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Geschichte (history) und Geschichten (stories)

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Was ich über die allgemeine Geschichte gesagt habe, gilt ebenso für unsere persönliche Geschichte und unserer Erinnerung daran: Sie sagt nichts (oder bestenfalls sehr ausschnitthaft etwas) über unsere tatsächliche Geschichte, über das, was wirklich geschehen ist (history), aber sie repräsentiert die Geschichten (stories), die in uns bis heute lebendig sind und daher bis heute in uns wirken. Alles, was wir erinnern, sind Geschichten, die wir uns über unser Leben erzählen. Es ist keinesfalls unsere „wahre“ Geschichte. Es kann sich an vielen Punkten mit der faktischen Wirklichkeit überschneiden, aber es enthält immer auch die Perspektive, den Blickwinkel, aus der wir diese Wirklichkeit erlebt haben. Es ist unser Erleben der Wirklichkeit. Noch präziser: Es ist das, was wir von unserem damaligen Erleben gespeichert haben und heute noch erinnern.

Ein Mann fühlt sich sehr ausgebrannt und erschöpft. Er ist ein erfolgreicher Coach und könnte es sich eigentlich leicht machen, aber das gelingt ihm nicht. Das Gefühl, sich immer anstrengen zu müssen, begleitet ihn sein ganzes Leben. Vor einiger Zeit hatte er eine schwere Herzoperation, von der er sich aber gut erholt hat. Er berichtet, dass er schon am Anfang seines Lebens nur knapp am Tod vorbeigeschrammt sei. Zunächst ist er schon im siebten Monat geboren, und dann hat er nach zwei Wochen Keuchhusten bekommen. In der LIP-Aufstellung fällt mir als erstes auf, dass er als Stellvertreter für das ungeborene Kind den kräftigsten Mann aus dem Kurs ausgewählt hat. Es ist oft recht signifikant, wen jemand für sich auswählt, unbewusst wählen die Leute nach Ähnlichkeit aus. Dieser Mann steht dann auch sehr fest dort und sagt, er fühle sich kräftig und gut. Was ihm fehle sei nur, dass dies auch gesehen werde.

In der Geschichte, die mir der Klient vorher präsentiert hatte, erschien er jedoch als schwaches Kind. Ich frage ihn: „Warst Du im Brutkasten?“ Er: „Nein.“ Ich: „Und mit dem Keuchhusten, musstest Du da ins Krankenhaus?“ „Nein.“ Ich: „Dann könnte man also annehmen, dass Du ein ziemlich starker Bursche warst.“ Der Mann lächelt, das gefällt ihm. Ich sage: „Ein Sieben-Monats-Kind kommt meist in den Brutkasten, es sei denn, die Ärzte halten es für stark genug, so zu überleben. Dann bekommt es nach zwei Wochen auch noch Keuchhusten, das ist in dem Alter lebensgefährlich, aber auch damit bist Du nicht ins Krankenhaus gekommen. Und Du hast das alles überlebt. Du scheinst mir wirklich ein starker Kerl zu sein.“ Der Stellvertreter auf der Position eins grinst und steht noch fester als vorher: „Stimmt!“

Hier sehen wir, wie man aus derselben Geschichte zwei ganz verschiedene Geschichten machen kann: die eines immer gefährdeten Kindes, das sich dann ein Leben lang anstrengt, um zu überleben, und die eines starken Jungen, der um seine Kraft weiß und daher auch potenziell bedrohliche Dinge gelassen an sich heranlassen kann. Bei diesem Mann war es so, dass er subjektiv, in seinem Selbstbild, der ersten Geschichte folgte, während er objektiv im Leben erfolgreich war und mit immerhin 70 Jahren noch voll arbeitete.

Der LIP zeigt ihm eine neue Perspektive für sein Selbstbild, eine andere Geschichte. Wenn er sie ganz aufnimmt, kann er dem Leben gelassener begegnen, ohne dass sich an der faktischen Geschichte etwas ändert. Dass die faktische Geschichte und das, was wir daraus machen, zwei verschiedene Paar Schuhe sind, gilt über unser bewusstes Erinnern hinaus auch für die Erinnerungen, die in unserem Körpergedächtnis gespeichert und uns kognitiv nicht zugänglich sind.

Das Körpergedächtnis ist zwar insofern hundert Prozent genau, als es genau das enthält, was unser Körper erlebt hat, aber es weiß zum Beispiel nicht, ob dies ein eigenes Erleben ist oder etwas, was wir – aufgrund der Symbiose mit ihr – von der Mutter aufgenommen haben. Im geschilderten Fall könnte es so sein, dass sich in dem Mann das (unbewusste) Wissen um die eigene Kraft mit der Angst der Mutter, ob das Kind überlebt, und ihren Anstrengungen, es am Leben zu halten, vermischt hat; diese Anstrengungen hat er dann übernommen und als etwas Eigenes beibehalten. Das heißt, dass unsere Erinnerungen, auch die im Körper gespeicherten unbewussten Erinnerungen, unsere seelische Wirklichkeit repräsentieren, die aber nicht mit der faktischen Wirklichkeit (über die wir überhaupt nichts mehr sagen können!) verwechselt werden darf.

Diese seelische Wirklichkeit ist das Gebiet der Psychologie und Therapie, und sie (und nur sie) kann sich ändern, und zwar deshalb, weil sie „nur“ aus Geschichten besteht. „Nur“ in Anführungszeichen, weil sie zugleich als die Geschichte, die wir uns fortwährend über uns selbst erzählen oder die in unserem Körper und seinen Zellen aufbewahrt ist, höchste Wirkkraft hat.

Unsere Geschichte besteht aus nichts anderem als unseren Geschichten. Das heißt aber nicht, dass wir sie ändern können; sie selbst kann sich ändern, wenn wir erkennen, dass das, was diese seelische Wirklichkeit bestimmt, nur Geschichten sind. Dann können wir sie vergessen, und dann sind sie vorbei und man ist frei. Das, was faktisch geschehen ist, ist schlicht und einfach geschehen, also vorbei und zählt nicht mehr. Das gilt für jeden einzelnen wie auch für das, was man als kollektive Geschichte bezeichnet. Das, was tatsächlich geschehen ist, ist lediglich das Garn, aus dem wir unsere Geschichte(n) weben. Insofern hat das mythologische Zeitalter nie aufgehört, wir stricken immer noch an unseren Mythen. Das Wichtigste an der Beschäftigung mit dem Mythos scheint mir zu sein, dass wir sehen, dass jede Bewusstseinsstufe ihre eigenen Mythen hervorbringt, ohne dass sie von denen, die sich im jeweiligen Mythos aufhalten, als Mythen erkannt werden. Das gilt auch und gerade für unser heutiges Zeitalter, das sich für aufgeklärt, wissenschaftlich und damit quasi mythenfrei hält. Genau darin, im Glauben an seine Rationalität, liegt jedoch sein Grundmythos, und unser Alltag ist von modernen Mythen durchzogen. Darüber mehr bei der Besprechung der Stufe 3, des modernen Bewusstseins.

Die Welt, in der wir leben

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