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Das vertauschte Kind

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Vor vielleicht fünfzehn Jahren hatte ich eine Klientin im Alter von circa 40 Jahren, die eine Fortbildung in Familienstellen bei mir machte. Eigentlich war sie nur am Rande am Fachlichen interessiert, es ging ihr primär darum, eine gewisse Ordnung in ihr Leben zu bringen. Dort herrschte nämlich nur Chaos – alles, was sie anpackte, ging schief, im Privaten wie im Beruflichen. Sie war auffallend blass mit tiefen Schatten unter den Augen, ohne dass sie einen unsoliden Lebenswandel führte, vor allem aber war sie ständig verwirrt, obwohl sie einen klugen Verstand hatte. Alles geriet ihr durcheinander. Die Familienaufstellungen, die ich mit ihr machte, spiegelten dies genau wider: Nichts ergab einen Sinn, es herrschte nur Durcheinander. Nachdem ich das im Laufe eines Jahres zwei oder drei mal gesehen hatte, entfuhr mir bei einer weiteren Aufstellung der Satz: „Hier stimmt etwas grundsätzlich nicht, hier ist etwas gelogen.“

Die Frau war nicht überrascht und fühlte sich auch nicht als Lügnerin hingestellt. Vielmehr begann sie zu weinen und sagte etwas wie: „Ich verstehe, was du meinst, aber ich weiß nicht, was es ist.“ Sie war verzweifelt. Am Abend, als sich die Gruppe verabschiedete, durchfuhr es mich plötzlich wie ein Blitz: Sie ist ein vertauschtes Kind! Ich habe das aber nicht mehr gesagt, ich wollte sie nicht mit einer solchen Botschaft nach Hause gehen lassen. Am nächsten Morgen habe ich sie dann zu mir gebeten und zunächst einen Test gemacht: Ich habe aus dem Kreis der Teilnehmer vier Frauen ausgewählt und ihnen, ohne es laut zu sagen, im Stillen und für mich allein die Rollen von zwei Müttern und deren neugeborenen Kindern zugeteilt. Dann habe ich die Stellvertreterin, der ich innerlich die Rolle meiner Klientin zugewiesen hatte, neben ihre offizielle Mutter gestellt, und das andere Mutter-Kind-Paar zwei Meter seitlich von den beiden. Wie gesagt: niemand wusste, um was es ging und wer wen repräsentierte. Ich habe dann den Stellvertretern gesagt, sie sollten der Bewegung ihres Körpers folgen. Schon nach ganz kurzer Zeit tauschten die Kinder die Plätze und stellten sich zu der jeweils anderen (der richtigen) Mutter. Ich habe noch etwas gewartet, bis alle sagten: „So fühlt es sich richtig an.“

Ich habe die Frauen dann aus den Rollen entlassen und wieder auf ihre Plätze geschickt. Um ganz sicher zu gehen, habe ich die Klientin noch gefragt: „Wo bist du geboren, zu Hause oder im Krankenhaus?“ Als sie antwortete: „im Krankenhaus“, habe ich dann gesagt: „Dann weiß ich, was die Lüge ist: Du bist ein vertauschtes Kind!“

Ich hatte Entsetzen oder so etwas erwartet, aber sie antwortete ganz ruhig: „Das habe ich schon oft vermutet. Ich habe sogar schon im Krankenhaus nach dem Geburtsbericht gefragt, aber die hatten die Unterlagen nicht mehr.“ Anstatt entsetzt war sie erleichtert. Endlich hatte sich ihr Gefühl bestätigt. Ich habe ihr zwar gesagt, dass das kein Beweis sei, aber den brauchte sie nicht mehr. Für sie ging es nur darum, endlich ihrem Gefühl trauen zu können und sich selbst nicht mehr für verrückt halten zu müssen. Die weitere Arbeit mit ihr war dann recht einfach. Wir haben die Geschichte so gelassen, wie sie war, ohne nach den richtigen Eltern zu forschen und damit noch mehr Chaos anzurichten. Sie hatte ja nichts gegen die Eltern und konnte sie jetzt gut nehmen als die Eltern, die das Leben ihr zugewiesen hatte. Das gelang so gut, dass sie sehr bald innerlich wie äußerlich einen stabilen Platz im Leben fand13.

Die Welt, in der wir leben

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