch ein fester Bestandteil davon zu sein. Deshalb schreibe ich „Symbiose“ (Zusammenleben) und nicht „Einheit“. Vonseiten des Kindes wird es jedoch wie eine Einheit wahrgenommen. Das heißt: der körperlichen Symbiose entspricht auch eine Symbiose im Bewusstsein des Kindes. Daher bezeichne ich die erste Stufe unseres Bewusstseins als „symbiotisches Einheitsbewusstsein“. Das Kind kann zwar wahrnehmen, aber es kann nicht zwischen sich und seiner Umgebung, also der Mutter oder, wenn es mit einem anderen Embryo zusammen aufwächst, zwischen sich und diesem anderen Wesen, unterscheiden.

Wenn beispielsweise neben ihm ein Zwilling heranwächst, nimmt er diesen wie einen Teil von sich selbst wahr12. Deshalb wird der Tod eines Zwillings im Mutterleib wie das Sterben eines Teils von sich selbst erfahren, so dass das überlebende Kind sich später oft nicht als vollständig empfindet oder das Gefühl hat, nicht ganz da zu sein oder nicht sein eigenes Leben zu leben. Daraus kann sich unter anderem auch das Gefühl speisen, im falschen Körper zu sein, etwa das falsche Geschlecht zu haben. Das ist manchmal nichts anderes als eine Verwechslung (Identifikation) mit einem verstorbenen andersgeschlechtlichen Zwilling. Auch bei Zwillingen, die beide leben, sehe ich in meiner Arbeit immer wieder, dass es den Betreffenden überaus schwer fällt, sich als vollständige und ganze Individuen (denen nichts fehlt) zu sehen und nicht nur als einen Teil von Zweien.

Die Symbiose gilt für die gesamte Zeit vor der Geburt, deshalb bezeichne ich diese Lebensphase als eine Stufe, obwohl es innerhalb dieser Stufe gewaltige Unterschiede und große Veränderungen gibt. Von der embryonalen Stammzelle bis zum gebärfähigen Kind ist es eine ungeheuer differenzierte Entwicklung mit tiefen Veränderungen. Haben wir es anfangs mit einem winzigen Punkt zu tun, der in sich nicht differenziert ist, so steht am Ende dieser Stufe ein voll ausgebildeter, lebensfähiger Mensch. Auf keiner späteren Entwicklungsstufe wächst der Mensch auch nur annähernd so intensiv und umfassend und durchläuft so viele und so tiefgreifende Veränderungen. Eines jedoch gilt für die gesamte Zeit des Kindes im Mutterleib und qualifiziert sie damit als eine in sich geschlossene, von den anderen klar unterscheidbare Stufe: die Symbiose mit dem Organismus der Mutter und das vollkommene Ausgeliefertsein daran.

Vollkommenes Ausgeliefertsein heißt: das Kind kann ohne die Mutter nicht überleben. Da der kindliche Körper noch unfertig ist, seine lebenswichtigen Organe noch nicht so weit entwickelt sind, dass sie allein funktionieren, übernimmt dies der Organismus der Mutter, und zwar natürlicherweise genau so lange, bis die Organe fertig entwickelt sind. Wenn dies der Fall ist, ist die Zeit im Mutterleib zu Ende.

Die Welt, in der wir leben

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